Dr. Hajo Seng

Extrapod 2

Spektrakulär – Extrapod 2 mit Dr. Hajo Seng – Mathematiker, Rehabilitationspädagoge, Autist

„Nicht verstanden, nicht richtig gesehen und erkannt zu werden – das ist autistischen Menschen quer über das ganze Spektrum vertraut“

Erscheinungstermin: ab 02.04.2024, Autorin: Mirjam Rosentreter

Intro

Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)

Sprecher: Spektrakulär – Eltern erkunden Autismus.

Marco Tiede (Co-Host): Ja, Hallo nochmal. Hier ist wieder Marco, euer Co-Host bei Spektrakulär. Auch am zweiten Kongress-Tag war Mirjam für uns auf der Bundestagung als Reporterin unterwegs. Und da traf sie vorm Hauptvortragssaal einen der Hauptredner vom Vortag – zusammen mit Imke Heuer sprach er zum Thema „Leben in einer nicht-autistischen Welt“. Und hier hört ihr das spontane Interview am Rande des Tagungstrubels mit…

Intro

Sprecherin: Dr. Hajo Seng – Mathematiker, Rehabilitationspädagoge, Autist

Intro-Ende: Musik + Geräuscheffekt (Klapper)

Atmo-O-Ton

Mirjam: Hajo Seng! Der Mann aus dem nahen Hamburg, den wir unbedingt bald einmal in den Podcast einladen wollen; weil er vor zwanzig Jahren den heute größten deutschen Autismus-Selbsthilfeverein mitgegründet hat, Aspies. e.V.; weil er aus autistischer Sicht über Autismus und autistische Fähigkeiten eine Doktorarbeit geschrieben hat – solche Sachen. Aberda steht er nun mal vor dem Getränketisch. Unverkennbar: die große Nase, die dunkel unterschatteten Augen. Er will wohl eigentlich gerade eine kleine Pause machen. Und ich bin ziemlich unvorbereitet. Trotzdem fragte ich natürlich, ob er spontan kurz Zeit hat. Hat er. Wir nehmen uns beide je ein Fläschchen Orangensaft und setzen uns zum Interview an einen der zu diesem Zeitpunkt schön leeren Tische. Es wird dann doch ein längeres Gespräch.

Interview

Mirjam:Wann sind Sie in ihrem eigenen Leben denn zum ersten Mal über Autismus gestolpert sozusagen?

Hajo Seng: Also, das erste Mal über Autismus gestolpert bin ich so quasi mit Ende 20 ungefähr. Es ist auch schon ziemlich lange her, das ist so Anfang der Neunzehnneunzigerjahre gewesen, weil ich hatte am Ende der Neunzehnachtzigerjahre angefangen, in der Behindertenhilfe zu arbeiten. Hab das auch ne ganze Zeit lang gemacht, und hab da dann auch mit autistischen Kindern und Jugendlichen hauptsächlich auch zu tun gehabt. Die allerdings alle – das war damals quasi gesetzt irgendwie – frühkindlichen Autismus hatten von der Diagnose her und auch sehr eingeschränkt waren, nicht gesprochen haben, oft auch sehr deutlich selbstverletzendes Verhalten und Ähnliches gezeigt haben. Und das waren so meine ersten Berührungspunkte, und das ist eigentlich auch der Zusammenhang gewesen, wo mir dann eben klar wurde, dass ich auch selbst autistisch bin. Da ist der Hintergrund der, dass für mich eigentlich so von vornherein, eigentlich immer schon, also seit meiner frühsten Jugend wirklich klar und offensichtlich war: Irgendwas ist bei mir anders, und zwar sehr grundlegend anders als bei allen anderen Menschen, mit denen ich zu tun hatte. Und in dem Bereich ist es halt einfach auch so gewesen, dass ich da hauptsächlich auch von Kolleginnen, mit denen ich da gearbeitet hatte, drauf gestoßen wurde, die gesagt haben: Also, irgendwie kommst du mir ja schon so ein bisschen autistisch vor. Also solche Sachen, die dann angefangen haben, bei mir mehr und mehr zu arbeiten und ich dann irgendwann dachte: Ja dann ist es nun so. Aber nicht in dem Sinne autistisch wie die frühkindlichen Autisten, mit denen ich zu tun hatte, sondern halt schon noch anders, aber wo ich gemerkt hab: Da gibt es schon ne strukturelle Ähnlichkeit. Nä? Also was mir extrem aufgefallen ist damals, das fand ich schon ziemlich merkwürdig eigentlich, war irgendwie so, dass dieser Kontakt mit auch diesen schwer betroffenen autistischen Menschen, der fiel mir sehr leicht und deutlich leichter als all meinen Kolleginnen. Das hatte häufig den Effekt, dass eben ich dann halt auch mit diesen autistischen Jugendlichen zu tun hatte, weil alle anderen kamen mit denen nicht klar. Und bei mir hat es dann halt funktioniert. Und umgekehrt aber auch! Also auch die autistischen Menschen haben dann immer relativ schnell mich gesucht als Kontaktperson. Da war dann schon klar: Irgendwas passt da zusammen.
Ich hab dann auch immer wieder, also jetzt auch aktuell, Kontakt mit einem jungen, frühkindlich autistischen jungen Mann, der dann mithilfe gestützter Kommunikation mich dann auch irgendwann kontaktiert hatte eben mit dem Wunsch, mich mal kennenzulernen. Und wo ich dann merke: Da ist dann durchaus auch ein Austausch da, obwohl ich verbal ja wirklich sehr gut also so aufgestellt bin und der Junge so gut wie gar nicht spricht irgendwie spricht, sondern eben mit seinem Tablet, dann auch ein sehr deutliches Selbstaggressions-Thema auch hat, was ich jetzt auch nicht so habe. Aber es gibt halt andere Sachen, wo klar ist: Irgendwie ist da was da, eine Gemeinsamkeit da.

