Jutta Birck im Podcast Studio

Folge 19

Fördern, fordern, sein lassen

Mit Jutta Birck, Mutter mit ADHS, Ergotherapeutin und Job-Coach

Erscheinungstermin: 19.08.2025, Autorin: Mirjam Rosentreter

Vorweg ein paar Hinweise: In unserem Podcast reden wir über Dinge, die vielleicht bei euch etwas anstoßen. Bitte beachtet:

Unsere Gespräche geben persönliche Erfahrungen wieder und erfüllen keinen wissenschaftlichen Anspruch. Das Hören oder Lesen unseres Podcasts ersetzt keinen Besuch in einer Praxis oder Beratungsstelle. Fühlt euch ermutigt, offen auf Menschen in eurem Umfeld zuzugehen. Oder sprecht Fachleute in eurer Nähe an.

Rückmeldungen könnt ihr über hallo@spektrakulaer.de an uns richten. Oder ihr kontaktiert uns auf unserem Instagram-Kanal @spektrakulaer_podcast. Gerne versuchen wir auf Themen einzugehen, die Euch interessieren. Persönliche Fragen zu Diagnostik oder Therapie können wir leider nicht beantworten.

Im folgenden Abschnitt haben wir für euch unsere Sprachaufnahme transkribiert, also verschriftlicht. Als Text aufgeschrieben ist gesprochene Sprache nicht immer ganz korrekt und eindeutig verständlich. Das Manuskript entspricht auch nicht einem journalistisch überarbeiteten Interview.

Dieser Podcast ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt.

Wenn ihr uns oder unsere Gäste irgendwo zitieren wollt, bleibt fair: Achtet auf den Gesamtzusammenhang und denkt bitte immer an die Quellenangabe.

Im Zweifel gilt die schöne alte Regel: Lieber einmal mehr nachfragen.

Vielen Dank für eure Neugier und euer Verständnis!

Mirjam & Marco

Transkript zu Podcast Folge 19, erschienen am 19.08.2025,

mit Jutta Birck und den Hosts Mirjam Rosentreter: und Marco Tiede:

Autorin: Mirjam Rosentreter:

Hinweis: Der Text wurde behutsam redaktionell überarbeitet. Ziel ist es, das spontane Gespräch möglichst natürlich wiederzugeben. Deshalb dürfen sprachliche Ungenauigkeiten bleiben. Damit sich der Text leichter lesen lässt, ist die Zeichensetzung angepasst. Sie berücksichtigt die Sinneinheiten und Pausen, wie sie im Mündlichen typisch sind. Das heißt: Statt langer Bandwurmsätze gibt es öfter mal einen Punkt. Oder auch drei, wenn jemand kurz nachdenkt oder nach den richtigen Worten sucht. Dann kann ein angefangener Satz auch mal einfach ab… Und nun, viel Freude beim Lesen!

Intro

Musik

Sprecher: Spektrakulär. Eltern erkunden Autismus.

Mirjam Rosentreter: Hallo, mein Name ist Mirjam Rosentreter. Ich bin Journalistin, Mutter eines Sohnes im Autismus-Spektrum. Und ich mache das hier nicht alleine. Bei mir ist Marco Tiede.

Marco Tiede: Moin! Ich bin auch Vater eines Jungen im Spektrum. Und ich arbeite als Therapeut und auch als Berater.

Mirjam Rosentreter: Es gibt zu dieser langen Version unseres Podcasts auch eine kurze, den Kurz-Pod. Ein Manuskript zu dieser Folge findet ihr auf unserer Seite spektrakulaer.de.

Sprecherin: Heute mit Jutta Birck, Mutter mit ADHS, Ergotherapeutin und Jobcoach.

0:00:45

Mirjam Rosentreter: Hallo, herzlich willkommen heute mal wieder zu einer Elternfolge. Wir sitzen hier zusammen mit Jutta.

Jutta Birck: Hallo.

Marco Tiede: Moin.

Mirjam Rosentreter: Wir kennen sie schon ziemlich lange. Weil sie seit sehr vielen Jahren bei uns im Elternkreis dabei ist. Vielen Dank, Jutta, dass du dich heute so spontan bereit erklärt hast, mit uns zu sprechen.

Denn aus privaten Gründen ist unsere eigentliche Verabredung kurzfristig ausgefallen. Ich habe mir überlegt, dass ich mit euch beiden über das Thema Selbstbestimmung sprechen möchte.

Marco Tiede: Selbstbestimmung.

Mirjam Rosentreter: Wie wir die Selbstbestimmung unserer Kinder fördern. Wie es mit unserer eigenen aussieht.

Jutta Birck: Das ist ja auch mit meinem Job: Einen eigenen Job zu haben, ist ja auch ganz viel mit Selbstwirksamkeit.

Mirjam Rosentreter: Weil du ja beim Martinsclub Bremen, wo auch unser Elternkreis und unser Podcast beheimatet ist, arbeitest. In dem Bereich „Selbstverständlich Arbeit“.

0:01:48

Mirjam Rosentreter: Von Haus aus ist Jutta Ergotherapeutin.

Und Mutter. Von Haus aus (schmunzelt), klingt auch in diesem Zusammenhang komisch. Mutter von, ich glaube, drei Söhnen. Davon hat einer eine Autismusdiagnose.

Jutta Birck: Richtig.

Mirjam Rosentreter: Und du sagtest, du hast ja vor einiger Zeit selber auch eine Diagnose aus dem Neurodivergenz-Bereich bekommen: ADHS.

Jutta Birck:  Ja. Und meine Jungs bewegen sich da munter. Also wir sind insgesamt eine neurodiverse Familie. Würde ich einfach mal sagen.

Mirjam Rosentreter: Neurodivers sind wir ja alle.

Marco Tiede: Erinnert euch an die Schneeflocken: Jede Schneeflocke ist anders. So à la Zimpel.

