„Autistische Menschen zeigen mir, was eigentlich für alle Menschen gilt.“
Mit Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst – Arzt und Entdecker auf dem Autismus-Spektrum
Erscheinungstermin: 16.04.2024, Autorin: Mirjam Rosentreter
Intro
Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)
Sprecher: Spektrakulär – Eltern erkunden Autismus.
Mirjam Rosentreter (Moderatorin/Host): Hallo. Mein Name ist Mirjam Rosentreter. Ich bin Journalistin, Mutter eines Sohnes im Autismus Spektrum, und ich mach das hier nicht alleine: Bei mir ist Marco Tiede.
Marco Tiede (Co-Moderator/Co-Host): Ja, Moin! Ich bin auch Vater eines Jungen im Spektrum, und ich arbeite Therapeut und auch als Berater.
Mirjam: Es gibt zu dieser Langversion unseres Podcasts auch eine kurze, den Kurzpod. Ein Manuskript zu dieser Folgefindet ihr auf unserer Seite spektrakulaer.de.
Sprecherin: Heute mit Professor Doktor Ludger Tebartz van Elst, Arzt und Entdecker im Autismus-Spektrum
Intro-Ende: Musik + Geräuscheffekt (Klapper)
Mirjam: Herzlich willkommen. Normalerweise mache ich den Podcast Spektrakulär zusammen mit Marco Tiede. Nun ist Marco aber heute erkältet. Darum moderiere ich heute alleine. Jetzt sitzen wir hier in einem aufgeräumten Studio mit einem ganz aufgeräumten Gast (TvE schmunzelt), der von weit her gereist ist, schon heute Morgen um kurz vor acht müssen Sie in den Zug gestiegen sein in Freiburg.
Ludger Tebartz van Elst: Um fünf Uhr fünfzig, kurz vor sechs, ja, zehn vor sechs ging’s los.
Mirjam: Ludger Tebartz van Elst, leitender Oberarzt der Uniklinik für Psychatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum in Freiburg. Ich hab Ihr dickes Buch – ich muss das einmal akustisch präsentieren (kleiner Rumms, TvE schmunzelt). Kann man das hören? Das Standardwerk ,Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter‘. Da sind Sie Herausgeber und haben das gemeinsam mit ganz vielen anderen Fachkolleginnen und -kolleginnen geschrieben, was ich sehr schön finde: mit sehr vielen Menschen aus dem Spektrum. Und da merkt man dann auch schon, warum Sie so anerkannt sind auch bei Eltern. Jetzt kurz zu uns: Wir moderieren gemeinsam auch den Autismus Elternkreis im Martinsclub, eine Gruppe von Eltern autistischer Kinder und Erwachsener, also es kommen immer mehr dazu, wo die Kinder auch schon durchaus mal 30 sind. Und das hat sich etwas gewandelt in der letzten Zeit. Heute kommen Eltern ziemlich aufgeklärt zu uns, wissen schon viel und sie sagen dann: Wir wussten es schon so lange! Jetzt haben wir endlich eine Diagnose, aber wir finden keine Hilfe. Und wir finden kein Verständnis im Umfeld, das Umfeld hat immer noch keine Ahnung, was unsere Kinder brauchen.
Tebartz van Elst: Ja
Mirjam: Was für ne Erfahrung machen Sie bei Ihrer täglichen Arbeit, wie sich das – hat sich das bei Ihnen auch gewandelt? Wenn Sie auf Eltern treffen oder auf junge Erwachsene im Spektrum?
Tebartz van Elst: ja, ich denke schon, dass sich da ziemlich viel geändert hat in den letzten zehn, zwanzig Jahren. Also bei uns fing das 2004 etwa an, vorher war ich dreieinhalb Jahre, glaube ich, auf dem schönsten Job unserer Klinik, wie ich immer sag, und hab in der Ambulanz zweite Meinungen gemacht – mit einem ganz tollen Oberarzt im Hintergrund. Damals war ich Altassi. Und da kamen dann immer die Patientin, die von den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen mit unklaren Diagnosen eben zu uns zur zweiten Meinung geschickt wurden, zur Beurteilung. Und da hatte man eigentlich tolle Rahmenbedingungen, eine Stunde manchmal zwei pro Person, damals noch mit weniger Zeitdruck als heute. Und in diesen dreieinhalb Jahren – sage ich oft – habe ich, glaube ich, keinen einzigen Menschen mit hochfunktionalem Autismus selber diagnostiziert, weil ich einfach nicht sensibilisiert war für das Thema, also so war es zumindest 2004. Und nachdem dann irgendwann das Thema bei uns bekannt wurde, dann hat man plötzlich ganz, ganz viele Menschen mit hochfunktionalem Autismus neu diagnostiziert. Und das waren natürlich überwiegend Erwachsene, weil ich bin eben kein Kinder-und Jugendpsychiater, sondern in der Erwachsenen-Medizin tätig.
Und ja, dann dachten wir eigentlich – nachdem das für uns so ein Eye-Opener war, so ne Neuentdeckung – dass viele Leute, die wir vorher eben gar nicht als autistisch erkannt hatten, plötzlich ganz klare Autismus-Diagnosen hatten, dass sich das relativ schnell durchsetzen würde. Innerhalb von Jahren, denkt man dann so. Und (lacht) das ging aber doch viel, viel langsamer als ursprünglich geglaubt.
Aber jetzt sind’s natürlich 20 Jahre her. Also insgesamt hat sich jetzt in den letzten 20 Jahren – auch wenn der ganze Prozess viel, viel langsamer ging, als wir das damals glaubten – hat sich doch, glaube ich, schon einiges getan. Eigentlich haben jetzt alle großen Unikliniken, denke schon, auch Autismus-Sprechstunden, auch außerhalb der universitären Kliniken gibt’s das jetzt mehr und mehr. Insofern ist es schon in die Breite gegangen.
Aber wir haben jetzt seit 2011, jetzt schon seit 13 Jahren so ein stationäres Programm für Menschen mit hochfunktionalem Autismus und Depressionen oder Psychosen oder anderen Komorbiditäten. Und da wundert man sich dann doch immer noch, wie viele, manchmal doch auch Menschen in ihren Zwanzigern, Dreißigern da kommen und obwohl das recht klar ist – jetzt aus unserer Sicht (lacht) – bis dahin noch nicht diagnostiziert wurden, sondern dann hatten die oft – meistens hatten sie irgendwelche Persönlichkeitsstörungs-Diagnosen, würde ich mal sagen, oder atypische Depressionen.
Mirjam: Persönlichkeitsstörungen-Diagnosen, was sind das so? Meinen Sie damit soziale Phobien, habe ich öfter mal gehört, dass das jemand als Diagnose bekommt.
Tebartz van Elst: Die Soziale Phobie gehört zu den Angststörungen. Persönlichkeitsstörungen ist ne eigene Gruppe in der psychiatrischen Klassifikation, und das sind Menschen, die besondere, markante Persönlichkeitseigenschaften haben und wegen dieser Eigenschaften in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen Probleme bekommen; meistens in den interpersonellen Beziehungen – am Arbeitsplatz, in den Partnerschaften, im Freundeskreis – und unter den aus diesen besonderen Eigenschaften resultierenden Problemen, dann eben auch leiden in ihrer Lebensführung, entweder im Arbeitsleben oder im privaten Leben oder in den alltäglichen Beziehungen. Inwieweit es da auch ne gewisse Überlappung gibt zwischen Autismus, also den Entwicklungsstörungen – insbesondere Autismus und ADHS – und den Persönlichkeitsstörungen, das ist noch, würde ich mal sagen, eine kontroverse Frage. In meinem einen Buch hab ich ja genau dazu geschrieben.
Mirjam: Sie meinen das ‚Autismus, ADHS und Tics‘?
Tebartz van Elst: Genau.
Mirjam: Ich hab hier noch ne ältere Version liegen.
Tebartz van Elst: Der Titel heißt ja: ‚Zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit‘. Und da taucht ja auch schon der Begriff ‚Persönlichkeitsstörung‘ auf. Also, strukturell gibt es da glaube ich schon Ähnlichkeiten zwischen insbesondere sehr hoch funktionalen Autismus-Spektrum-Störungen und den Persönlichkeitsstörungen. Da werde ich morgen bei meinem Vortrag hier auf der Bundestagung von Autismus Deutschland auch noch mal drauf eingehen.
Mirjam: Hmm. Ja, Ihr Vortragsthema ist ja – ich sag jetzt einmal den richtigen Titel, der sehr philosophisch ist (TvE lacht): ‚Selbst und Identität in der Persönlichkeitsentwicklung autistischer Menschen.‘ Und, wenn Sie einverstanden sind, würde ich einfach sagen: Wer bin ich als autistischer Mensch?
Tebartz van Elst: Hmmh.
Mirjam: Wer bin ich? Geht’s da drum?
Tebartz van Elst: Ja.
Mirjam: Ich möchte jetzt nur nicht tief einsteigen, aber nur so als kleinen Teaser, dass wir da später drüber sprechen.
Tebartz van Elst: Ja, also schon, dass ist eine der zentralen Fragen des Selbst: Wer bin ich? Wie schätze ich mich selber ein?
Mirjam: Hmmh.
Tebartz van Elst: Was denke ich über mich selber? Klar. ‚Wer bin ich‘ fast es ganz gut zusammen, finde ich auch.
Mirjam: Und mich würde auch ein bisschen interessieren, unter diesem Titel ‚Wer bin ich?‘, wie Sie selber zu dem Autismusforschenden geworden sind. Also, was Sie dazu gebracht hat eigentlich.
Tebartz van Elst: Ja.
Mirjam: Aber eine Nachfrage habe ich noch, weil Sie ja Experte sind für hochfunktionalen Autismus, sagen Sie – in der Gemeinschaft von autistischen Aktivistinnen und Aktivisten, und auch unter Eltern habe ich das schon öfter gehört, dass sie das Wort hochfunktional irgendwie nicht so mögen. Also, früher hat man ja dann, bevor es Autismus-Spektrum genannt wurde, ja Asperger-Syndrom dazu glaube ich gesagt, oder meinen Sie damit was Anderes? Also, ich verstehe diese hoch – kurz, ich verstehe diese leichte Irritation, weil da ja so ne gewisse Bewertung drin stecken könnte. Ich weiß gar nicht, ob die gemeint ist, aber so nach dem Motto: Es gibt die hoch funktionalen, sehr gut funktionierenden Supertypen, also um es mal ein bisschen zu überspitzen, und dann – ja, was sind dann die Anderen im Spektrum? Die Nichtfunktionierenden? Oder aus denen nie was Hohes werden kann, also, die nicht aufsteigen? Also, solche Bilder können da ja im Kopf entstehen.