Mirjam: Was sind das für Sachen, wo die Gemeinsamkeit zu spüren ist?

Seng: Ich glaube in der Art und Weise einfach auch so ein bisschen die Dinge zu erleben. Also so in der Art und Weise, wie man selber irgendwie Sachen wahrnimmt. Und das, was auch ein Aspekt ist, der nicht überall so bekannt ist, ist auf eine, sag ich mal, relativ spezifische Weise irgendwie nicht verstanden zu werden, nicht richtig gesehen, nicht richtig erkannt zu werden. Also, das ist glaube ich ne Erfahrung, die vielen autistischen Menschen quer über das ganze Spektrum vertraut ist.

Mirjam: Wie hat sich denn ihr Verhältnis zu ihren Eltern entwickelt?

Seng: Also, mein Verhältnis zu meinen Eltern war immer – schwierig? Nä, also auf beiden Seiten. Weil, eigentlich immer, von Anfang an eigentlich, also seit jüngster Kindheit bei meinen Eltern der Eindruck da war, sie haben ein behindertes Kind, ohne das klar ist, was es ist und worum es geht eben dann auch dabei, und ohne dass es halt – ich mein, das war damals Sechziger-, Siebzigerjahre, da war das wirklich noch ein echtes Stigma. Man hat dann auch nicht drüber geredet. Man wollte auch nicht drüber reden. Und ich weiß, es gab dann immer wieder mal Vorstöße auch gerade von den Schulen, zu sagen: Die brauchen da Hilfe, sie brauchen Unterstützung. Haben meine Eltern immer weit von sich gewiesen: Mit unserem Jungen ist alles in Ordnung! Wir brauchen keine Unterstützung! Wenn jemand Unterstützung braucht, dann die Schule! Nä, also so waren dann meine Eltern irgendwie so ein bisschen drauf, vor allen Dingen mein Vater. Und umgekehrt war‘s halt für meine Seite so, dass ich mich halt früher, also gerade in meiner Jugendzeit, die für mich sehr schwierig war, habe ich mich halt sehr alleine gelassen gefühlt, also sowohl in der Schule, als auch von meinen Eltern, von denen ich irgendwie, sag ich mal so nach meinem Empfinden eigentlich so kaum Rückhalt für die Schwierigkeiten hatte. Also, das wurde überhaupt nicht anerkannt, auch nicht erkannt, womit ich da zu kämpfen hatte. Und das hatte dann halt dazu geführt nach meiner Abiturszeit, dass wir uns dann halt sehr auseinandergelebt haben und nur sehr sporadisch Kontakt miteinander hatten. Und die Autismus Diagnose, als es dann halt auch wirklich mal offiziell und so deutlich wurde, das hat uns dann wieder ein bisschen zusammengebracht, weil das vor allen Dingen für meine Eltern anfing, dann so ein bisschen erklärbar zu werden. Nä, also, die haben sich dann halt tatsächlich auch irgendwie – habe ich dann irgendwann im Nachhinein erfahren – dann Rat geholt zu dem Thema und sich dann was erklären lassen zum Thema Autismus, und dann so ein bisschen konnten sie das dann eben auch noch mal anders einordnen. Und das hat dann auch wieder so ein bisschen Türen geöffnet.