Mirjam Rosentreter: André Frank Zimpel hatte das erklärt. Also jeder, alle Menschen sind neurodivers. Aber die Gruppe der Menschen, die Neurodivergenzen hat, wozu Autismus zählt, ADHS, Lese-Recht-Schreibschwäche. Ergänzt gerne, was euch noch einfällt.

Jutta Birck: Hochbegabung ist, glaube ich, auch noch, ne? Da sind wir munter mit in diesem Spektrum drin.

Marco Tiede: Anästhesie, Tourette.

Mirjam Rosentreter: Und mit dir, Jutta, vertiefen wir einfach das Thema, das Marco und mich und dich sowieso immer beschäftigt.

Marco Tiede: Dukannst ja vielleicht nochmal den Titel unseres Workshops dazu nennen.

0:03:04

Mirjam Rosentreter: Wie werden autistische Kinder, selbstbestimmte Erwachsene? Eltern in der Vermittlerrolle.

Wann hast du dich das erste Mal in so einer Vermittlerrolle gesehen bei deinem Sohn? Reden wir jetzt mal über den, bei dem die Autismusdiagnose vorliegt.

Jutta Birck: Ja, schon auf dem Weg zur Diagnose. Also Vermittlerrolle im Sinne, da ist jetzt irgendwie eine Diagnose notwendig. Weil, ihm geht es gerade schlecht. Wir hatten lange Zeit, war es halt immer so: Ja gut, irgendwie anders. Aber was jetzt genau, war uns allen auch nicht klar. War auch nicht wichtig. Weil, es war ja in Ordnung. Es lief ja. Und das, wo es nicht so gut lief, das haben wir irgendwie hingekriegt.

Aber dann war ein Punkt, wo es halt nicht mehr in Ordnung war. Wo er Probleme hatte zurechtzukommen. Wo im Grunde alles so ein bisschen zusammenbrach. Also vor allem auch in der Schule. Dann mit dem Schulwechsel von der Grundschule zur weiterführenden Schule.

Und da war dann irgendwie klar: So, jetzt brauchen wir eine Diagnose. Wir müssen irgendwie gucken: Was ist los?

Zu dem Zeitpunkt hatte ich als Assistenz in Schulen gearbeitet und hatte eine autistische Schülerin. Und die Lehrerin hatte mir dann Informationsmaterial gegeben. Und ich lese das und denke so: Upps, da kann ich Häkchen hintersetzen bei meinem Sohn! Und dann war plötzlich klar: Okay, in die Richtung geht das.

Aber bis es dann zur Diagnose kam, das war schon ein Hindernisparcours.

0:04:55

Marco Tiede: Also da hast du dann quasi diese Vermittlungsleistung erbracht. Von dem Leidensdruck, der entstanden ist bei deinem Kind selbst, zur Außenwelt.

Also ich erinnere mich ganz gut: Bei meinem Sohn war es ja oft das Vermitteln von erstmal nicht so ganz nachvollziehbaren Verhaltensweisen gegenüber Verwandtschaft. Großeltern zum Beispiel, die sagten: Ja das geht ja so gar nicht! Oder? Und wir: Naja, doch schon, geht! Aber das ist dann so, wie es ist.

Mirjam Rosentreter: Was waren denn Sätze, die du dir da anhören musstest?

Jutta Birck: Also Verwandtschaft war eigentlich gar nicht so dramatisch. Aber so teilweise von außen dann. Wenn ich halt gesagt habe: So spontane Planänderungen sind immer ziemlich schwierig. Muss man klare Worte machen und klare Ansagen, dann läuft das schon! – Also ja, dann fügt er sich. Aber dass er damit zurechtkommt, heißt das noch lange nicht. Und das, was es mit ihm macht, die Anstrengung, die das alles verursacht, die wirst du nicht mehr mitkriegen. Die ist am Ende des Tages!

Und genauso ist es mit Ausbrüchen, Zusammenbrüchen. Die passieren zu Hause. Das kriegt keiner mit. Er ist hochmaskierend und vielfach höre ich eigentlich dann: Hä, wo ist der denn, Autist? Hä? So nach dem Motto: Dann, ja, also, dann bin ich auch Autist! Oder so: Ja, was ist denn das? Wie habt ihr, seid ihr darauf gekommen?

So und wenn ich dann Beispiele nenne, dann ist irgendwo bei allen dann: Ja das habe ich ja auch! Dann wäre ich ja auch Autist! Oder: Ja, dann bin ich auch ein bisschen autistisch. Oder irgendwie solche Sprüche kommen halt ganz häufig.

Und man dann sagt: Ja, das ist ja nicht nur das eine. Es ist eine Zusammenfassung von mehreren Symptomen. Und man muss halt einfach mindestens eine Anzahl – ich weiß jetzt gar nicht, wie viele es genau sind –Häkchen hintersetzen. Um zu sagen: Okay, dann kann die Diagnose gestellt werden. Es ist nicht ein einzelnes autistisches Symptom. Sondern es ist immer eine Vielzahl, was zusammenkommen muss. Weil das ist halt die Art der Wahrnehmung, die anders ist. Und auch die Aufnahme von Reizen, Reizverarbeitung. Und wenn das alles zusammenkommt, dann kann die Diagnose gestellt werden.

Und einzelne Dinge, ja, die findet man bei sich auch. Das war das Erste, was bei der Ausbildung uns beigebracht worden ist. Als wir in Psychologie dann den Unterricht gestartet haben: Dass wir darauf achten sollen, dass jeder Mensch Anteile von den verschiedenen Erkrankungen in sich trägt. Und wenn wir die jetzt behandeln und man entdeckt dann so: Oh ja, da reagiere ich ja auch so ein bisschen in die Richtung mal. Oder da. Dass man dann nicht automatisch depressiv, schizophren oder irgendwie was anderes ist. Sondern dass jeder irgendwo so Anteile davon in sich hat.