Tebartz van Elst: Ja, das ist richtig. Also, ich meine, es hat so was zweiklassenmäßiges, also es – meinen tut der Begriff ja eigentlich, dass es autistische Menschen sind, die sprechen können und – zumindest mal auf einer vordergründigen Ebene, für Laien normal kommunizieren können oder, oder ungestört, aber das ist ne sehr vordergründige Betrachtung – und ne durchschnittliche, manchmal auch überdurchschnittliche Intelligenz haben. Also darauf hebt eigentlich der Begriff ‚Hochfunktionalität‘ ab. Und das grenzt dann eben die autistischen Menschen ab, die nicht sprechen können in alltäglichen Bezügen oder eben deutlich unterdurchschnittliche Intelligenzen haben. Das ist so das Gemeinte, was da abgegrenzt wird durch diesen ‚hochfunktionalen‘ Begriff. Ein Stück weit – es war ja im Grunde gar nicht so gemeint – aber ein Stück weit spiegelt sich das in diesem alten ‚Asperger‘-Begriff wider, der jetzt im ICD 11 und DSM 5 aufgegeben wurde.
Mirjam: Also, in diesen großen Klassifikations-Skalen.
Tebartz van Elst: Genau, ja.
Mirjam: Der internationalen und – DSM ist die deutsche Klassifikations-Skala?
Tebartz van Elst: Nein, DSM ist die Amerikanische.
Mirjam: Die amerikanische, ja, ich verwechsle das immer.
Tebartz van Elst: ICD ist die internationale. (lacht)
Mirjam: Ich bin keine Medizin-Fachjournalistin.
Tebartz van Elst: Gar kein Problem. (lacht)
Mirjam: Ich bin eigentlich Kulturjournalistin. (lacht) Deswegen bin ich mir da immer so ein bisschen manchmal mit den Begriffen. Da fehlt mir heute Marco Tiede, der wüsste das sofort. (TvE lacht) Der könnte das wahrscheinlich alles einordnen. Naja. Ähm, aber, so: Wo waren wir stehengeblieben?
Tebartz van Elst: Bei den Hochfunktionalen! Ob das ein hilfreicher Begriff ist.
Mirjam: Genau, ja. Aber, wir haben ja – Sie hatten, also, ich hatte Sie ja natürlich eingeladen, hören Sie doch auf der langen Zugfahrt mal in unseren Podcast rein – haben Sie’s geschafft?
Tebartz van Elst: Ja, ja! Ich habe mir alle drei Folgen angeguckt, also in der kurzen Variante, aber ich hab sie aber alle drei gehört. Ja, war interessant. Ich finde die sehr interessant.
Mirjam: In der ersten Folge und sein erster Gast Bianca. Bei ihr ist es ja so, dass sie im – dass sie, so würd‘ ich‘s sagen in ihrem Leben so ein bisschen im Spektrum gewandert ist, wenn man es als…
Tebartz van Elst: Ja, ja, genau. Also nach der alten Terminologie wäre sie ja eine frühkindliche Autistin, ne, weil sie ja lange nicht gesprochen hat, also klassischerweise, hat sich das praktisch ja meistens am Sprechen festgemacht: Die, die vor dem dritten Lebensjahr nicht sprechen, wurden dann eben frühkindliche Autisten genannt, oder Menschen, die schon relevante Symptome vor dem dritten Lebensjahr hatten. Aber praktisch hat sich das meistens an der Sprache festgemacht. Und ähm – und sie war ja eine, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, die mit acht oder zehn…
Mirjam: Mit zehn.
Tebartz van Elst: …plötzlich angefangen hat zu sprechen. Und so gesehen war sie ja – aus der ‚Querschnittperspektive‘ nennen wir das immer in unserem Jargon – also, wenn man sie jetzt vor Augen hat, wirkte sie eher wie eine hochfunktionale Autistin, weil sie konnte ja ganz normal, ja sehr eloquent sogar, konnte sich gut ausdrücken und wirkte wie eine Frau, die ganz normal intelligent ist – auf mich zumindest, glaube nicht, dass ich das falsch einschätze. Aber aus der rein medizinischen Perspektive würde man das dann als frühkindlich einordnen, weil sie ja schon bis zum dritten Lebensjahr Auffälligkeiten hatte, dahingehend, dass sie noch nicht gesprochen hat. Normalerweise entwickeln ja die meisten Menschen vor dem dritten Lebensjahr Sprache.
Mirjam: In ihrem Vorwort zu ihrem neuen Buch, also zu der neusten Ausgabe ihres Buches übers Autismus Spektrum im Erwachsenenalter. Da ist ein Satz hängengeblieben, den ich richtig schön finde. Und da können wir uns ein bisschen dran entlanghangeln vielleicht. Und zwar, haben Sie gesagt, dass Sie sich wünschen, im Umgang mit Autismus, mit ihrem Buch hier etwas dazu beizutragen, dass die Menschen lernen kreativ, gelassen, optimistisch, und das letzte war dankbar mit der Autismus-Diagnose zu leben. Kreativ, gelassen, optimistisch und dankbar. Ich finde ihn einfach schön, weil man sich den im Grunde drüberschreiben kann und sich daran festhalten kann: Es gibt immer eine Lösung! Man muss nur gelassen bleiben. Verlier den Mut nicht! Und sei dankbar für das, was du schon erreicht hast – so würde ich’s für mich als Mutter übersetzen.
Tebartz van Elst: Gut, ich weiß nicht mehr ganz genau, was war, als ich das geschrieben hab, ist schon ne Weile her. Ich find, das ist eigentlich ein ganz gutes Beispiel für was, was ich am Autismus-Thema in meinem Leben immer wieder erfahren hab: Dass viele Themen und Inhalte, die ich für mich am Autismus-Thema selber erst entdeckt hab, eigentlich ja für alle Menschen gelten. Ne, das gilt ja jetzt nicht nur für autistischen Menschen, das Kreative, Gelassene, Optimistische, sich die Freude am Leben sich nicht nehmen Lassende, trotz aller Probleme und Schwierigkeiten. Das gilt ja eigentlich für alle Menschen. Ob das jetzt autistische Menschen sind, oder ob die irgendwelche anderen Besonderheiten oder Schwierigkeiten haben, ist da ja gar kein richtig großer Unterschied. Aber ich finde, vieles von dem, was für alle Menschen wichtig ist, kann man am Thema Autismus oft besser entdecken, weil autistische Menschen eben nicht so durchschnittlich strukturiert sind. Also, es ist viel einfacher, das an Menschen zu entdecken, die eben nicht so durchschnittlich strukturiert sind. Mir ging es beispielsweise so mit diesem Thema Großraumbüro zum Beispiel. Das ist für autistische Menschen oft ein No-Go, also daran kann ein autistischer Mensch, der an sich ne gute Begabung hat für die Sacharbeit, ohne Probleme scheitern. Ne? Ich erinnere mich an eine unserer ganz frühen Patientinnen, die war sehr intelligent, hatte auch Informatik studiert und hatte dann einen Job sogar bekommen – über 20 Jahre ist das jetzt her – und war also auf der Sachebene sehr kompetent, sonst hätte sie diesen Job auch gar nicht bekommen, damals sah der Arbeitsmarkt noch viel schwerer aus als heute. Aber sie ist am Großraumbüro gescheitert. Sie hatte damals keine Diagnose, wusste selber nicht, dass sie autistisch war, und die anderen wussten es auch nicht. Und an dieser Reizüberflutung im Großraumbüro ist sie gescheitert. Und für mich war das damals so ein Augenöffner, weil ich dachte: Meine Güte hätte man jetzt dieser armen Frau einen fensterlosen Kellerraum organisieren können und hätte den Betriebsrat noch dazu gekriegt, dass er dem auch zustimmt, weil er das ja vielleicht auch falsch verstanden hätte, der Betriebsrat wohlmeinend (lacht), dann hätte man dieser Frau und der Gesellschaft ihr Berufsleben retten können. Als ich sie dann kennenlernte, war es zehn Jahre her, und da war sie schon seit Jahren in der Rente und dann, da war das durch, ne. Das war eigentlich ne Vergeudung von Talent aus meiner Sicht, aus der gesellschaftlichen Perspektive. Aber einige Jahre später ging mir durch den Kopf: Eigentlich geht’s den meisten anderen Menschen auch so. Auch für die meisten nicht autistischen Menschen (lacht) sind diese Großraumbüros nicht so toll, wie man denkt. Das ist ja nicht so, als wenn sich jetzt jeder neurotypische Mensch in so einem Großraumbüro wohl fühlt und das gut findet. Die finden das auch belastend, die hätten auch alle viel lieber einen Einzelraum für sich und ihre Privatsphäre in der Arbeit, im Arbeitsleben, ist ein großer Teil des eigenen Lebens. Und das ging mir bei ganz, ganz vielen Themen so in der Folge, dass man eigentlich Besonderheiten und Dynamiken, wo ich anfangs immer dachte, das ist was Autismusspezifisches, dass ich nachher dann für mich erkannte: Im Grunde ist es bei allen Menschen so, nur sind die Schwellen verschoben.
Wie zum Beispiel das Schaukeln, nä, ganz viele schaukeln ja. Anfangs dachte ich, das ist pathognomonisch für autistische Menschen…
Mirjam: Pathognomo…?
Tebartz van Elst: Pathognomonisch, Tschuldigung, son blödes Fachwort! Das wäre…
Mirjam: Aber das – das klingt…
Tebartz van Elst: Anfangs dachte ich, das wäre charakteristisch, das hätten nur autistische Menschen.
Mirjam: Es ist aber auch irgendwie son….
Tebartz van Elst: Son Medizinerwort. Das kann man auch ganz normal ausdrücken! Pathognomonisch heißt…
Mirjam: Ich will mich nicht über das Wort lustig machen, ich finde nur, dass es sowas transportiert.
Tebartz van Elst: Also: Im pathologischen Sinne charakteristisch…
Mirjam: Ja.