Mirjam: Hat das Ihren Selbstwert, Ihr Selbstwertgefühl gesteigert, dass die Eltern sich informiert haben?

Seng: Ähm, weiß ich nicht. Also, ich war ja da schon recht alt und eigentlich sehr gefestigt (lacht), was solche Sachen angeht. Also, das, was für mich halt einfach sehr positiv war – also meine Eltern sind ja beide auch inzwischen gestorben – ist aber, dass ich halt am Ende dann noch mal also wirklich so diesen Kontakt hatte und ich mich auch mit ihnen über sowas auch austauschen konnte, und dass sozusagen nicht diese Kluft, die lange Zeit da war, eben so stehengeblieben ist und dass wir da wieder so ein bisschen zusammengekommen sind am Ende. Das fand ich also schon, war und ist für mich sehr wichtig eigentlich, ja.

Mirjam: Wenn es nicht Ihre Eltern waren, zumindest als Sie jünger waren, die Sie gestärkt haben. Wer war das denn für Sie?

Seng: (Pause) Pfff, also ich bin da sehr viel… Einzelkämpfer gewesen, muss ich sagen. Also, ich hab irgendwie oft… also, ich meine, gut, ich lebe in einer Beziehung, schon sehr lange, inzwischen seit fast 40 Jahren. Mit der Zeit ist auch mein Partner für mich zu ner sehr guten Stütze, zu ner Stärkung geworden. Und was mir tatsächlich auch so ein bisschen Halt gibt, ist einfach auch mein Engagement im Autismus-Bereich. Und auch die inzwischen ja wirklich sehr vielen autistischen Menschen, die ich da kennenlernen durfte, und mit denen ich da so in Kontakt bin. Das ist auch sowas, was für mich auch sehr hilfreich gewesen ist. Aber so, ich sag mal, so die Zeit, wo ich es gebraucht hätte, also gerade auch früher in meinem jungen Erwachsenenleben und auch in meiner Jugendzeit, hab ich mich wirklich alleine durch gekämpft irgendwie. Da war eigentlich sehr wenig, was ich da an Unterstützung gehabt habe.

Mirjam: Und was in Ihrem Inneren hat das dann ermöglicht, dass Sie da heile durchgekommen sind?

Seng: (Pause) Ne gute Frage, ne sehr gute Frage! Weiß ich nicht. Also, ich weiß irgendwie, das kann ich inzwischen sagen, psychisch recht robust bin. Hab inzwischen ja auch einige Krisen durchgelebt eben auch in meinem Leben, wo ich merke: Also ich komm da einfach psychisch auch relativ gut und unbeschadet durch, durch auch schwierige Situationen eben auch durch. Und sicherlich ist das ein Stück weit so ne Konstitutionsfrage bei mir. Ich sag mal, die Kehrseite davon ist, dass ich halt solche Sachen dann auch – und damit hab ich dann halt auch viel mehr zu kämpfen gehabt – bei mir ist sehr schnell körperlich niederschlagen. Also ich werde dann krank, nä? Ich werde nicht depressiv, ich bekomme keine Neurosen, keine Angstzustände oder Ähnliches, aber dafür werde ich halt eben krank. Irgendwo greift einen sowas dann halt am Ende dann irgendwie doch auch an. Und nach einer Zeit ist es halt ein bisschen auch so diese Erfahrung, einfach Krisen auch meistern zu können, was halt einfach auch einem so ne gewisse Stärke.

Mirjam: Und in der Schule? Gab es da den Lehrer oder die Lehrerin, die sie erkannt hat?

Seng: Also in der Schule gab es irgendwie… ähm. Meine Grundschule war noch ganz anders, meine Grundschule war so richtig alte Schule, also so, wie man‘s sich vorstellt, wenn man Filme aus den Fünfziger, Sechzigerjahren sieht. So war meine Grundschulzeit, das war…. schwierig?

Mirjam: Wo war das? Auf nem Dorf oder in der Stadt?