0:08:27

Marco Tiede: Interessant ist ja auch, dass dann diese Begrifflichkeit der Erkrankung so verankert ist. Dass das eben in den Ausbildungen so vermittelt wird. Weil das ja Zustände sind. Oder auch strukturelle Persönlichkeitseigenschaften. Die krankheitswert haben können, also die pathologische Auswirkungen haben können. Aber die aber auch so ausgestattet sein können, dass sie noch nicht krankheitswert in dem Sinn haben. So hat es ja Tebartz  van Elst mal ganz schön erklärt in seinem Strukturmodell. Und das ist ja eher das, womit wir versuchen, einen Umgang zu finden.

0:09:05

Jutta Birck: Ich bin da auch total mit drin! Was ich als Therapeutin schon immer gesagt habe, ist: Die Strukturen, die sind da. Aber das heißt nicht, dass ein Leidensdruck da sein muss. Und eine Therapiebedürftigkeit ist immer erst dann gegeben, wenn ein Leidensdruck entsteht. Und irgendwo der Wunsch nach Hilfe da ist.

Das heißt nicht, dass eine Struktur, wenn sie schon erkannt wird, nicht auch hilfreich im Alltag sein kann. Auch ohne größeren Leidensdruck. Schon allein um zu wissen: Darum reagiere ich so in einigen Situationen. Oder empfinde ich Dinge anders. Oder sehe ich andere Dinge als die meisten anderen Menschen, wenn ich irgendwo hinschaue. Auch wenn sie jetzt da keinen großen Leidensdruck haben und grundsätzlich zurechtkommen. Aber immer so ein Tucken außen vor sich fühlen.

Und das kann halt auch so ein Gefühl von nicht richtig sein hervorrufen. Und da ist es dann schon hilfreich. Einfach zu gucken, auch wenn man vielleicht dann keine offizielle Diagnose hat, aber dann zu gucken: Ah, okay! Ich bin vielleicht dann auch im Spektrum. Dass die Wahrnehmung irgendwie eine andere ist. Einfach, um sich selber zu verstehen. Und vielleicht auch in bestimmten Situationen besser für sich sorgen zu können.

Und wenn man Dinge gerne machen möchte, sie einen aber dann auf eine gewisse Weise anstrengen: Was weiß ich, ich möchte gerne auf diese Party gehen. Weiß aber, das strengt mich unglaublich an. Dass ich dann einplane: Okay, der nächste Tag ist aber dann zum Entspannen und ruhig. Und da kommt keiner vorbei. Und da kann ich gut wieder zu mir finden.

Und da ist es halt wichtig, sich selber zu erkennen und selber zu sehen, wie man tickt eigentlich so.

Mirjam Rosentreter: Das ist ja jetzt dann eher die Auseinandersetzung mit den eigenen Bedürfnissen für jeden Menschen. Der vielleicht auch schon erwachsen ist. Und ich würde gerne nochmal schauen… Möchtest du noch was ergänzen?

0:11:39

Jutta Birck: Ja. Nein, also das ist nicht nur. Es ist halt auch etwas, wo ich als Mutter häufig auch übersetzen musste, wo die Bedürfnisse sind. Und was dann da – weil er ja auch sehr hochmaskierend ist – und dann zu sagen: Ja, es ist trotzdem anstrengend. Oder gerade deswegen! Wegen diesem Maskieren ist es halt auch unglaublich anstrengend. Und das muss man ja auch dann transportieren und erklären. Und damit dann Brücken bauen zum Verständnis, warum manchmal Reaktionen so und so sind.

Marco Tiede: Ist also erstmal die andere Wahrnehmungsverarbeitung ja anstrengend. Und die Maskierung obendrauf ja auch noch anstrengend.

Jutta Birck: Richtig.

Mirjam Rosentreter: Wie hast du das denn intuitiv gemacht, bevor klar war, dass es bei euch in der Familie überhaupt um dieses Thema geht? Also als die Kinder noch jünger waren?

Jutta Birck: Davor wusste ich halt auch: Wir haben ein Thema Hochbegabung in der Familie, wir haben ADHS. Auch wenn ich die offizielle Diagnose recht spät bekommen habe, weiß ich von mir halt das schon, seit ich in der Ausbildung war. Also 1995, glaube ich, habe ich es erfahren. Für mich selber. Aber dass diese Themen bei uns mit reinspielen, das war ja schon vorher immer klar. Und von daher war es von vornherein eher so, dass man dann immer geguckt hat, wie kriegt man es trotzdem hin. Und wie kann man unterstützen.

Als mein Jüngster dann in der Grundschule war, war er halt auch in einer inklusiven Klasse. Was es wiederum leichter gemacht hat. Weil die Lehrerinnen waren ja schon im Grunde mit diesem Thema, dass man manchmal andere Wege gehen muss, um zum Ziel zu kommen, einfach schon so mit beschäftigt. Und so haben sie auch Wege gefunden, dass er Arbeitsblätter einfach auf dem Flur bearbeiten durfte. Weil er ständig abgelenkt war in der Klasse und die in der Klasse einfach nicht machen konnte. Und da war dann einfach die Lösung: auf dem Flur sitzend. Und dann klappte das.

Marco Tiede: In der Hoffnung, dass der Flur dann auch leise ist. Das ist ja auch nicht in jeder Schule gegeben.

0:14:18

Mirjam Rosentreter: Wie war denn in der Grundschulzeit bei euch zu Hause die Stimmung nach der Schule?

Jutta Birck: Das war halt ja im Grunde… Hausaufgaben war immer ein Drama. Nach der Schule dann sich nochmal hinzusetzen und die Hausaufgaben zu machen? Das ist halt dann auch eine unglaubliche Anstrengung.