Tebartz van Elst: …für ein Krankheits- oder Störungsbild, meint der Begriff.
Mirjam: Hmmh.
Tebartz van Elst: Aber dann wurde ich auch – das ist wieder auch schon 15 Jahre her – auf Workshops und Vorträgen drauf hingewiesen: Das haben andere Menschen doch auch! Denken Sie an die Schaukeln! Denken Sie an die Wiege! Denken Sie an die Hollywoodschaukel! Nä, und irgendwann wurd mir klar: Tatsächlich, Schaukeln ist eigentlich was, was fast alle Menschen beruhigt. Und dann fiel mir ein, als meine Kinder klein waren, dann haben wir die immer im Tragetuch gehabt, und wenn die dann gestresst waren und schien und man tat die ins Tragetuch, das war oft schon gut. Aber, wenn man dann lief, waren die nach kürzester Zeit tiefenentspannt. Und das ist ja auch nichts anderes als Schaukeln, nä? Also mit dem Kind im Tragetuch laufen, dann schaukelt man ja im Grunde das Kind durch die Welt. Und dann Schwangerschaft! Was ist Schwangerschaft anderes, als dass das ungeborene Kind von der Mutter da neun Monate durch die Welt geschaukelt wird. Das ist ja, wenn sie, wenn die Mutter läuft mit dem Kind drin, ist es fürs Kind dann ein Schaukeln. Also, auch so ein Thema, wo ich anfangs dachte: Das ist ja total typisch für autistische Menschen. Und irgendwann wurd mir klar: Na, im Grunde gibt’s das bei nicht-autistischen Menschen auch, nur sind die Schwellen natürlich total verschoben. Denn die meisten nicht-autistischen Menschen hören ja irgendwann mit dem Schaukeln auf, auch weil sie merken, wie das auf andere wirkt. Das wirkt ja sehr kindlich. Wenn dann ein 14-jähriges Kind im Schulbus, weil’s gestresst ist, schaukelt, weil es ihm gut tut, dann würde ein nicht-autistisches Kind das wahrscheinlich deshalb unterdrücken, weil es merkte, wie es auf andere wirkt. Diese spontane Erkenntnis wie eigenes Handeln von anderen wahrgenommen wird, haben nicht-autistische Menschen ja stärker ausgeprägt als autistische Menschen. Und insofern glaube ich heute, dass das eher so ist, dass nicht-autistische Menschen das einfach nur mehr unterdrücken. Ich hab’s auch selber mal probiert, ob Schaukeln mich beruhigt, so richtig kann ich’s nicht feststellen. Aber eigentlich glaube ich‘s dennoch, dass Schaukeln für die meisten Menschen beruhigend wirkt. Warum gäbe es sonst Schaukelstühle, warum gäbe es sonst Hollywoodschaukeln? Nä, irgendwas muss ja in diesem Schaukeln für alle Menschen dran sein, sonst wären Schaukelstühle nicht so beliebt. Und ich glaube, das ist wieder so ein schönes Beispiel dafür, dass Dinge, die man manchmal für typisch und charakteristisch für autistische Menschen hält, bei nicht-autistischen Menschen genauso da sind, nur eben mit verschobenen Schwellen.
Mirjam: Hmmh. Der Umkehrschluss ist dann ja eigentlich ganz leicht, wie man es autistischen Menschen, die das brauchen, um sich zu beruhigen leichter machen kann, indem die Gesellschaft lernt, es wohlmeinend zu ignorieren, oder?
Tebartz van Elst: Das Schaukeln? Ja.
Mirjam: Ja, zum Beispiel.
Tebartz van Elst: Ja, gut das ist ne schwierige Frage. Also, das frage ich mich oft. Also, ich kenne auch einige Konstellationen, wo Eltern dann ihren jugendlichen Kindern sagen: Jetzt lass das doch mal mit dem Schaukeln! Das hat dann ja was mit Tarnen zu tun, Camouflaging nennt man das ja in der Szene…
Mirjam: Oder Masking, Maskieren.
Tebartz van Elst: Oder Masking. Der dritte Podcast ging ja über das Masking. Und ähm, wie man sich dazu verhält in dem eigenen Leben, ist glaube ich ne Frage, die man nicht so grundsätzlich beantworten kann. Aber ich kann mir schon auch Situationen vorstellen, wo es eher klüger und zielführend ist, zum Beispiel Kindern im Bus zu raten, nicht zu schaukeln, wenn sie‘s denn unterdrücken können. Nur würde ich’s nicht grundsätzlich unterdrücken – das ist, glaube ich, eher der Punkt. Also, wenn Schaukeln ne gute Beruhigungs- Methode ist, dann ist es erst mal ne gute Beruhigungs-Methode. Ist ja toll, wenn man ne gescheite Methode hat, die einen beruhigen kann. Ist ja viel besser, als wenn man Alkohol trinkt, oder Medikamente nimmt oder Drogen einsetzt oder kifft, um sich zu beruhigen. Da ist Schaukeln (lacht) ne perfekte Methode – eigentlich. Das – idealerweise würde die Welt auf so ein Schaukeln – jetzt nehmen wir mal ein 14-jähriges Kind, was gestresst ist und im Bus schaukelt – idealerweise wäre das natürlich so, dass alle anderen das erkennen würden und denken: Na gut, ist’n autistisches Kind, schaukelt, das heißt, es ist gestresst, fertig. Aber so ist die Welt natürlich praktisch nicht. Das muss man ja auch realisieren, wenn man Eltern ist.
Mirjam:Hmmh.
Tebartz van Elst: Und natürlich ist das Kind mit seiner Welt konfrontiert, wie sie nun mal wirklich ist, und nicht, wie sie idealerweise wäre. So dass ich mir schon auch Situationen vorstellen kann – das hängt natürlich davon ab, wie angespannt man jetzt ist. Natürlich ist es besser man schaukelt, als dass man sich ritzt oder ne Essattacke entwickelt zur Anspannungsregulation – das sind auch typische Methoden der Anspannungsregulation. Natürlich muss man aber auch im Blick haben, dass es sozial desintegrierend wirken kann – in der Welt, wie sie nun mal ist – wenn man jetzt im Bus schaukelt. Weil man sich das zwar wünschen kann, dass das alle mit großer Toleranz akzeptieren und einen dafür nicht ausgrenzen, nicht verlachen und nicht hänseln oder was auch immer. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es so ist, ist natürlich am Ende fifty-fifty oder geringer. Das hängt von der Toleranz des Umfelds ab. Und das Umfeld ist natürlich leider nicht immer tolerant. Das wissen wir auch. Ich finde es nur wichtig, dass man das dann gemeinsam mit dem Kind überlegt: Wenn Schaukeln eine gute Methode für dich ist, dann ist es erstmal eine gute Methode. Jetzt musst du dir nur noch überlegen, machst du es nur zu Hause im Zimmer, wo es ja niemanden stört und wo es auch sozial nicht desintegrierend wirkt oder nur in der Familie. In der Familie kann man ja die Toleranz aufbauen. Da kann man einen toleranten Schutzraum aufbauen. Das hat man ja im Griff, als Eltern auch. Aber die Schulbus-Situationen haben wir natürlich nicht im Griff als Eltern. Und oft wird da das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Dann werden von Eltern, die Angst haben, weil sie das Ganze auch nicht so richtig durchblicken, die machen sich dann zum Ziel, das komplett zu unterdrücken.
Mirjam: Gar nicht gut.
Tebartz van Elst: Und das halte ich für keine gute Strategie. Dass man das gemeinsam überlegt, klar, ist Schaukeln besser als Ritzen oder Haschen oder Kiffen oder was auch immer, aber ist das klüger, das im Schulbus zu meiden oder nicht, kann man sich trotzdem überlegen. Da würde ich jetzt mal keine Tabus aufbauen, da will ich eigentlich drauf hinaus.
Mirjam: Also so an der Welt ein bisschen wachsen.
Tebartz van Elst: Genau.
Mirjam: Die kleinen Veränderungen im Leben.
Tebartz van Elst: Genau.
Mirjam: Das beschreiben Sie ja auch in Ihrem Buch, dass es darum geht, zu verstehen, also auch sich selbst zu verstehen – jetzt kommen wir vielleicht mal ein bisschen zu dieser Identitätsgeschichte – zu lernen, wie funktioniere ich, was tut mir gut.
Tebartz van Elst: Ja.
Mirjam: Und dann, erst wenn man sich selbst erkannt hat, kann man ja wahrscheinlich verstehen, was die anderen – wie das bei den anderen ankommt.
Tebartz van Elst: Ja.
Mirjam: Das sind ja so die klassischen Schritte, wie man erwachsen wird auch, nä? Man muss ja lernen, try and error: Also, wenn ich mich so verhalte, wie kommt das bei anderen an? Und das ist natürlich für – erleben das Eltern autistischer Kinder als besonders herausfordernd, das zu begleiten.
Tebartz van Elst: Absolut.
Mirjam: Den richtigen Mittelweg zu finden zwischen Schützen und – Temple Grandin nennt das ja ‚the loving push‘ (Anm.: siehe Shownotes), also den liebevollen Stupser. Also so ein bisschen auch hineinstolpern zu lassen in die Welt mit ihren Gefahren, damit es auch eine gewisse Abhärtung gibt.
Tebartz van Elst: Genau.
Mirjam: Hajo Seng, den ich auf der Tagung auch zum Gespräch (Anm.: siehe Extrapod 2) getroffen habe, der hat das auch mal in einem Vortrag erzählt, dass diese Situationen, die herausfordernd waren, wo er angeeckt ist, ihm auch geholfen haben, in Situationen, die noch herausfordernder sind, dann vielleicht abgehärteter zu sein.