Seng: Ein relativ großes Dorf am Stadtrand von Freiburg. Und was dann irgendwie gut lief, war dann das Gymnasium. Und, ich sag mal, ich hab immer son bisschen so den Vorteil gehabt, dass ich dann, also zumindest in manchen Fächern, also Naturwissenschaften, Deutsch, Fremdsprachen sowas, also diese eher so ein bisschen harten Fächer – die weichen, nä, das dann nicht so mein Ding. Aber da war ich eigentlich immer recht gut, also auch in der Grundschule. Rechnen, Lesen, Schreiben – alles kein Problem. Und auf dem Gymnasium, das so das war ein Gymnasium, was neu gegründet wurde. Und das war sehr klein am Anfang. Und da hab ich halt immer die ganze Gymnasialzeit durch ne Klassenstärke von um die 20 gehabt in der Klasse, ein sehr engagiertes, junges Lehrerkollegium sozusagen, was eben da war, die auch den Anspruch hatten, die Schüler, die da waren, alle mitzuziehen. Und es war, weil’s auch einfach ein kleines Gymnasium war, da kannte jeder jeden. Das war sehr persönlich. Und das hat von daher eigentlich recht gut funktioniert. So dass ich da durchgekommen bin.

Mirjam: Aber interessant, dass gerade die persönliche Sache, Beziehung bedeutet das ja im Grunde, dann für Sie ne gute Umgebung war.

Seng: Ja, einfach um nicht verloren zu gehen. Also, das ist so mein Ding. Weil ich auch einfach so ein bisschen der ruhigere Typ war, auch die Tendenz hatte, mich dann eher so ein bisschen zurückzuziehen. Das wäre, glaube ich, in einer größeren Einrichtung, einer größeren Schule wäre ich so ein bisschen wirklich verschwunden und untergegangen dann auch so ein bisschen. Ich hab das auch später im Studium gemerkt. Ich hab ja dann Mathematik studiert, und es war dann auch ne ähnliche Situation. Das waren dann auch ein relativ wenig Leute, zumindest dann ab dem Hauptstudium. Und ich wäre da auch nie durchgekommen, wenn es da nicht Professoren gegeben hätte, die gesagt haben: Ja, Herr Seng, jetzt, Sie sind doch so gut! Sie verstehen doch alles! Und dann packen wir das doch mal an, und dann machen Sie doch mal ein ordentliches Seminar. Und irgendwie dies und jenes. Von alleine hätte ich das alles nicht hingekriegt. Dann gab’s auch Leute, die einfach, eben weil der Kontext so klein war, man kannte die, die mich da irgendwie so durchgezogen haben dann auch, das war sehr wichtig für mich.

Mirjam: Was wäre denn Ihr Rat an Umfelder, wenn sich an den Strukturen nichts ändern lässt – also meinetwegen Klassengröße, oder – haben Sie da… Sie blasen die Backen auf und sind ratlos?

Seng: Also Schule finde ich ganz schwierig, muss ich ehrlich sagen. Gerade in Sachen Inklusion. Also, ich habe nicht sehr viele Kontakte zu Schulen, aber ab und zu mal, dass ich da mal irgendwo eingeladen bin. Was ich da so mitbekomme, da liegt noch vieles eigentlich im Argen. Und ich finde, da ist es wirklich dringend notwendig – selbst in Förderschulen – also da einfach noch mal sich in einer ganz anderen Art und Weise auch zu öffnen. Ich kenn da schon seit vielen Jahren Leute in Schweden, bin auch oft in Schweden und hab von daher ein bisschen Einblick, wie es dort in den Schulen läuft. Wo ich dann halt auch mitkriege, das macht sich wirklich an Sachen fest wie Benotung. Also, Benotung gibt’s in Schweden, ich glaub, ab der neunten Klasse oder ab der zehnten Klasse, vorher nicht. Ich finde das unverständlich, also auch pädagogisch unverständlich, wie man an sonem Benotungssystem, gerade auch bei jüngeren oder in der Grundschule, überhaupt festhalten kann. Offene Klassenzimmer! Das ist in Schweden selbstverständlich , dass die Schülerinnen, Schüler, die können rausgehen, reinkommen, wann sie wollen. Wenn ihnen der Unterricht irgendwann zu viel ist, dann gehen die einfach raus und haben ihre Spielecken oder sonst irgendwie was. Dass man sozusagen nicht in nem zwanghaften System: Ich muss jetzt eine Dreiviertelstunde sitzen und (lacht) irgendwie was zuhören, arbeiten oder sowas. Dass man da nicht so stark dran festhält. Man hat in Schweden auch viel mehr Bewegungen in den Schulen, gerade auch mit den Jüngeren, ist viel draußen, in Grundschulen in Schweden,. Die Kinder sind da ständig unterwegs, nä, da ist überall Bewegung, die sind am Rumrennen, Rumtollen – es ist so, da gibt es viele Sachen, die im Grunde genommen, wenn man sich das so überlegt, eigentlich so relativ simpel sind, nä, aber auch ein Riesen-Unterschied machen. Und ich glaub da ist wirklich noch viel Luft nach oben, was so die Schulen angeht. Auch das, was ich so mitbekommen habe, so in meinen weiteren Bekanntenkreis, wichtig ist es, ne gute Schule zu finden. Und es gibt einige in meinem Bekanntenkreis, die dann auch manchmal nach wirklichen Odysseen, die sie da mit ihren Kindern durchgemacht haben, zum Schluss gekommen sind: Ich nehme lieber in Kauf, dass mein Kind irgendwie jetzt ne Stunde lang mit dem Bus fährt, um irgendwohin zu kommen, dann aber in ner Schule ist, wo das Kind halt gut aufgehoben ist. Also, so das ist glaube ich auch ein wichtiger Faktor.