Mirjam Rosentreter: Wie bist du mit diesem Druck umgegangen? Den du ja vielleicht auch selber gespürt hast? Also was hast du dann gemacht, um deinen Kindern zu vermitteln: So jetzt kommt erstmal alle an. Hier seid ihr in Sicherheit. Und jetzt nicht alle aneinandergeraten.

Jutta Birck: Es hat jeder ein eigenes Zimmer. Das ist ja nicht immer unbedingt selbstverständlich. Aber es war für uns von vornherein auch etwas, was sehr wichtig war. Und dass jeder so seinen Rückzugsort hat, wo er auch dann sicher ist.

Und ja, ich merke natürlich – nicht immer perfekt, aber größtenteils – merke ich, wie angespannt es ist. Und auch bis heute frage ich einfach: Wie sieht’s aus, was brauchst du? Erstmal eine Stunde ins Zimmer und dann nichts. Oder nur das, was die halt dann selber für sich entscheiden. Und dass man dann halt nur ganz kurz klärt, was ist jetzt dran? Brauchst du jetzt erstmal Rückzug oder können wir jetzt das und das machen. So dass sie halt eine Möglichkeit haben, erstmal runterzukommen.

Mirjam Rosentreter: Hast du nicht mal im Elternkreis erzählt, dass du irgendwann mit deinem autistischen Sohn die Verabredung hattest: Wenn er auf dem Weg nach Hause, wenn ihm da irgendwas Stress bereitet, er hat den Bus verpasst oder sowas, dass er dir eine Nachricht schickt? Um erstmal diesen Frust loszuwerden?

Jutta Birck: Also das ist generell. Wenn er unterwegs ist, ich bin immer erreichbar. Ich hatte das Glück, dass ich tatsächlich immer auch beruflich so in einem Umfeld war, wo das immer akzeptiert wurde. Dass er mich jederzeit anrufen darf. Und das hat ganz viel Druck genommen.

Es ist ja immer: Diese ganzen Reize oder diese unvorhergesehenen Dinge, das baut sich ja auf. Und irgendwann ist dann nur eine Kleinigkeit. Und das Fass läuft über. Und dann ist diese Überreizung da. Dann kommt es zum Meltdown. Diesen Druck, der sich da aufbaut, regelmäßig zu reduzieren. Da hatten wir halt einfach die Vereinbarung, dass er jederzeit anrufen kann, wenn irgendwas ist. Auch schon auf dem Hinweg zur Schule könnte das dann sein. Mal eben: Ja, Bus hat Verspätung. Oder irgendwas, was auch immer. Das sind dann so Kleinigkeiten, die dann helfen, einfach das dann wieder loszulassen. Den Druck abzulassen, den das aufgebaut hat. Um dann leichter allein in die Schule zu gehen. Und auch wenn dort irgendwas war oder auch jetzt jederzeit noch.

Also mittlerweile, es hat sich jetzt verändert. Das war früher häufiger nötig. Jetzt ist es so, dass es aufschiebbar ist und es dann später erzählt werden kann.

Aber ich hatte jetzt das Erlebnis auch gehabt in einer Schule: Dass ein Schüler dann eine Nachricht bekommen hat, dass etwas nicht stattfindet. Und sich da ganz großer Druck aufgebaut hat. Und er hatte auch sofort das Bedürfnis: Ich möchte Papa anrufen! Das ging aber zu dem Zeitpunkt nicht. Und da war meine Idee spontan: Vielleicht eine Nachricht schreiben? Schreib das auf für Papa. Und dann kannst du ihm das später mitteilen. Um diesen Druck loszuwerden. Um das zu verarbeiten. Dass vor allem, wo er sich darauf gefreut hat. Dass dann plötzlich jetzt nichts stattfindet. Und dass der ganze Plan, alles Vorhersehbare ist in Luft aufgelöst. Und das führt ja zu einem ganz großen Stress. Dass da eine Möglichkeit ist, das zu verarbeiten. Dann Druck abzulassen. Dass der Schüler dann nicht sofort in den Morgenkreis muss nach so einer Nachricht, sondern das erstmal für sich sortieren kann. Da braucht es viel Aufklärung, viel Übersetzungsbedarf auch.

0:19:27

Marco Tiede: Die Vermittlungsarbeit in den Institutionen ist ja nochmal ein anderes Gebiet. Aber dieses Kurznachrichtschreiben: Scheiße, Bus ist weg. So, du kannst schreiben: Ahja, ärgerlich! Ist das etwas, was ihm hilft, damit er dann nicht mit so einem hochexplosiven Paket wieder nach Hause kommt? Dass er sich schon mal was vorausschicken kann, sagen kann: Das nervt, das ist anstrengend, das ist hilfreich?

Jutta Birck: Auf jeden Fall. Das hat uns, denke ich, vor einigen Meltdowns bewahrt. Wobei halt andere das gar nicht so machen können. Also, da muss man halt immer sehr individuell gucken.

Aber Situationen, wo ich mich sehr gut dran erinnere. Die halt tatsächlich einen richtig großen Unterschied gemacht haben, in dem Moment, wo wir wussten, dass Autismus da mit reinspielt. Einfach so die Situation abends beim Tischdecken. Warum legt er sich auf den Boden? Und verweigert sich quasi? Warum kann er das nicht so wie die Brüder mit dem Tischdecken? Was ist denn da? Wenn er gefragt hat: Ja was soll ich denn decken? Und ich in der Küche stand und nicht den ganz direkten Blick auf den Tisch hatte und dann gesagt habe: Ja guck was fehlt und pack das drauf. Das war natürlich die totale Überforderung!

Ich wusste es zu dem Zeitpunkt noch nicht. Aber so im Nachhinein tut es einem dann irgendwo leid. So überfordernde Sachen gesagt zu haben. Aber man kann ja immer nur agieren auf der Basis von dem, was man weiß. Und ja, in dem Moment, wo es dann klare Anweisungen gegeben hat: Deck das Besteck. Oder: Deck die Teller. Oder: Wisch den Tisch ab. Irgendwas. So von dem Zeitpunkt an war das kein Problem mehr.