Tebartz van Elst: Hmmh, hmmh, ja, absolut, das ist wichtig. Die Erfahrungen des Scheiterns sind ja nicht schlimm. Wie ein Mensch sein Scheitern erlebt, das macht ihn zu dem, was er ist. Ich glaube, Jaspers (Anm.: Karl Jaspers, siehe Shownotes) hat‘s gesagt, aber das gilt ja auch wieder für alle Menschen. Und auch diese Balance zu finden zwischen Fordern, Fördern und Schützen, den eigenen Kindern gegenüber, das ist ja auch für alle Eltern ein schwieriger Balanceakt, ob sie nun autistische oder nicht-autistische Kinder haben, oder Kinder haben, die auf eine andere als eine autistische Art und Weise anders sind. Es gibt ja auch Kinder mit Tics, das ist ja auch nicht so leicht für Eltern, da gut mit umzugehen. Und so hat ja jeder seine Macken und seine Stärken und Schwächen. Natürlich ist das für Eltern mit autistischen Kindern en gros eher schwieriger als für Eltern mit durchschnittlich strukturierten Kindern. Das liegt halt in der Natur der Sache, so ist die soziale Wirklichkeit. Dass das bei Menschen, die eben nicht durchschnittlich strukturiert sind, schwerer ist in aller Regel als für andere. Aber die Grundprobleme sind trotzdem die gleichen. Bin ich jetzt autistisch oder nicht. An meinen Scheitererfahrungen wachse ich ja hoffentlich, und genau das zu begleiten, ist sehr wichtig. Also eine Kindheit wird ja – das gibt’s ja gar nicht, ein Leben, was nur durch Erfolge geprägt ist. Das ist, glaube ich, eine Illusion. Da macht man sich was vor, wenn das so ist. Scheitern gehört dazu.
Mirjam: Also, wo Sie das so weit öffnen, muss ich fragen: Sind Sie einmal schmerzhaft gescheitert in Ihrer beruflichen Laufbahn oder mit einer Idee, die Sie hatten?
Tebartz van Elst: Ja. Ja, natürlich. Das will ich jetzt hier nicht im Podcast besprechen (lacht), aber ja, jaja, klar, nicht nur einmal, aber. Auch mein Leben ist von Erfahrungen des Scheiterns geprägt, sehr sogar. Und im Nachhinein sind das oft ganz wertvolle Momente, so schmerzhaft das auch ist in der konkreten Situation, im Nachhinein stellt sich das anders an. Es gibt diesen berühmten Spruch, da weiß ich aber jetzt den Autor nicht: Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber man muss es vorwärts leben. (Anm.: Søren Kierkegaard, siehe Shownotes). Und das ist ja oft bei Scheitererfahrungen so, dass sie sich im Nachhinein oft als was sehr Wertvolles herausstellen. Aber wenn man drinsteckt (lacht), will man‘s nicht, es tut weh, es ist nicht schön.
Mirjam: Hmmh.
Tebartz van Elst: Aber wertvoll! Das ist was anderes. Leben ist Leiden und Lust. Das Leiden gehört dazu. Und auch ein Leben zu wollen ohne Leid, halte ich für was zwar Nachvollziehbares, aber nicht Kluges. Das ist nicht weise. Es ist nachvollziehbar. Es ist auch irgendwie eher komisch, wenn man ein Leben mit Leid wollte, so ganz konkret. Das wäre ja selbstverletzend. Aber das Wissen darum ist schon wichtig. Das Leid gehört dazu. Sonst ist es irgendwie auch fad, das Leben.
Mirjam: Sie haben ja in Freiburg angefangen zu studieren, und dann waren Sie in Manchester, in New York, in London und irgendwann wieder nach Freiburg zurückgekehrt. Und Sie haben ja nicht nur Medizin studiert, damit haben Sie ja angefangen, oder?
Tebartz van Elst: Ja.
Mirjam: Sondern auch noch Philosophie. Also wie ist aus diesem Jungen, der auf nem – sind Sie wirklich auf einem Bauernhof großgeworden?
Tebartz van Elst: Ja, ja, klar..
Mirjam: Twistede.
Tebartz van Elst: Twisteden, ja.
Mirjam: Ist am Niederrhein, nä?
Tebartz van Elst: Genau. Ist schön da (lacht).
Mirjam: Was von Ihnen heute steckte schon in dem kleinen Jungen, der da zwischen Tieren und auf den Feldern und irgendwie großen Treckern und so und Eltern, die mit ganz anderen Dingen beschäftigt waren, also mit sehr praktischen Dingen – wie viel von Tebartz van Elst, dem späteren Autismus-Experten und Forscher steckte da schon drin?
Tebartz van Elst: Es fällt mir schwer zu beantworten, also ein Leben ist ein Leben, jedes Leben hat ja viele Wendungen und hat so seine eigenen Richtungen. Also, meine Kindheit auf dem Bauernhof war sehr schön, ich wollte lange Bauer werden! War eigentlich mein eigenes – war zumindest ein Gedanke lange Zeit. Und mich hat aber auch sowas wie Philosophie und Theorie auch schon immer interessiert. Steckt jetzt – war das Autismusthema damals irgendwie angelegt, das glaube ich eher nicht, das hat viele Zufälligkeiten, das hat sich so entwickelt…
Mirjam: Aber das Interesse an Menschen, meine ich.
Tebartz van Elst: Ja, das schon. Also Psychiatrie hat mich von vornherein interessiert. Ich hab also Medizin studiert, weil ich Psychiatrie interessant fand. Aber gut, auf dem Dorf, auf so einem kleinen Dörfchen, damals so in den 70er Jahren, da waren die Psychiater ja auch noch so ein bisschen verrufen. Das war ja (lacht) – die Psychiater waren ja genauso suspekt wie die psychiatrisch Kranken, das wurde ja so ein bisschen gemeinsam abgehandelt, sodass ich da mich erst langsam dem Psychiatrie-Thema genähert hab. Ich habe erst mal mit Neurologie angefangen. Aber dieses Interesse am Themenfeld Philosophie und Psychiatrie, das hatte ich schon früh, das hatte ich schon im 12. Schuljahr, elftes, zwölftes Schuljahr fing das an. Aber eigentlich eher aus einem Interesse an der Welt heraus. Ich wollte die Menschen und die Welt verstehen und da hatte ich das Gefühl, dass man auch sozusagen sowas wie philosophische Fragen, Erkenntnis, was ist das alles, nicht trennen kann von psychologischen und psychiatrischen Fragen. Sodass mich dieses Themenfeld Psychologie, Philosophie, Psychiatrie schon sehr, sehr früh interessiert hat, schon in der Oberstufe. Aber gut, dann habe ich mich so pragmatisch, das Bäuerliche ist sicher auch so ein bisschen so, dass man so ein bisschen pragmatischer ist. Dann wollte ich erst mal was G‘scheites machen (TvE und M lachen), bevor ich da nur so theoretische Fragen bearbeite. Und dann habe ich halt erst mal Medizin studiert, und dann habe ich halt erst mal Neurologie gemacht und habe mich so langsam über die Neuropsychiatrie, die mich ja immer noch sehr beschäftigt und ist auch einer meiner Themenschwerpunkte, neuropsychiatrische Fragestellungen, dann irgendwann eher der klassischen Psychiatrie genähert. Und dann wurde seit 2004 da, ein Stück weit auch durch gewisse Zufälligkeiten, Autismus ein Themenfeld. Aber das, als es dann startete, war von vornherein sehr faszinierend, fand ich.
Mirjam: Sie sind ja jetzt bei einer besonderen Abteilung, zusammen mit Simon Maier, Leiter einer Abteilung, die bis ins Gehirn hinein guckt, oder?
Tebartz van Elst: Das FBI meinen sie, ja?
Mirjam: Ja.
Tebartz van Elst: Das Freiburg Brain Imaging. Also FBI ist natürlich nur so ein witziges, gackiges Akronym, aber….
Mirjam: Ach so (lacht).
Tebartz van Elst: Freiburg Brain Imaging – FBI (lacht) Und ja klar, das ist Hirnforschung. Das ist ganz klassische bildgebende Hirnforschung und – genau.
Mirjam: Also Sie gucken nach – Sie wollen nochmal nach Ursachen gucken, was passiert im Kopf?
Tebartz van Elst: Genau.
Mirjam: Also: Was passiert im Kopf? Oder: Woher kommt Autismus?
Tebartz van Elst: Naja, Autismus ist jetzt ja so, wie es definiert ist im ICD und DSM und in der Psychiatrie eigentlich ein Phänotyp, nenne ich das eigentlich heute, also eine Stärke-Schwäche-Cluster oder eine Besonderheit, strukturelle Besonderheit von Menschen.
Mirjam: Also das, was man von außen beobachten kann.
Tebartz van Elst: Genau, genau, die Besonderheiten, die Schwierigkeiten mit der non-verbalen Kommunikation, mit Blickkontakt, mit Theory of Mind, die Bedürftigkeit nach Routinen und erwartungsgemäßen Abläufen, die sensorischen Besonderheiten, die Reizempfindlichkeit, das Fokussieren eher auf Details. All das sind ja musterhafte Auffälligkeiten bei autistischen Menschen und man muss natürlich davon ausgehen, dass es irgendwie neurologisch, neurophysiologisch, hirnfunktionell hinterlegt ist. Und das versuchen wir halt in unseren Studien herauszubekommen, indem wir viel MR-Forschung machen. Also Kernspinnforschung, das ist, wo man da in diese Röhren geschoben wird und dann werden eben Bilder vom Hirn gemacht. Da kann man zum einen die Strukturen sich untersuchen, angucken, zum anderen die Funktion, die Durchblutung von verschiedenen Hirnarealen. Und man kann aber auch die Konnektivität sich angucken, also wie verschiedene Hirnareale miteinander vernetzt sind und die Neurochemie, also welche Konzentrationen von bestimmten neurochemischen Botenstoffen, zum Beispiel GABA und Glutamat, da sind. Und mit diesen Methoden haben wir versucht, neurobiologische Korrelate zu finden, also Besonderheiten, die neurobiologisch korrelieren, zu denen, die man jetzt klinisch beobachten kann.
Mirjam: Also dass man im Kopf das irgendwie nachvollziehen kann, was nach außen hin als Veränderung sichtbar ist.
Tebartz van Elst: Genau. Also, meistens sind das sogenannte Gruppenstudien, Kohortenstudien, da vergleicht man Menschen mit Autismus, mit Menschen, die eben keinen Autismus haben und guckt, finden wir da Unterschiede: in Hirnvolumina, ist das Hirn größer, kleiner, ist es dichter vernetzt oder lichter vernetzt? Gibt‘s mehr Glutamat-Signal oder weniger oder mehr GABA-Signal oder weniger? Wir haben aber, wir fokussieren dann, weil wir in einer Erwachsenen-Psychiatrie sind ja auf Hochfunktionale, also Menschen mit durchschnittlichem IQ und die auch sprechen können – und also so ähnlich wie die drei, die sie hier schon mal in den letzten Serien hatten – und haben da jetzt keine soliden Auffälligkeiten gefunden (lacht).