Mirjam: Das Wort, was Sie gerade benutzt haben, wie Inklusion funktionieren kann, ist: Die Leute brauchen mehr Offenheit. Das sind ja dann nicht nur die offenen Räume, sondern – das klingt jetzt total pathetisch – aber auch die offenen Herzen.

Seng: Ja! Ja, genau. Auch von der Haltung her offen. Das ist ja nicht nur ein Thema im Autismus-Bereich, immer so wenn bestimmte Vorstellungen, die zu eng gefasst sind, dass man da nicht mehr reinpasst, sondern das trifft ja andere auch. Und so, was ich erlebe, zumindest in Hamburg mitkriege, also das sind ja wirklich noch unglaublich viele Kinder, Jugendliche, die in der Schule letztlich verloren gehen, nä? Muss man mal wirklich sagen. Also in meinem Extrem-Beispiel, was ich mal erlebt habe, der Junge war jetzt nicht im Autismus-Spektrum, der hatte andere Schwierigkeiten, der wurde eingeschult in ner Grundschule und da war das wirklich so, dass nach einer Woche, also muss man sagen nach einer Woche! Wurden die Eltern eingeladen zu nem Problem-Gespräch, und die Klassenlehrerin hat zu Ihnen gesagt: Ja, wissen Sie was, also, ich hab da einen Blick dafür. Es gibt Schüler, die bringen‘s, und es gibt Schüler, die bringen’s nicht. Und ihr Kind bringt es nicht! Punkt! Nach einer Woche. Und das ist halt irgendwie wirklich so das Negativ-Beispiel schlechthin, wo man sagen muss: Nee, nee das ist genau das Gegenteil davon, was es braucht, einfach so diese Offenheit.
Und das ist auch glaube ich auch im Autismus-Bereich was, was häufiger so der Fall ist, dass man autistische Menschen anguckt und sagt: Okay, das geht nicht. Das geht nicht. Das kann er nicht. Das kann sie nicht. Anstatt mal nen Blick drauf zu haben: Was ist denn an Potenzialen da? Was lässt sich denn entwickeln? Dass man einfach mal so ein bisschen auch mal in die Zukunft eben guckt, was alles wie möglich ist. Und, also da kann ich wirklich sagen, so die Erfahrung, die ich gemacht habe, auch bei meinen Projekten: Es ist unglaublich viel möglich! Viel mehr, als sich die allermeisten Leute vorstellen! Da hatte ich auch mal einen jungen Mann ne Zeit lang begleitet, der wollte Rettungssanitäter werden. Und der hat so gut wie gar nicht…. Also, sehr, sehr reduziert gesprochen. Also wirklich so wenig irgendwie, dass selbst in der eigenen Familie so die Vorstellung da war: Der ist irgendwie zurückgeblieben, irgendwie geistig behindert. Ich hab halt schnell gemerkt, das kann‘s irgendwie nicht sein. Weil der einfach so unglaubliche Gedächtnisleistungen und sowas auch hatte, die da überhaupt nicht dazu passten zu so nem Bild. Und was man dann auch bemerkt hat, wenn man sich mal ein bisschen auf ihn eingelassen hatte irgendwie so. Und er hatte sich dann irgendwann mal beworben, dann beim Roten Kreuz in Hamburg. Und ich hatte das gar nicht mitbekommen die Bewerbung, nä, das hat er selbstständig halt gemacht. Ich hab das erst dann mitbekommen, als mich dann die damals stellvertretende Geschäftsführerin in unserem Projekt angerufen hatte und gesagt hat: Ja, da war ein junger Mann. Nä, der wollte sich da bewerben bei uns, und der ist da einfach gekommen und hat kein Wort gesagt! Nä, der hat mir nur seine Unterlagen vor den Latz geknallt und ist dann irgendwann einfach aufgestanden und wieder gegangen. Und aber die Unterlagen, das sah ja eigentlich ganz gut aus. Und die Zeugnisse und Praktikum und bla bla bla. Und da war dann auch die Nummer von unserem Projekt drauf. Und da hat sie gesagt: Also, sie wollte einfach mal wissen, was war das jetzt irgendwie? Und was ist da passiert? Und dann hab ich ihr das so ein bisschen erklärt. Und dann hat sie gesagt: Na gut, dann kommen sie doch das nächste Mal zusammen, dann machen wir noch mal ein Bewerbungsgespräch. Das ist mehr als acht Jahre her, und der junge Mann arbeitet immer noch beim Roten Kreuz.