0:21:33

Marco Tiede: Und da geht es dann ja wieder um die Frage der Eindeutigkeit. Ich habe das mal bei Bekannten gesehen, die ich besucht habe. Und die hatten sich Listen aufgehängt mit Zuständigkeiten. Und da stand genau drauf, wer wo ist wofür zuständig. Und wer hilft wem wobei. Das war sehr detailliert. Das war auch eine Familie mit neurodivergenten Kindern, mutmaßlich. Und die Idee fand ich sehr charmant.

Jutta Birck: Fand ich auch immer total cool. Hat bei uns irgendwie nie geklappt, dass wir das hingekriegt haben (schmunzelt).

Marco Tiede: Das ist ja bei uns genauso gewesen. Wir haben es auch nicht so eindeutig zuordnen können. Aber es war so eine Idee, die ich gut fand. Das darf natürlich jeder für sich probieren, was funktioniert für wen, wie. Weil Menschen sind ja nun mal, wie wir feststellten, sehr individuell. Und für die einen funktionieren solche Listen. Für die anderen brauchst du halt immer diese direkte Ansage. Whatever.

0:22:30

Jutta Birck: So Aufgabenverteilung, dann, wer hilft womit, hat sich dann doch auch sehr stark daran orientiert, wer was dann auch gut kann. Also dass irgendwie Aufgaben, wo viel Gewusel ist: Die würde ich jetzt ihm nicht zumuten. Aber irgendwie zum Beispiel mit Staubsaugen. Das wird sehr gründlich gemacht! Das weiß ich. Das sind dann so Aufgaben, die kann ich ihm dann gut übertragen. So habe ich unterschiedliche Aufgaben für jedes Kind. Also nicht jeder macht die gleichen Aufgaben, weil, ja, die können halt unterschiedlich gut bestimmte Sachen. Und von daher ist es logisch, dass ich dann sage: Der hilft dann bei dem. Und der andere bei dem. Und der Dritte bei den anderen Sachen.

Marco Tiede: Frage zum Staubsaugen: Nutzt er dann Gehörschutz, Geräuschminderung. Oder kann er pur saugen (schmunzelt)?

0:23:33

Jutta Birck: Der Staubsauger ist nicht ganz so laut. Aber das kann er tatsächlich so. So Gerätegeräusche sind nicht problematisch. Das ist vorhersehbar. Das ist gar nicht so schwierig.

Viel schlimmer sind unvorhersehbare Geräusche. Oder Sachen, die auf einen einstürzen. Die man nicht irgendwo vorausbestimmen kann. Also wenn im Klassenraum zum Beispiel auch mit den vielen unterschiedlichen Geräuschen: Dann ist draußen, fährt ein Auto vorbei, da ist ein Vogel, der singt, dann kramt jemand nach einem Taschentuch

Marco Tiede: Die Vielfältigkeit.

Jutta Birck: Das ist dann eine Geräuschkulisse. Und da das halt nicht gefiltert werden kann, nicht in den Hintergrund rücken kann, summiert sich das. Und das ist schwierig und anstrengend.

So ganz konkret so ein Staubsauger-Geräusch oder auch ein Bohrhammer ist gar nicht das Problem.

Marco Tiede: Ja, das ist, glaube ich, sehr differenziert. Wie gesagt, ich kenne eben auch Menschen, für die ist es trotz Vorhersehbarkeit zu viel. Weil das so eine bestimmte Frequenz ist, die unangenehm ist. Und dann können die oft damit leben, dann sich einen Gehörschutz oder einen Noise-Canceling-Kopfhörer aufzusetzen. Und dann dabei sein.

0:25:03

Jutta Birck: Aber das ist auch ein Utensil, was häufig genutzt worden ist oder genutzt wird.  

Marco Tiede: Das ist ja im Prinzip auch ein Mittel, also sag ich mal: Ein sehr technisches Mittel zur Selbstbestimmung. Sich Noise-Canceling-Kopfhörer zuzulegen. Um dann eben auch in Umgebungen unterwegs sein zu können, die einem sonst vielleicht verwehrt wären. Aufgrund zu vielfältiger Reize, die zu verarbeiten sind. Zumindest auf der akustischen Ebene. Da haben wir die Geruchsebene und die visuelle Ebene noch gar nicht mit abgedeckt.

Jutta Birck: Ja, das stimmt.

Mirjam Rosentreter: Ich finde es ganz interessant, dass ihr die Aufgaben nach dem, was ein Kind gut kann, verteilt. Weil das ja dann auch das Gefühl vermittelt, in einer Sache etwas gut zu können. Und diese dann fürs ganze Leben auch weiter benutzen zu können.

Aber was ist dann mit denen, die du dem Sohn abnimmst? Wo du vielleicht denkst: Nehme ich ihm da zu viel ab? Das braucht er vielleicht mal als Kompetenz, wenn er mal alleine wohnen möchte.

Jutta Birck: Ich versuche halt, ihm insgesamt die Sachen zu zeigen und wie es geht. Und auch Sachen, die nicht so gut gekonnt werden. Beim Kochen braucht er klarere Anweisungen als seine Brüder zum Beispiel.

Marco Tiede: Wie sehen die dann aus? Werden die visualisiert? Werden die mündlich gegeben?

Jutta Birck: Es reicht mündlich. Oder halt mit Kochbuch. Ich koche halt eher so nach Gefühl und Pi mal Daumen (schmunzelt). Und das ist für ihn schwierig.

Marco Tiede: Ja, doch, nicht nur für ihn (lacht).

Jutta Birck: Ja, aber die anderen beiden kommen damit viel, viel besser zurecht. Und er fragt dann halt genauer nach: Ja, wie viel jetzt genau?