Mirjam: Oh, Aha?
Tebartz van Elst: Also auch die, die wir in ersten Studien gefunden hatten – wir haben auch einige sehr gut publizierte Papers da produzieren können, wo wir dann anfangs Auffälligkeiten gefunden hatten, die wir dann aber in viel größeren Kohortenstudien auch wieder überwiegend nicht gefunden haben. Also insgesamt muss man das momentan nach meinem Dafürhalten, wenn man autistische Menschen als Ganze betrachtet, eher so ein bisschen skeptisch sehen. Also viel gefunden haben wir bisher nicht, mit unseren – an sich sind das ja tolle Methoden, mit denen man schon sehr subtile Auffälligkeiten auch eigentlich ganz gut messen kann – und große Gruppen definierende Auffälligkeiten haben wir bisher noch nicht finden können. Und andere Arbeitsgruppen eigentlich auch nicht, wenn man das nüchtern betrachtet.
Mirjam: Temple Grandin, eine der bekanntesten Autistinnen, die selbst auch Vorträge auf der ganzen Welt hält und auch ein Buch geschrieben hat, mehrere Bücher über autistische Denkweisen, das autistische Gehirn, die legt sich ja freiwillig regelmäßig unter den Hirnscan, weil sie wissen will, was da drin passiert.
Tebartz van Elst: Hhhm.
Mirjam: Aber wenn man es mal konsequent zu Ende denkt und es irgend – eine Katalogisierung geben würde, da ist es ja fast beruhigend, dass Sie nichts herausgefunden haben. Also Sie arbeiten ja mit autistischen Menschen zusammen, haben viele auch mit im Team. Wie sind Sie da im Gespräch? Also, haben sie als Philosoph…
Tebartz van Elst: Ja, ich kann die Sorge vor diesem normativen Druck…
Mirjam: Ja.
Tebartz van Elst: ….verstehen, vor allem ja auf genetische Forschung bezogen. Also, was das Genetische anbelangt, kann ich eine andere Erfahrung berichten. Ich selber habe mich lange Zeit von genetischer Forschung ziemlich ferngehalten, weil ich das selber so unsympathisch fand. Und erst recht die deutsche Psychiatrie mit der ganzen T4-Geschichte da im Dritten Reich, wo Menschen mit Behinderung, im Grunde ja unter dem Titel der Wissenschaft, getötet wurden, muss man sagen. Das ist ja eine furchtbare Geschichte.
Mirjam: Hmmh.
Tebartz van Elst: Und vor dem Hintergrund wollte ich eigentlich lange, bis vor vielleicht so fünf bis zehn Jahren, eigentlich gar nichts mit genetischer Forschung zu tun haben.
Aber jetzt habe ich neben der Autismusforschung ja auch noch einen Forschungsstrang, wo wir mittlerweile sehr intensiv nach organischen Ursachen, zum Beispiel für schizophrene Störungen, gucken. Und hab da in der Zwischenzeit ganz andere Erfahrungen gemacht. Also wenn man zum Beispiel – vor zwei, drei Jahren hatten wir z.B. eine junge Frau, die hatte eine Schizophrenie-Diagnose. Und dann konnten wir bei der eine genetische, mehr zufällig als gezielt gesucht, eine genetische Auffälligkeit finden, die wahrscheinlich die Ursache war für diese Psychose, die sie hatte. Und dann war das eigentlich ganz interessant festzustellen, dass obwohl da gar keine therapeutischen Möglichkeiten daraus resultierten, aus dieser Erkenntnis, diese Psychose ist jetzt wahrscheinlich genetisch bedingt und man kann es richtig benennen, wo es herkommt, dass es für die Familie eher entlastend war, diese Ursächlichkeit zu kennen. Also es war gar nicht so, dass, wie ich das befürchtet hatte, dass das eine Belastung war, jetzt da mit einer genetischen Diagnose konfrontiert zu werden, die man ja gar nicht therapieren kann. Das war eigentlich meine Sorge. In der Wirklichkeit war es für die Familie aber viel einfacher, das Ganze zu verstehen und damit umzugehen, mit dieser klaren Diagnose. Nä, dieser völlig vage und – ja, undurchsichtige, mystisch-magische Begriff Schizophrenie war für die Familie viel bedrohlicher. Der ist ja völlig bedeutungsoffen. Wie die meisten psychiatrischen Diagnosen bedeutet der ja kausal nichts, sondern beschreibt auch nur einen Phänotyp, also eine Besonderheit von Symptomen, da eben bestimmte Wahrnehmungsstörungen wie Halluzinationen oder Denkstörungen wie wahnhafte Denkinhalte oder kognitive Probleme. Aber dieser vage, völlig unspezifizierte Begriff Schizophrenie wirkt sich dann viel bedrohlicher aus in der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit der betroffenen Familien als jetzt eine CPT2-Mutation…
Mirjam: Interessant.
Tebartz van Elst: …die da plötzlich im Raum stand. Und das war für mich so ein bisschen Aha-Element. Und das hat bei mir die Meinung zu genetischen Untersuchungen, die ja auch beim Autismus eine große Rolle spielen, geändert. Viele autistische Syndrome, die sekundären Varianten, sind ja nicht selten durch genetische, benennbare genetische Auffälligkeiten erklärbar.
Mirjam: Also, Sie als Wissenschaftler wollen ja immer die Ursache, haben Sie im Zusammenhang mit dem Autismus-Spektrums-Begriff in einem Podcast (Anm.: Podcast jung und freudlos, siehe Shownotes) mal erklärt, dass Sie, wenn man jetzt so viel damit beschreiben kann, dass man nicht verlernen soll, noch zu gucken, was sind denn die Bedingungen, die ein bestimmtes Verhalten – ich habe mich jetzt gerade verhaspelt, zum Glück kann man schneiden.
Tebartz van Elst: (lacht) Was für Ursachen dahinterstehen, hinter Verhaltensweisen meinen Sie.
Mirjam: Ja. Ich wollte eigentlich auf einen ganz anderen Punkt hinaus, (flüstert) muss mal ganz kurz nachdenken, ich habe heute schon zwei Interviews gemacht, also zwei lange.
Tebartz van Elst: Ihnen raucht der Kopf. Ja, ja, ja! Die Genetik, wir hatten es von der Genetik, ne?
Mirjam: Ja, ja. Und worauf ich hinauswollte, war, es gibt Gene und man kann es manchmal bis ins Kleinste hinein sogar bestimmen, woran es liegt, typische beobachtbare Verhaltensweisen zu sehen. Aber dadurch, dass man dann weiß, daran liegt es, der nächste Schritt ist dann: So, und was machen wir jetzt? Was braucht dieser Mensch, was interessiert ihn, was kann er vor allen Dingen, was sind das für Stärken?
Tebartz van Elst: Ja, da kommen wir irgendwann auch wieder zu diesem Selbst-Thema. Gerade die Woche hatten wir eine Familie, die waren auch da und wollten eine Diagnose haben. Die Mutter hatte das auch noch im Kopf, Autismus ist ein Erziehungsfehler, Bettelheim (Anm.: Bruno Bettelheim) lässt grüßen (lacht). Das ist….
Mirjam: Die Psychoanalyse….
Tebartz van Elst: 60 Jahre her oder noch länger, die Kühlschrank-Mutter-Hypothese.
Mirjam: Also, dass die Mütter schuld sind am Autismus ihrer Kinder, weil sie total emotionslos und kalt ihre Kinder – ihnen nicht genügend Liebe geben, und deswegen müssen die sich abkapseln und…
Tebartz van Elst: Genau.
Mirjam: …Autisten werden.
Tebartz van Elst: In dem Sinne. Und das waberte immer noch durch die Köpfe, zumindest in dieser Familie und natürlich war sie dann auch sehr erleichtert zu hören, dass es da gar nichts mit zu tun hat. Aber ich glaube, wichtig ist tatsächlich, dass man die Kinder versteht. Jetzt die, bei der war es so, dass ihr Kind sehr frühgeburtlich war, in der 28. Schwangerschaftswoche, wenn ich mich recht entsinne, zur Welt kam und dann auch einige frühkindliche Komplikationen dann eben hatte, ne Betroffenheit der weißen Substanz im Gehirn konnte man auch objektivieren. Und dann eben einen autistischen Phänotyp, also autistische Merkmale entwickelte, bei ansonsten völlig unauffälliger Familienanamnese. Also das passt eigentlich alles ganz gut zusammen. Das würden wir dann einen sekundären Autismus nennen. Jetzt nach neuer Klassifikation vor dem Hintergrund, vor dem wahrscheinlichen Hintergrund von Geburtskomplikationen im Rahmen dieser Frühgeburtlichkeit.
Mirjam: Also dass es durch die Geburt ausgelöst ist, also das bedeutet dann, das Kind war im Mutterleib noch nicht autistisch, sondern ist es durch die Komplikation geworden.
Tebartz van Elst: Und sie können natürlich auch eine Röteln-Embryopathie haben, dann haben sie oft auch Epilepsien und Anfälle und dadurch einen autistischen Phänotyp, also Merkmale entwickeln. Das ist dann ein Autismus auch, hat die gleichen Symptome, aber in diesem Fall ist die Ursächlichkeit benennbar. Das ist das, was man ‚sekundärer Autismus‘ nennt oder was Autismus im Sinne einer neuropsychiatrischen Krankheit im Sinne dieses einen Buches, was ich da geschrieben habe (siehe Shownotes). Und jetzt gibt es aber natürlich auch viele Autisten, autistische Menschen, bei denen man keine klaren sekundären Ursachen findet und die aber klar Auffälligkeiten in der Familie haben. Wo man sagen kann: Der Vater ist genauso ein Typ und die Großmutter war genauso. Das kann man oft sehr gut in der Familie nachweisen. Das ist dann wahrscheinlich multigenetisch. Das bedeutet, viele, viele hundert Gene mit einer jeweils kleinen Effektstärke der einzelnen genetischen Besonderheit verursachen dann en groupe – man nennt das auch ‚En-Masse-Effekte‘ oder ‚Masseneffekte‘ den autistischen Phänotyp. Und das kann man dann eigentlich ganz gut vergleichen mit der Körpergröße, das ist die berühmte Körpergröße-Metapher. Auch die Körpergröße wird durch viele, viele hundert Gene bestimmt oder Gen-Varianten, Allele nennt man das in der Wissenschaft, die eben von den Eltern kommen. Und große Eltern kriegen große Kinder. Kleine Eltern kriegen kleine Kinder. Wenn die Varianz der Eltern groß ist, ist die Varianz der Kinder groß, also die Unterschiede. Und das kann man spielend leicht genetisch zumindest mal miterklären durch die vielen 100 Gene, die zusammen diese Eigenschaft mit hervorbringen.