O-Ton Mirjam:  Das ist ja eine unglaubliche Geschichte!

O-Ton Seng: Nä, also so kann’s dann auch kommen. Aber das ist dann wirklich so ne Haltungsfrage. Dass wirklich jemand, dann, sag ich mal, die Leute eben nicht abschreibt und sagt irgendwie: Was ist denn das? Vergessen wir! Sondern einfach sagt: Ja, da will ich dann doch noch mal nachhaken, doch noch mal nachgucken, dann mal sehen. Also, den Leuten auch n bisschen so ne Chance geben, nä. Und das hat der junge Mann dann auch für sich nutzen können. Und hat er dann auch gemacht und…  ich glaub, die mögen den ganz gerne da, nä. Weil der will. Nä, wenn’s gesetzlich möglich wäre, würde der am liebsten gar keinen Urlaub nehmen. Der ist nie krank, der kommt nie zu spät, und die ganzen Einsätze, die die da machen – der kennt das aus dem F.F. Wirklich jeden Handgriff! Das stimmt bis ins letzte Detail!

Mirjam: Wenn man nach den Klischees geht, dies noch von Autismus gibt, würde man ja vielleicht denken: Ist doch viel zu stressig, viel zu viele unvorhergesehene Ereignisse!

Seng: Für ihn nicht. Aber da gibt’s halt Unterschiede. Das ist auch was, was häufig so nicht, vielleicht nicht so beachtet wird oder erst so langsam so ein bisschen durchsickert, dass ist halt, autistische Menschen sind da halt nicht alle gleich. Da gibt’s halt Unterschiede. Für ihn ist es kein Problem. Also er ist da unglaublich stressresistent, und ich kann auch sagen, also der macht, der hat ne 42-Stunden-Woche, der macht Überstunden unter der Woche, der macht freiwillige Sondereinsätze, nä, wenn da mal ein Fußballspiel oder irgendwas ist in Hamburg am Wochenende noch mit dazu. Das ist so sein Ding. Da blüht er auf. Das ist für ihn kein Thema. Nä also so, für ihn wär‘s ne Strafe, wenn man da die Arbeitszeit reduzieren würde. Es gibt natürlich autistisch Menschen, für die ist das ganz anders. Also, das muss man auch sehen. Aber da gibt’s halt einfach diese Unterschiede, und da ist es halt auch wirklich dann mal individuell einfach mal zu gucken: Was passt zu wem? Was funktioniert mit wem? Ich hab auch mal einen jungen Mann mitbekommen, der ne Ausbildung gemacht hat in einem Berufsbildungswerk und dann hinterher dann auch in ne Arbeitsstelle vermittelt wurde. Und die haben da in dem Betrieb nur in Großraumbüros gearbeitet, und weil da jetzt ein autistischer Arbeitnehmer dazu kam, haben sie gesagt: Ja dann müssen wir jetzt ein Einzelbüro eben machen. Nä? Und haben dann extra ein Einzelbüro gebaut für den. Das hat er dann zwei Wochen lang mitgemacht, und dann wollte er auch wie die anderen im Großraumbüro arbeiten.

Mirjam: Sie haben vorhin gemeint, dass Ihnen als Schüler die weichen Fächer nicht so lagen. Und jetzt sind Sie – Sie sind ja Mathematiker, haben das auch zu Ende studiert – und was Sie jetzt machen, ist aber ja im Grunde das Weiche, das Soziale, dass Sozial-Pädagogische.