Mirjam Rosentreter: Wie haben sich denn eure Kinder gegenseitig quasi erzogen? In dem Sinne, dass sie einander was beigebracht haben, besser klarzukommen mit Herausforderungen so im Alltag.

0:27:18

Jutta Birck: Ich denke, dass für meinen Jüngsten die älteren Brüder ganz stark so ein Leitfaden waren. Wenn er nicht verstanden hat, warum so und so reagiert worden ist oder so. Dann hat er das kopiert. Er hat sich da sehr, sehr stark nach seinen Brüdern gerichtet.

Insgesamt sind die natürlich wie Geschwister. Also da flogen auch die Fetzen und alles. Und es gab Zeiten, wo sie sich besser verstanden haben, wo sie sich weniger verstanden haben. Dann mal die beiden eher und die anderen beiden eher oder dann die anderen.

Aber wenn irgendwie das Bedürfnis da war, habe ich gemerkt, dann sind sie füreinander da. Wenn also irgendwas ist, auch wenn wir als Eltern das manchmal nicht mitgekriegt haben, dann waren sie da! Manchmal habe ich das erst viel, viel später erfahren. Aber das hat bei mir so eine Sicherheit gemacht: Okay, da ist einfach noch… Wir sind nicht nur komplett diejenigen. Sondern da sind noch andere.

Und ich denke, auf dieser Basis ist es auch gut, dass man dann lernt, weiter auch nach außen zu gehen.

Mirjam Rosentreter: Du meinst jetzt aus Sicht deines Sohnes?

Jutta Birck: Ja, einfach Beziehungen dann aufzubauen auch. Und so Stück für Stück da auch Erfahrungen zu sammeln.

Aber dieses mit dem Entlassen und selbstständig irgendwie wohnen. Und dann selbstverantwortlich sein für sich und selbstwirksam zu sein. Das bringt halt dann auch nochmal größere Herausforderungen mit sich. Da ich ja auch beruflich weiter noch mit Autisten arbeite, bekomme ich das halt dann auch teilweise mit.

Es müssen ja nicht immer die Eltern sein, die da unterstützend sind. Es ist schwierig, da so dieses… Bestimmte Aufgaben werden immer schwierig sein. Wo ich denke, da wird er vielleicht immer so ein bisschen Unterstützung brauchen. Die muss nicht immer von mir kommen. Aber zumindest so ein bisschen Unterstützungsbedarf wird bleiben. Vielleicht auch nicht! Vielleicht entwickelt sich das ja noch. Er ist ja noch auf dem Weg ins Erwachsenwerden.

0:30:09

Marco Tiede: Das hätte ich mich jetzt auch gerade gefragt: Wenn du da diese Mutmaßung hast, dass da immer was bleibt. Es ist ja die Frage, ab wann fängt denn dann die Selbstbestimmung für diesen Menschen an, ne? Oder woran könnte es liegen, dass wir manchmal die Kinder nicht komplett darin entlassen können? Weil wir glauben, da wäre noch was übrig. Aber vielleicht ist da nichts übrig.

Und du hast es ja auch gerade schon gesagt: Vielleicht gibt es ja aber auch noch Entwicklungen, die wir im Moment noch nicht sehen können.

Jutta Birck: Ja, wir versuchen das immer sehr offen zu halten. Und nie irgendwie Grenzen zu setzen. Und ich habe da auch noch mal so ein Video gesehen. Ein Englischsprachiges auf YouTube, das war nur so ein Kurzvideo von Kaelynn Partlow, glaube ich. Irgendwie ähnlich, wie sie genau ausgesprochen wird, weiß ich nicht. Aber sie dann sagte, dass den Eltern damals gesagt worden ist, in Bezug auf ihren Autismus: Ja, sie wird nie ein Buch lesen können! Sie wird nie das und das und das und das! Und die Mutter hat halt das nicht als Richtlinie genommen. Sondern sie hat sie einfach gefordert, gefördert, aber auch sein lassen.

Und das ist, denke ich, das ist so dieser Spagat, den wir immer leisten. Immer zu gucken: Wo kann ich jetzt was fordern und dann weiterbringen? Wie kann ich das fördern, die Selbstständigkeit, das eigene Erfahrung machen? Und trotzdem den sicheren Hafen geben. Den Schutz auch, dass man dann loslassen kann. Dass man sein kann und regenerieren kann.

Mirjam Rosentreter: Wenn du als Therapeut Leute jahrelang begleitet hast, die dann irgendwann für sich entscheiden: Ich glaube, ich brauche jetzt diese enge Begleitung gar nicht mehr. Ich will seltener zu dir kommen, Marco. Was ist das für dich eigentlich in der Therapie für einen Moment? Ist das auch so ein Gefühl des Loslassen-Müssens?

0:32:31

Marco Tiede: Das ist eher ein erleichterndes Gefühl. Nicht im Sinne von: Jetzt bin ich den endlich los! Sondern erleichternd im Sinne von: Ah, okay. Cool! Du bist jetzt auf deinem Weg. Ich hab dann die Menschen beglückwünscht und gesagt: Super! Dann treffen wir uns jetzt nur noch 14-tägig oder einmal im Monat. Und irgendwann kann man sagen: Ja, ich denke, du kommst jetzt klar. Also für mich ist das so ein ermutigendes Gefühl. Und ein freudiges Gefühl. Weil die Menschen sich das dann auch zutrauen.

Da will ich ja hinkommen: Letztlich versuche ich mich ja mit meinem eigenen Job überflüssig zu machen. Stück für Stück. Um dann weiteren Menschen ein Stück weit Begleitung zu geben.

0:33:16

Mirjam Rosentreter: Und du machst das jetzt ja in deinem Job eigentlich parallel. Also bei deinem… dein eigener Sohn ist auf dem Weg, sich auf den Weg zu machen. In welche Richtung geht das bei ihm?

Jutta Birck: Er macht gerade ein duales Studium.