Und das ist eben Autismus im Sinne einer Normvariante. Das ist eigentlich aus krankheitstheoretischer Sicht, aus nosologischer Sicht ist das eigentlich gar keine Krankheit. Das ist so wie Körpergröße. Ich meine, Dirk Nowitzki ist 2,13 Meter, glaube ich, oder 16. Ich kenne den nicht, aber nichts spricht dafür, dass er irgendeine Krankheit hat. Er ist einfach nur extrem groß. Ich glaube, ich gehe mal davon aus, der hat einen großen Vater und eine große Mutter. Und von den paar hundert Größe-Genen hat der alle Groß-Allele an Bord (Mirjam lacht). Von seinen beiden Eltern eingesammelt. Und deshalb ist er sehr groß geworden. Das ist Autismus im Sinne einer multigenetischen Gewordenheit, und das ist eigentlich gar keine Krankheit, das ist eine Normvariante.
Mirjam: Das ist jetzt interessant, auch aus dieser Perspektive heraus zu sagen, es ist keine Krankheit. Man kann ja einmal sagen: Für mich ist das keine Krankheit.
Tebartz van Elst: Im normativen Sinn ist das keine Krankheit.
Mirjam: Ja, ja. Aber auch eben quasi: Es ist familiär so verbreitet, dass das einfach mit dazugehört. So ungefähr. Also ist das vielleicht auch ein Ansatz, warum es immer mehr Diagnosen gibt?
Tebartz van Elst: Zumindest eine plausible Erklärung, das glaube ich schon. Dass wir jetzt heutzutage auch leichte Varianten und Ausprägungsmerkmale von Autismus überhaupt als ‚Autismus‘ beschreiben und benennen, das ist nach meinem – ich denke, das ist klar, die Menschen, viele, die meisten von denen, die heute die Autismusdiagnose bekommen, hätten die in den 70er-Jahren nicht bekommen. Viele von diesen hochfunktional betroffenen autistischen Menschen, die sprechen können, die ein Studium schaffen, die Abitur schaffen, zwar ihre zwischenmenschlichen Probleme haben, oft dann ja aus dem Autismus resultierend, aber trotzdem auch ganz, ganz viel schaffen, die hätten ja alle in den 70er-Jahren keine Autismusdiagnose (lacht) bekommen, nie im Leben.
In den 70er-Jahren war die Diagnose vorbehalten für ganz schwer Betroffene, meistens Leute wie Rain Man (Anm. aus dem gleichnamigen Film), sage ich manchmal, Rain Man-Autismus, die nicht sprechen oder frühkindliche autistische Varianten. Und diese ganzen hochfunktionalen Varianten – es gibt ja auch den Begriff des Broader Autism Phenotype, das ist ja die, das meint ja subsyndromale Varianten von Autismus, wo man die Eigenschaften schon erkennen kann, wo man aber eigentlich sagt, die Ausprägung und die Auswirkung der autistischen Besonderheiten sind so gering, dass wir jetzt eigentlich keine Diagnose stellen wollen, obwohl wir die Eigenschafts-Besonderheiten erkennen. Viele von den Leuten würden heute eher eine Diagnose bekommen, auch weil sie es wollen, nä. Da kommt das Identitäts-Thema jetzt wieder mit rein. Und hätten das – das hat sich auch in den letzten 10, 20 Jahren ganz stark geändert. Der Identitäts-Aspekt zum Thema Autismus hat sich in den letzten zwei, drei Dekaden nach meiner Wahrnehmung sehr stark geändert.
Mirjam: Was ist denn da anders geworden, also dass das wichtig geworden ist aus Ihrer Sicht?
Tebartz van Elst: Ja, also da geht es auch morgen in dem Vortrag darum, was ist Identität, was ist das Selbst? Ich glaube, man muss diese Begriffe verstehen. Also ich würde die drei Begriffe ‚Ich‘, ‚Selbst‘ und ‚Identität‘ unterscheiden. ,Ich‘, das sind die Kerneigenschaften, die ein Mensch hat, ‚Strukturen‘ würde ich das nennen. Das ist sowas, ob man groß oder klein ist oder wie ich weitsichtig ist, das ist eine Struktureigenschaft meines Körpers, da kann ich nichts dran ändern. Das ist mein Schicksal, da kann ich mich drüber ärgern, das fand ich auch blöd als Jugendlicher, ich wollte auch keine Brille haben und (Mirjam lacht) es ist aber so! Sie können sich drüber ärgern ein Leben lang, das ändert aber nichts, das macht es nur schlimmer. Das ist Ihr Schicksal. Und so ist das mit allen Struktureigenschaften im engeren Sinne des Körpers. Das ist Ihr Schicksal, das ist schön oder blöd, es ist nicht ihr Verdienst und nicht ihre Schuld. Aber am besten akzeptieren sie es (lacht), weil sonst ärgern Sie sich Ihr ganzes Leben lang nur drüber und das macht nichts besser. Und dazu gehören eben auch die Ich-Funktionen. Dazu gehört, ob man gut sehen kann, ob man schlecht sehen kann, ob man groß ist, ob man klein ist, ob man lesen kann, ob man schreiben kann. Das sind ja eigentlich alles ganz schöne Beispiele auch für zum Beispiel Lesen, Schreiben, Rechnen, für erworbene Strukturen. Bevor Sie lesen konnten, hatten Sie die Struktureigenschaft nicht. Nachdem Sie Lesen gelernt haben, können Sie‘s, dann können Sie‘s auch nicht mehr abstellen. Wenn Sie mal Lesen gelernt haben, können Sie das Lesen ja nicht mehr abstellen! Also es hat sich ja strukturell was an Ihrem Körper geändert.
Mirjam: Das ist ein ganz neuer Gedanke für mich, weil Struktur – von Ihrem Modell hat mir mein Co-Host Marco vorher erzählt: „Ja, der hat dieses tolle Modell!“ Wo Sie ja gerade dazu kommen: Struktur, Zustand und Problem. Aber für mich, ich habe dann für mich abgehackt: Okay, Struktur bedeutet eben das, was man mitbringt, so wie man gebaut ist, so setzt man sich dahin, aber interessant, dass das, was man dann noch lernt – ist ja ganz klar, wenn man einmal Fahrradfahren gelernt hat, dann verliert man das ja auch nicht mehr.
Tebartz van Elst: Ja, genau.
Mirjam: Dass das die Struktur mit aufbaut! Und deswegen haben Sie‘s auch, Sie hatten es ‚Ich-Struktur‘ genannt, oder wie war das?
Tebartz van Elst: Ja, genau. Also die Ich-Funktionen sind schon eine Struktur, aber viele strukturelle Eigenschaften entwickeln sich natürlich trotzdem.
Mirjam: Also das, was man aus sich macht, sozusagen.
Tebartz van Elst: Ja, auch. Aber Ich-Funktionen würde ich zunächst mal all die Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Menschen nennen, die sich ja auch entwickeln – also Sie sind ja zwar vielleicht auch schon als Baby groß und mit fünf groß, aber Sie sind mit fünf anders groß als mit 15, da sind sie ja immer noch viel größer als mit fünf. Also auch diese Struktureigenschaft ‚Körpergröße‘ als klassische Struktureigenschaft hat ja eine Entwicklungsdynamik. Die meisten, die als Kind groß sind, sind‘s dann als Erwachsene auch. Aber manchmal kann das kippen. Gerade zum Beispiel in der Pubertät ist es ja so, dass manche, die früh in die Pubertät kommen, dann mit 10, 11 im Vergleich zu den anderen Kindern eher groß sind und dann mit 15, 16 sogar eher klein. Da gibt es also durchaus auch eine Dynamik in der Entwicklungsphase. Aber die Ich-Strukturen fassen im Grunde konzeptuell die ganzen Fähigkeiten, Eigenschaften und Fertigkeiten eines Menschen zusammen, die er zu einem bestimmten Zeitpunkt einfach hat. Und die stehen auch nicht zur Verfügung, die sind dann einfach da.
Mirjam: Hmmh.
Tebartz van Elst: Also, auch das Lesen-Können steht mir ja nicht zur Verfügung, im Sinne der Fähigkeit es abzuschalten. Wenn ich lesen kann und da steht das Wort ‚Stopp‘, dann sehe ich das und weiß auch, was es bedeutet. Ich kann ja nicht so tun, als würde ich‘s nicht lesen. Also das ist eine erworbene Fertigkeit dann aber im strukturellen Sinne, die ich dann irgendwann erworben habe und das ist eine Struktur, die ich jetzt nicht mehr ändern kann. Das ist Schicksal. Auch, dass ich Lesen gelernt habe, ist Schicksal. Genau wie wenn ich Lesen nicht gelernt habe…
Mirjam: Aber…
Tebartz van Elst: Dann bin ich Analphabet und kann das nicht lesen. Beides ist schicksalhaft. Aber ich kann natürlich was dran ändern.
Mirjam: Aber wenn wir jetzt unseren ersten Gast Bianca nehmen (Anm. siehe Podcast Folge 1) oder andere Menschen im Spektrum, die etwas später im Leben dann doch sprechen, das ist doch auch eine elementare Strukturveränderung, die dann vielleicht doch möglich ist.
Tebartz van Elst: Ja, absolut. Und ist dann auch eine Ich-Funktion, nach der – im Sinne dieser Definition. Also, dass sie sprechen kann, ist dann ja eine Ich-Funktion. Das ist eine Fertigkeit, die sie dann irgendwann zur Verfügung hat. Erst dann eben, erst mit 10 war es, glaube ich, oder 8, nee, 10 war es, glaube ich. Aber als sie es mal hatte, war es ja auch so. Dann gibt es natürlich bei manchen autistischen Menschen noch das Phänomen, dass das Sprechenkönnen phasisch verloren geht in Stresssituationen. Das sind dann aber Zustände. Eigentlich können sie es ja per se, im strukturellen Sinne. Aber dass man im Sinne eines Stresszustandes mutistisch wird.