Seng: Ja.Ja, das ist so. Also, die weichen Fächer, ähm, das sind dann insbesondere das, was mir auch immer noch so ein bisschen schwerfällt, sind dann Fächer, wo es dann darum geht, irgendwie dann irgendwas zu argumentieren und – nä, also jetzt Politik oder, keine Ahnung, Gemeinschaftskunde oder irgendwie sowas – wo dann irgendwie nicht so klar ist: Was ist jetzt so der Fokus? Worauf soll ich das irgendwie dann so richten? Ich habe jetzt in Rehabilitationspädagogik, wie sich das so schön nennt, hab ich ja auch promoviert, auch meine Doktorarbeit geschrieben. Die theoretischen Teile sind mir da auch ziemlich schwergefallen, einfach auch deswegen, weil mir nicht so richtig klar war: Worum geht’s hier eigentlich? Was wollen die jetzt eigentlich wissen? Was ist eigentlich wichtig? Was ist nicht so wichtig? Na, hab ich irgendwie auch nicht so richtig doll hinbekommen.
Was ich tatsächlich auch mit meiner Tätigkeit hier im Autismus-Bereich mache, das ist sowas, das hab ich so ein bisschen für mich entdeckt, als ich in der Behindertenhilfe gearbeitet hatte früher. Dass ich halt eben auf, sag ich mal, so einer sehr grundlegenden Ebene, so ein sehr… na, so ne gewisse Sensibilität, sag ich mal, hab auch in der Kommunikation. Also, ich sag mal, vieles von dem, was ich mache, ist geprägt von der Zeit. Ich hatte zwei Jahre lang in einer Tagesförderstätte für schwerst mehrfachbehinderte Jugendliche gearbeitet. Die haben alle nicht gesprochen, also wirklich sehr schwer behindert, wo man irgendwie auch nicht wusste, was geistig, intellektuell da ist. Ich hab auch Leute dabei gehabt, wo man auch nicht wusste: Können die jetzt sehen? Können die nicht sehen? Hören die was? Hören Sie nichts? Das war so ein Ort, wo ich dann einfach diese, sag ich mal, sehr basale Art von Kommunikation dann auch für mich kennengelernt habe. Wo ich gemerkt habe: Da passiert sehr viel auf so ner kommunikativen Ebene. Da passiert sehr viel auch, nä, auf so ner Beziehungsebene. Was so weit weg von allem Sprachlichen oder sowas eben auch ist irgendwie. Und das ist sowas, was ich jetzt so in meiner Tätigkeit jetzt auch mit autistischen Menschen halt auch merke, dieses Gespür ist auch sehr schnell da und oft auch, sag ich mal, gegenseitig, dass man dann merkt: Da gibt’s so ne Kommunikationsebene, das hat mit Sprache, nä, mit all dem irgendwie eigentlich gar nichts zu tun, sondern man spürt sich, man nimmt sich irgendwie wahr. Also, da hab ich, einfach auch, ne, glaub ich, recht hohe Sensibilität für sowas. Und das ist so, so die Seite, die ich da halt eben auch mit ein Stück weit ausleben kann.

Mirjam: Es wird hier immer vollen, weil ein großer Vortrag geendet hat, direkt hier neben uns, und die Leute aus dem Saal strömen.

Seng: Äh, ja.

Mirjam: Also, ich erlebe Sie als total fokussiert. Also wir sind ja die ganze Zeit…

Seng: Muss ich ja auch sein, weil sonst würde ich Sie nicht verstehen. (lacht)

Mirjam: Ja, ja, wahrscheinlich.

Seng: Und das strengt mich auch sehr an.

Mirjam: Dann machen wir jetzt gleich auch mal Schluss. Im Unterschied zu Ihnen hab ich ja Kopfhörer auf und höre nur Ihre Stimme und nicht die ganze Tohuwabohu um uns herum. Vielleicht können Sie einmal zusammenfassen, was Sie hier gerade anstrengt?

Seng: Also, was mir sehr schwerfällt, ist tatsächlich aus diesem ganzen, dem was ich drumherum – also, ich kriege dieses Gespräch mit zum Beispiel, ich krieg das Gespräch daneben dran mit, ich krieg sogar von dahinten, nä, also da kommen überall Gesprächsfetzen an. Und wenn ich da jetzt irgendwie nicht wirklich ganz konzentriert mich nur auf das fokussiere, was Sie jetzt zum Beispiel sagen, dann hätte ich jetzt so ne Art Collage. Wo ich dann aus den Gesprächen Fetzen bekomme – son bisschen was von Ihnen, kommt ein bisschen was von dort, kommt ein bisschen was von da, und das ist dann was, was im Endeffekt keinen Sinn mehr ergibt, sondern wirklich eine Gesprächsfetzen-Collage. Und was mir sehr schwerfällt, ist tatsächlich, die anderen Sachen runter zu regulieren. Also das ist für mich kein Hintergrundgeräusch, sondern das konkurriert alles wirklich auf gleicher Ebene mit dem, was sie da halt machen – und eigentlich auch mit meiner eigenen Stimme sozusagen, also mit dem, was ich auch selber rede. Also das ist so das was für mich irgendwie – ja, so nehme ich die Situation jetzt gerade hier wahr.