Mirjam Rosentreter: Und hat das schon begonnen?

Jutta Birck: Der hat das jetzt schon begonnen, ja.

Mirjam Rosentreter: Und läuft das bislang gut an?

Jutta Birck: Ja, er hat Gott sei Dank seine Assistenz behalten dürfen.

Mirjam Rosentreter: Ach, sehr schön! Das war ein Thema bei uns im Elternkreis, deswegen sage ich das gerade so erleichtert.

Jutta Birck: Ja, das war auch echt schwierig. Wo ich wirklich an meine Grenzen gekommen bin: Mit der Behörde. Und ja, aber das läuft wirklich richtig gut.

Und beruflich ist es ja so, dass ich Menschen im Spektrum begleite auf den Weg in den Beruf. Aus ganz unterschiedlichen Situationen: mit Studium oder in Ausbildung oder in Arbeit bringen. Unterschiedliche Bereiche, unterschiedliche Altersstufen. Also ganz wild gemischt.

Aber es ist immer auch in eine Selbstwirksamkeit, in ein: Das kann ich, das mache ich jetzt selber. Und da kann ich für mich selber meinen Lebensunterhalt verdienen mit dem, was ich kann.

Und ja, da den passenden Arbeitsplatz zu finden und die ersten Hürden überwinden. Meistens sind es wirklich nur erste Hürden. Und dann läuft es ziemlich gut. Natürlich können auch da dann immer mal wieder Kommunikationsprobleme auftreten. Aber das kann ja auch was sehr Selbstbestimmtes sein. Wenn man dann selber entscheiden kann, wer bei welchen Sachen unterstützt.

0:35:15

Marco Tiede: Beziehungsweise wenn eine Klarheit darüber besteht: Wo sind denn meine Entwicklungszonen, die noch zu bearbeiten sind? Wo nicht?

Mirjam Rosentreter: Und so oft ist ja auch eine überraschende Entwicklung möglich. Es gibt ja so viele verschiedene Dimensionen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das muss ja auch nicht unbedingt bedeuten, dass es sich da nur um Haushalt und sowas dreht. Das könnte man ja theoretisch auch alles abgeben. Indem man in eine Wohngruppe zieht, wo das irgendwie gemeinschaftlich organisiert wird.

Andere Dimensionen der Selbstständigkeit sind dann vielleicht auch, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern: Körperhygiene bis hin zu Besuchen in Arztpraxen, Therapien. Beziehungen, Freundschaften aufbauen.

Und dann das weite Feld Behördliches. Wo du uns gerade bei den letzten Treffen im Elternkreis berichtet hast. Wie nervenaufreibend das war, da mal wieder Anträge zu stellen. Das ist die Frage, können das unsere erwachsen werdenden Kinder irgendwann auch ohne uns?

Marco Tiede: Beziehungsweise, sie müssen es ja nicht mit uns können. Selbstbestimmt handeln heißt ja auch: Ich weiß, wer es dann kann. Ich könnte dann auch andere Menschen beauftragen. Das hattest du ja auch schon angedeutet. Das müssen wir ja nicht unbedingt als Eltern selbst sein.

Dass wir dann sagen können: Guck mal, da gibt es eine rechtliche Betreuung. Das heißt, die übernimmt für dich diverse behördliche Dinge. Und du bist aber immer noch selbstbestimmend darüber, was eigentlich wann und wie passiert. Aber dass ich jetzt nicht alles im Detail wissen muss, wie das geht. Wie so eine Antragstellung für eine unterstützende Leistung irgendwas ist.

Oder, was wir ja alle in der Schule leider nicht lernen: Steuererklärung zu machen. Aber das ist ja nochmal ein Problem für sich. Das will ich gar nicht so ausbreiten. Genau, dieses Behördliche. Und du hast ja glaube ich noch einen Punkt.

0:37:17

Mirjam Rosentreter: Das hängt so ein bisschen mit der Gesundheit zusammen. Das ist der Punkt der Identität. Also, sich mit dem eigenen Sein auseinanderzusetzen. Mit der Autismusdiagnose. Oder auch nicht. Also mit dem, was man als Mensch für sich braucht. Um im Leben irgendwie Erfüllung zu finden. Also das könnte auch noch ein Punkt sein.

Also, das ist vor allen Dingen ein wesentlicher Punkt, überhaupt erwachsen zu werden: Zu wissen, was macht mich als Menschen aus? Wann bin ich ganz der, der ich eigentlich sein möchte?

Marco Tiede: Ja, ich dachte jetzt gerade auch noch, aber das knüpft vielleicht auch daran an: Freizeitgestaltung überhaupt. Also, welchen Interessen, welchen Hobbys, vielleicht welcher Sportart gehe ich nach. Auch da gibt es ja wieder Interaktionen mit anderen Menschen. Aber das hat ja auch viel damit zu tun: Wie identifiziere ich mich als Mensch? Also, wie sehe ich mich?

Weil, für viele ist es ja wichtig, den Autismus als Persönlichkeitsanteil mitzubegreifen und mitzudenken. Und für andere, die tun sich da eher noch schwer und sagen: Naja, ich bin doch aber so und so.

Jutta Birck: Ja, es ist halt einfach dieses Sich-Selbst-Kennen. Und zu wissen, ja, erst mal: Wie bin ich? Wer bin ich? Was macht das bei mir aus? Und wo stellt es Grenzen dar? Wo öffnet es aber auch Sachen?

Es ist ja: Es ist halt eine andere Wahrnehmung. Und das hat Vorteile und Nachteile. Und das, dass man das erkennt. Und dass man weiß, was man gut kann und wo man aber auch eventuell an Probleme stößt.

Und dass man lernt, da Hilfe zu holen. Und nach Hilfe zu fragen, ohne sich dabei schlecht zu fühlen. Das finde ich immer einen ganz wichtigen Punkt.