Mirjam: Also nicht mehr sprechen kann, ja.
Tebartz van Elst: Gibt‘s bei allen Menschen auch, nä – auch das ist nicht pathognomonisch, wieder dieses alte Wort, für Autisten, sondern es hat ihnen die Sprache verschlagen. Das gibt‘s ja sogar in der Alltagssprache für alle Menschen. Also Stress kann alle Menschen sprachlos machen, mutistisch.
Mirjam: Ich habe dann immer nen Kloß im Hals.
Tebartz van Elst: Ja (lacht).
Mirjam: Manchmal kann man mir das, glaube ich, auch anhören, weil ich ja so dicht (lacht) vor dem Mikrofon spreche, wenn ich ein bisschen überlastet bin, habe ich ein Kloß im Hals.
Tebartz van Elst: Ja, das geht den meisten Menschen so, geht mir auch so.
Mirjam: Dann versuche ich immer (TvE lacht), am Mikrofon vorbei kurz runterzuschlucken (lacht).
Tebartz van Elst: Also das sind die Ich-Eigenschaften, die aber auch eine Dynamik haben, vor allem in den Entwicklungsphasen. Wenn man dann mal 30, 40, wenn man so alt ist wie ich, dann tut sich da nicht mehr viel. Dann hat man sie oder verliert man sie nur noch (lacht). Wenn man einen Schlaganfall kriegt, dann sind sie wieder weg, oder einen Unfall hat oder was auch immer.
Mirjam: Ich habe gestern mich mit Dr. Christine Preismann unterhalten (Anm. siehe Extrapod 1), autistische Ärztin, Therapeutin, Psychotherapeutin, die mir erzählt hat, dass sie mit 43 Jahren zu Hause ausgezogen ist und dann – mithilfe einer Ergotherapeutin – dann gelernt hat, mit 43 einen Haushalt zu führen.
Tebartz van Elst: Ja, ja, ja, ich habe das schon mal gehört von ihr.
Mirjam: Also, sich das so einzurichten. Also auch das macht es im Grunde alles wirklich nicht – also, es ist kompliziert, auch wenn man dann denkt, man hat eine Struktur, die kann sich eben noch verändern. Wie hilft Ihnen denn dieses Verständnis zu unterscheiden zwischen Struktur, Zuständen, die wechseln können? Und ‚Problem‘ haben wir jetzt noch gar nicht besprochen.
Tebartz van Elst: Ja, es ist sogar sehr wichtig, weil die Strukturen werden ja meistens dann ein Problem, wenn sie im problematischen Sinne nicht durchschnittlich sind. Also wie zum Beispiel jetzt bei autistischen Menschen die Reizüberflutung, die Reizoffenheit. Das ist ja eine strukturelle Besonderheit. So wie wenn jemand anders vom Licht geblendet wird. Das kann er nicht abstellen. Und das ist eben anders als bei anderen Leuten und das wird dann als Defizit erlebt. Und da ist es wichtig, dass man Defizite, die strukturell sind, als solche erkennt, damit man nicht das Gefühl hat, man macht was falsch. Genauso wenig, wie wenn ich jetzt lichtempfindliche Augen habe, machen ja ich nichts falsch, wenn ich geblendet werde. Und wenn ich nun mal reizempfindlich für laute oder sozial reizreiche Geräuschkulissen bin, dann ist es ja auch kein Versagen, sondern ein Schicksal. Also dafür ist es wichtig, dass man erkennt, dass das was Strukturelles ist, weil Strukturen muss man erkennen und akzeptieren. Das ist, glaube ich, wichtig. Jetzt ist die Frage, was ist mit so Phänomenen wie…
Gut, ‚Probleme‘, kommen wir erstmal dazu, dass ist das alte SPZ-Modell. Wenn ich zum Beispiel als autistischer Mensch mich sozial zurückziehe von anderen, weil das mit der Kommunikation nicht klappt, weil ich die kommunikative Fertigkeit im Sinne einer Ich-Struktur nicht erworben habe – das wäre dann ja so, wie wenn jemand nicht lesen kann – dann ist das natürlich verständlich, dass er sich zurückzieht aus kommunikativen Situationen. Es ist aber dennoch keine Struktur, sondern ein Problemverhalten. Dass Sich-soziale-Zurückziehen aus sozialen Kontexten – gut, wenn es gewünscht ist und der Mensch ist damit zufrieden, dann ist es auch kein Problemverhalten, es ist einfach nur ein Verhalten. Dann ist es ein selbstgewähltes Verhalten und ist ja nichts Problematisches. Jeder soll ja so leben, wie er will. Aber viele autistische Menschen haben natürlich schon gerne auch Sozialkontakte. Ist jetzt ja nicht so – gut, manche brauchen das nicht, dann ist ja auch alles okay. Aber viele würden ja schon gerne mehr Sozialkontakte haben. Und in so einer Konstellation ist der soziale Rückzug natürlich durchaus ein Problemverhalten. Zwar nachvollziehbar und verstehbar, wenn man das so versteht, wenn man die strukturellen Besonderheiten erkennt, aber natürlich nicht unbedingt hilfreich. Weil, das führt eben in die Einsamkeit und Frustration. Und da ist es wichtig, das Problemverhalten und die Struktur auseinanderzuhalten, weil das Problemverhalten soll ich ja nicht akzeptieren. Die Struktur muss ich akzeptieren, aber das Problemverhalten will ich ja ändern. Das muss ich erkennen als ein Problemverhalten und damit erkennen, ich könnte es zumindest theoretisch ändern. Das ist nicht leicht, da muss ich vielleicht was lernen.
Mirjam: Und wenn das Umfeld mitmacht.
Tebartz van Elst: Klar, das hängt immer damit zusammen. Und da können einen natürlich auch andere unterstützen, Eltern zum Beispiel.
Und Zustände sind dann eben die Zustände. Da hatten wir gerade schon Stresszustände bei autistischen Menschen, können zum Beispiel ja auch wieder zu einem Mutismus führen, dass sie eigentlich die Fertigkeit sprechen zu können, für eine Weile verlieren. Aber Zustände sind eben dadurch gekennzeichnet, dass sie eben nen Anfang und ’n Ende haben. Depressionen sind ja auch sowas.
Mirjam: Hmmh.
Tebartz van Elst: Menschen, die depressiv werden, sind in aller Regel deutlich autistischer aus der Außenwahrnehmung als im nicht depressiven Zustand. Muss man auch gucken, auch diagnostisch gucken, dass man das nicht verwechselt. Eigentlich sollte man einen Autismus im depressiven Zustand auch nicht diagnostizieren.
Mirjam: Hmmh.
Tebartz van Elst: Weil die autistischen Eigenschaften regelhaft im depressiven oder gestressten Zustand stärker erscheinen, nach außen. Und dieses Mehr an reizoffen halt sein, dieses Mehr an Anderen-Leuten-nicht-in-die-Augen-gucken-Können, dieses Mehr an Sprache-wortwörtlich-Nehmen im gestressten Zustand kann natürlich auf das Grundlevel wieder zurückfallen. Wenn dann die Depression vorbei ist, dann haben Sie zwar meistens immer noch Schwierigkeiten, anderen in die Augen zu gucken, und der Freiburger Wochenmarkt wird immer noch nicht geliebt oder der volle Supermarkt oder die volle Straßenbahn. Aber es geht alles plötzlich viel, viel besser als noch einige Monate vorher im depressiven Zustand. Und natürlich ist nur das die Grundstruktur. Nur das, was im nicht depressiven Zustand noch da ist, wenn es den Leuten gut geht. Das ist die Grundstruktur. Das, was im depressiven oder im Stresszustand mehr wird, das ist eigentlich Pseudostruktur. Das ist zustandsbedingte Struktur.
Mirjam: Wir hatten das gerade bei unserem letzten Elternkreis-Treffen, wo mehrere Eltern schon etwas älterer Menschen da waren, die schon über 30, über 20 waren. Da hat eine Mutter erzählt, ihr Sohn steckt gerade in so einer depressiven Phase und kann nicht aus seinem Zimmer raus und sie hat erkannt, sie muss jetzt einfach warten. Und zum Glück sind sie so in Kontakt, dass er ihr gesagt hat: „Mama, gib mir Zeit.“ Und das haben Sie ja gerade gesagt, in so ner Situation kann man auch schwer als autistischer Mensch wahrscheinlich die richtige Hilfe finden, wenn man noch keine Diagnose hat. Das berichten nämlich auch Eltern.
Tebartz van Elst: Ja, ja.
Mirjam: Das ist ja das Problem, wenn es noch keine Diagnose gibt, dass dann diese Probleme, in die die Menschen geraten, dann Problemverhalten verursachen, und dann kriegen dann die Eltern von der Schule gesagt: Mit Ihrem Kind stimmt was nicht! Oder die Kinder brechen zusammen oder sie sind älter und sind total erschöpft, können nicht mehr das Haus verlassen. Und es ist aber so, Sie arbeiten in einem Zentrum, das spezialisiert ist darauf, Autismus zu diagnostizieren. Die gibt es nur an wenigen Orten in Deutschland. Uns berichten Eltern, dass sie – wie bei allen Terminen bei einem Psychiater – dann teilweise ein Jahr warten müssen auf einen Termin. Und jetzt hören wir noch von Ihnen, wenn eine Depression da ist, sollte man möglichst nicht ne Diagnostik machen, weil es einem dann vermutlich passieren kann, dass die den Autismus überdeckt…
Tebartz van Elst: Ja.
Mirjam: Und dass dann die wahre Ursache gar nicht erkannt wird. Aber was raten Sie dann so verzweifelten Eltern, die ihren Kindern helfen wollen, da wieder rauszukommen?
Tebartz van Elst: Ja, das macht es noch schwieriger. Aber vor allen Dingen soll die Diagnose nicht querschnittsbasiert sein. Also eine Autismusdiagnose hat ja eigentlich immer auch ganz wesentlich den Längsschnitt-Aspekt, also die Entwicklungsanamnese. Wenn ich eine Autismusdiagnose stelle, muss ich ja eigentlich fragen: Wie war es in der ersten und zweiten Dekade? Und das….