Mirjam: Wir haben in unserem Podcast so ein Motto, unser Wunsch ist, wir möchten die Welt autismusfreundlicher machen. Was wünschen Sie sich von der Welt?

Seng: Da könnte ich jetzt auch eine ganz lange Liste aufzählen von Sachen im Alltag, wo ich mich immer so ein bisschen dran störe. Aber ich denk, gut, dass ist immer so, ja? Irgendwie das geht auch nicht-autistischen Menschen so, dass sie sich an der ein oder anderen Sache stören. Aber was ein wichtiger Aspekt ist? Es ist einfach so auf dieses Thema Offenheit, also immer so eine Offenheit zu haben, auch andere Menschen wahrzunehmen. Ich hab das Glück, tatsächlich seit einiger Zeit bei einem Arbeitgeber beschäftigt zu sein, in Hamburger Uni Bibliothek, wo so eine Offenheit einfach auch ein bisschen gelernt, gelebt wird. Was so ein bisschen damit zu tun hat, dass eben dieses Bibliothekarische, in diesem universitären Kontext ist es dann noch mal ein bisschen stringenter irgendwie als jetzt in den öffentlichen Bibliotheken. Dieses Bibliothekarische ist halt auch sehr eigen, und es zieht auch sehr eigene Leute an. Das ist so ein Feld, wo man auf viele Menschen trifft, die auch so in der ein oder anderen Weise so ein bisschen aus dem Rahmen fallen. Und ich hab Bibliothek als einen Ort kennengelernt, wo man einfach einen guten und produktiven Umgang mit sowas nach auch einfach hat. Banales Beispiel: Ich hatte mal nen Kollegen, der hatte so Teambesprechungen nicht gut vertragen. Da hat er immer Tobsuchtsanfälle bekommen und war da richtig aufbrausend und schrie die Leute an und ging dann raus und Türenknall. Und dann musste er sich erst mal beruhigen und hinterher wieder entschuldigen. Und dann hat man irgendwann gesagt: Naja gut, wenn er das nicht so verträgt, dann muss er ja auch nicht teilnehmen. Dann finden wir da ne andere Lösung dafür. Und das war dann – man ist da einfach mit umgegangen irgendwie. Warum nicht?

Mirjam: Wenn jetzt fertig – also, wir machen jetzt Schluss, verabschieden uns voneinander und dann gehen Sie jetzt, suchen Sie dann jetzt Ruhe? Oder was machen Sie jetzt, um vielleicht davon wieder Abstand zu gewinnen?

Seng: Also, ich habe das Privileg gerade als Referenz quasi hier gleich nebenan, mit im Hotel eingebucht zu sein, d.h. ich kann mich da auch wirklich gut zurückziehen. Das hab ich mir vorgenommen für nach der Mittagspause. Ich muss mal gucken, ob ich so lange durchhalte. Und ja, das werde ich so machen. Ich werd von den Vorträgen – es sind einige spannende dabei, hatte mir eigentlich auch vorgenommen, mir die einen oder anderen anzuhören – aber das ist irgendwie klar, ich werde da kaum was mitnehmen davon. Im Gegenteil, ich werde mich heute den Tag über gut pflegen müssen, um der Erwartung von Frau Kaminski nachzukommen und heute Abend beim gemeinsamen Essen irgendwie auch noch mit dabei zu sein.

Mirjam: Der Vorsitzenden von Autismus Deutschland.

Seng: Der Vorsitzenden von Autismus Deutschland.

Mirjam: Herr Seng, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Und das war ja jetzt für uns beide hier echt ne Kraftanstrengung.

Seng: Ist aber ja okay. Ja, Danke auch. Und wenn der mal online ist, der Podcast, geben Sie mir gerne Bescheid. Ich höre mir das gerne an.

Mirjam: Vielen Dank. Tschüss.

Outro

Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)

Sprecher: Das war Spektakulär – Eltern erkunden Autismus

Mirjam: Unsere Kontaktdaten und alle Infos zu unseren Folgen findest du in den Shownotes auf unserer Seite spektrakulaer.de.

Sprecher: Der Podcast aus dem Martinsclub Club Bremen.

Musik-Ende

Sprecher: Gefördert durch die Aktion Mensch

Nach oben scrollen