Mirjam: Also in den ersten, also 1 bis 10 und 10 bis 20, also die Lebensjahre sind damit gemeint.
Tebartz van Elst: Genau. Also mal angenommen, da kommt jemand mit 35 zu mir und ist depressiv und wirkt sehr autistisch, im Querschnitt, in der Situation, wo er dann bei mir sitzt, dann kann ich aufgrund der Querschnittsbeobachtung nicht zwingend schließen, wie autistisch der wirklich ist, wenn die Depression vorbei ist. Weil, das kann deutlich besser wirken. Aber ich kann natürlich trotzdem, wenn ich zum Beispiel Eltern habe, fragen, wie war das denn im Kindergarten, wie war es denn in der Grundschule, wie war es denn auf der weiterführenden Schule, wie war es denn in der Ausbildung, wie war es an der Uni, wenn es das gegeben hat und so weiter und so fort. Und wenn die Muster dann so klar sind, kann ich in so einer Situation längsschnittbasiert trotzdem eine Autismusdiagnose stellen, wenn ich die Informationen habe.
Mirjam: Sie schreiben in Ihrem Buch, vielen Therapeuten und Diagnostikern begegnen immer mehr Autisten, aber sie wissen es oft gar nicht.
Tebartz van Elst: Ja genau, weil sie oft aber nicht genau hinfragen. Gerade diese Längsschnittdiagnose, wenn man die Zeit hat und die Informationsquellen, kann im Grunde ja jeder stellen, indem er einfach die kritischen Fragen fragt und überprüft, wie war das denn damals im Kindergarten, in der Grundschule und so weiter und so fort.
Und da kommt jetzt wieder dieses SPZ-Modell. Wichtig ist, dass man die verschiedenen Phänomene unterscheidet, weil man da anders mit umgeht. Strukturen akzeptiere ich, Probleme will ich lösen und Zustände will ich entweder behandeln oder aushalten. Also das, was Sie gerade geschildert haben, ist ja eher der Ansatz: Ich warte, ich sitze es aus. Der ist jetzt gerade in einer schweren Phase, und das wird schon vorbeigehen, nach Wochen oder Monaten, manchmal nach Jahren. Aber das ist dann ja die Interpretation im Sinne eines Zustandes und dann hat man ja auch die Hoffnung. Gut, wenn es ein Zustand ist, dann wird es ja auch vorbeigehen.
Das ist ja oft so, wenn autistische Menschen als autistisch erkannt sind und plötzlich wird phasisch etwas schlechter, die autistischen Menschen werden deutlich autistischer als vorher – vorher konnte man sie noch mit in die Stadt nehmen. Vorher konnten die noch Auto fahren. Vorher konnten sie noch sprechen. Plötzlich geht das alles nicht mehr. Dann darf man eben nicht den Fehler machen, dieses Mehr an autistisch sein im strukturellen Sinne fehlzudeuten. Weil das erklärt es ja nicht. Die autistische Struktur ist ja mehr oder weniger starr und immer da. Das Mehr an autistisch sein, was phasisch sich entwickelt, was plötzlich beginnt, muss eigentlich eine andere Ursache haben. Das ist nicht nur Autismus, das ist irgendwas anderes. Oft ist es Depression, die nicht als solche erkannt wird.
Mirjam: Also dann doch wieder zum Arzt, wenn man die Diagnose schon hat oder zur Ärztin.
Tebartz van Elst: Weil wenn die Autismusphase schlimmer wird, kann es ja Depression sein und die kann ich ja wieder behandeln. Den Zustand soll ich ja, wenn ich ihn behandeln kann, nicht akzeptieren. Das ist so ähnlich wie – das das SPZ-Modell kann man auch bei Migräne anwenden. Bei Migräne, die Veranlagung zur Migräne, die haben Sie, das sind ein paar Migräne-Gene – habe ich auch – das ist Struktur, die werden Sie nicht los. Das ist Ihr Schicksal, damit müssen Sie umgehen. Wenn Sie veranlagt sind zur Migräne und Sie trinken Rotwein auf Teufel komm raus und schlafen nicht, na gut, dann kriegen Sie Migräne-Attacken. Die Migräne-Attacken sind Zustände, die haben Anfang und Ende, die können Sie behandeln, da können Sie Medikamente gegennehmen. Aber das Eleganteste ist natürlich (lacht) am Problemverhalten anzusetzen. Also wenn ich eine Veranlagung zur Migräne habe, dann soll ich halt nicht so viel Rotwein trinken (lacht). Dann komme ich erst gar nicht in den Zustand rein. Und ein bisschen ist es so mit dem Autismus auch. Die autistische Struktur ist die Grundstruktur, die ist da, auch wenn es einem gut geht. Problemverhaltensweisen können sozialer Rückzug sein, es können auch ungute Kommunikationsmuster sein. Viele autistische Menschen haben sich – oft nachvollziehbar wie der soziale Rückzug, aber auch unkluge –Kommunikationsmuster angelernt. Und die führen natürlich zu Stress und zu interpersonellen Konflikten. Und das ist eigentlich keine Struktur und auch kein Zustand, sondern ein Problemverhalten. Und dieses Problemverhalten führt dann eben zu Konflikten, zu noch mehr Ablehnung, zu noch mehr sozialer Isolation. Und das wird dann wieder zu einer Depression und die macht dann auch alles stärker.
Insofern ist es auch als Modell manchmal ganz hilfreich, auch wenn es nicht so einfach ist, das immer auseinanderzuhalten, das sozusagen als analytisches Raster zu nehmen, manchmal auch nur im Sinne einer Frage. Ist das jetzt eine Struktur, ist es ein Problemverhalten oder ist es ein Zustand? Wenn es ein Zustand ist, warte ich ab oder ich behandle antidepressiv, wenn ich glaube, dass es eine Depression ist. Wenn es eine Struktur ist, dann muss ich es akzeptieren, allenfalls mir gute Tricks ausdenken, Kompensationsstrategien. So wie die Brille bei mir.
Mirjam: Bei mir auch, für drei verschiedene Lesesituationen.
Tebartz van Elst: Ja, und die macht die Struktur ja nicht weg, nur weil Sie eine Brille auf der Nase haben, sind Sie ja nicht weniger weit- oder kurzsichtig oder fehlsichtig, sondern Sie haben die ja nur kompensiert. Die Struktur ist ja komplett da, wenn Sie die Brille abziehen, ist ja alles wie gehabt. Und wenn es ein Problem ist, ja gut, dann müssen Sie gucken, dass Sie das lösen.
Mirjam: Herr Tebartz van Elst, ich sehe an Ihrem tiefer in den Sessel sinken, dass wir langsam zum Ende kommen sollen. Wir haben noch viel vor uns. Sie und ich, also Sie halten morgen früh einen der Vorträge auf der Bundestagung und heute Abend gibt es noch ein Meet & Greet, also eine Party oder ein Essen, wo viele Tagungsteilnehmerinnen und Teilnehmer sein werden.
Ich habe vorhin eigentlich sowas angefangen und das nicht zu Ende gemacht. Ich fand ja Ihre Begriffe so schön, wie man auf Autismus blicken kann: kreativ, optimistisch, gelassen und dankbar. Wir wären jetzt am Ende bei ‚dankbar‘, denn das andere haben wir alles zumindest gestreift. Ich bin ein bisschen von meiner Idee abgewichen. Wofür sind Sie dankbar?
Tebartz van Elst: Also ich soll ja hier auf diese Tafel noch irgendeinen Begriff schreiben, wie ich mich da sehe zu diesem Autismus-Feld. Mir fällt ein: Entdecker.
Mirjam: Schön.
Tebartz van Elst: Das finde ich eigentlich gar nicht so schlecht. Also ich finde, wenn ich jetzt so an diese letzten 20 Jahre denke, ich habe in diesem Autismus-Themenfeld einfach so viele spannende Sachen entdeckt, spannende Menschen, interessante Menschen, muss man sagen, die haben ja besondere Schwierigkeiten meistens. Sonst kämen sie auch gar nicht zu uns. Nicht jeder, der autistisch ist, kommt deshalb zum Psychiater. Die gar keine Probleme haben, warum sollten die auch kommen? Aber die, die zu uns kommen, haben natürlich immer besondere Schwierigkeiten, die meistens mit ihren Besonderheiten, strukturellen Besonderheiten zusammenhängen. Aber sie haben natürlich auch ganz oft ganz besondere (lacht) Lösungsstrategien entwickelt. Das ist schon wirklich auch immer wieder ganz spannend und einfach interessant, das so zu erleben, wie die ihr Leben gemeistert haben und mit welchen Schwierigkeiten sie konfrontiert waren, aber auch welche fantasievollen und oft kreativen Lösungen sie da gefunden haben.
Und insofern habe ich da nicht nur viele interessante und spannende Menschen entdeckt, sondern auch Themen. Insofern ist Entdecker vielleicht das Richtige. Und da bin ich auch sehr dankbar für. Das war eine auch für mich prägende Erfahrung, dieses Autismus-Thema.
Mirjam: Vielen Dank in diesem Sinne, Herr Tebartz van Elst, dass Sie sich so viel Zeit genommen haben, heute mit mir zu sprechen und unseren Hörerinnen und Hörern wichtige Hinweise zu geben, wo sie in Sachen wissenschaftliche Konzepte zu Autismus und so noch etwas mehr in die Tiefe gehen können. Danke, dass Sie das heute mit uns geteilt haben.
Tebartz van Elst: Gerne, gerne.
Mirjam: Und wir freuen uns natürlich auch über euer persönliches Feedback! An unsere E-Mail-Adresse könnt ihr schreiben: hallo@spektrakulär.de. Und ihr könnt uns auch auf Instagram finden und uns dort gerne Feedback geben. Vielen Dank fürs Zuhören und bis bald. Tschüss allen.
Tebartz van Elst: Ciao.
Outro
Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)
Sprecher: Das war Spektakulär. Eltern erkunden Autismus.
Mirjam: Unsere Kontaktdaten und alle Infos zu unseren Folgen findest du in den Shownotes auf unserer Seite spektrakulaer.de.
Sprecher: Der Podcast aus dem Martins-Club Bremen.
Musik-Ende
Sprecher: Gefördert durch die Aktion Mensch
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