Dass man halt sagt: Okay, alles hat Vor- und Nachteile. Auch meine besondere Wahrnehmung beeinträchtigt mich vielleicht in bestimmten Bereichen. Weil ich mit zu vielen Sinneseindrücken überfordert werde. Dann muss ich halt lernen: Wie kann ich mit mir umgehen? Dass ich mich da ein bisschen schützen kann. Dass ich an Dingen teilnehmen kann, obwohl mich einige Sachen überfordern. Wie kann ich Dinge anpassen, damit es mich nicht so sehr überfordert? Und das muss alles gelernt werden. Am besten bevor dieser Schritt nach draußen geht.

Manchmal klappt das aber nicht. Gerade bei Spätdiagnostizierten. Und dann muss man es halt dann lernen: Was ist das eigentlich? Was macht das mit mir? Und wie kann ich mein Leben so gestalten: Dass ich das, was ich gerne erreichen möchte, dass ich das, was ich machen möchte, auch machen kann. Und trotzdem nicht in eine Überforderung reinkomme.

0:40:31

Marco Tiede: Ich kann mich ja dann besser mit meiner Struktur identifizieren, wenn sie im Außen auch angenommen, akzeptiert ist. Was dann vielleicht auch viel damit zusammenhängt, dass eben diese ganzen Strukturbeschreibungen, wie Autismus, ADHS, etc., was wir da alles hatten, ja noch verhältnismäßig unbekannt sind. Obwohl wir natürlich in unseren Bereichen, in denen wir uns bewegen, da schon sehr vertraut sind.

Aber wenn du dann mal, ich sag mal, jemanden auf der Straße ansprichst. In der Straßenbahn. Oder auf der Baustelle, keine Ahnung wo. Oder im Restaurant. Und sagst so: Was wüssten Sie denn über Autismus? Dann würden da sehr unterschiedliche Bilder entstehen. Und zum Teil auch sehr viel stigmatisierende Bilder.

Und das ist ja, glaube ich, auch der Grund, warum wir hier ja auch unter anderem sitzen. Dass wir das so ein bisschen aus dieser Schmuddel-Ecke rauskriegen. Oder aus der übertrieben positiv darstellenden Ecke. Mit Superkräften und sonst was. Aber eben auch aus dieser Schmuddel-Ecke im Sinne von: Das sind Leute, die ganz schlimm dran sind oder schwerst beeinträchtigt. Kann auch sein, aber ist es nicht immer. Und dieses ganze Spannungsfeld dann mal zu öffnen.

0:41:53

Jutta Birck: Also die, die ich ja begleite beim Martinsclub… Da könnte man ja dann vielleicht noch mal auf selbstverständlich Arbeit dann noch mal hingehen: Das ist ja auch eine ganz hohe Barriere in Richtung Selbstständigkeit.

Kommunikation ist ja immer ein ganz großes Thema. Mit Missverständnissen, also missverständlich kommunizieren. Das ist ja ganz häufig, dass die Kommunikation da nicht ganz rund läuft. Und Fakt ist, dass es vielen ganz schwerfällt, andere Leute anzusprechen. Und Fragen zu stellen: Das habe ich nicht verstanden. Oder da brauche ich noch mal irgendwie Unterstützung.

Marco Tiede: Und wieunterstützt du dabei?

Jutta Birck: Immer wieder erklären, wie das mit der Kommunikation ist.

Marco Tiede: Du erklärst es drumrum.

Jutta Birck: Ich erkläre das Drumherum, ja. Ich erkläre, wie Dinge verstanden werden. Und dass Dinge, die einem selber klar sind, für andere nicht klar sein müssen.

Marco Tiede: Ich habe das auch erlebt, dass die Mutter meines Sohnes gute Erfahrungen damit gesammelt hat: Dass sie konkrete Sätze besprechen. Was man sagen kann. Was dann letztlich gesagt wird, das obliegt dann ja dann wiederum dem Kind, dem man das mitgibt. Aber dass man wirklich schon Voraussagen trifft. Dass man sagt: Du könntest sagen, hallo, das habe ich gerade nicht verstanden, können Sie das bitte nochmal wiederholen? Oder: wie ist das gemeint? Dass man ganz eindeutige Wortlaute und Satzbauten hat. Und das vielleicht sogar auch mal versucht zu wiederholen. Und dann hat unser Kind dann auch dadurch eine gewisse Sicherheit bekommen. Weil er jetzt erstmal so ein paar Ideen, ein paar Worte im Hintergrund hat. Und vielleicht formuliert er es ein bisschen anders. Aber er hat erstmal eine Grundidee.

Und da bin ich immer nicht ganz sicher. Weil ich ja auch manchmal dazu neige, viele Dinge drumherum erklären zu wollen. Ob das nicht zu viel wird? Also ich kriege oft die Rückmeldung: Was willst du? Was meinst du? Wenn ich so viel drumherum erkläre.

Jutta Birck: Ja, das wird mir aber dann direkt zurückgemeldet. (Mirjam fragt dazwischen: Von deinem Sohn?)

Marco Tiede: Jaja, klar. Aber…. Das ist ja das, wo wir auch so gucken, dass wir im Eindeutigen bleiben und nicht zu sehr drumrum.

Jutta Birck: (antwortet auf Mirjams Zwischenfrage)Nicht nur.

Mirjam Rosentreter: Nicht nur – wer meldet dir das noch knallhart zurück?

Jutta Birck: Meine Klienten (schmunzelt).

Mirjam Rosentreter: Das ist ja dann bei selbstverständlich Arbeit, wo du dann…

Jutta Birck: Genau. Oder meine Kolleginnen auch so. Ich bin natürlich da… gerade mit dem ADS, das ist halt: Eine Sache kommt rein. Und dann entsteht ein Feuerwerk an Gedanken und Ideen und allem Möglichen. Und da sind Sprünge natürlich nicht immer so ganz klar nachvollziehbar.

0:44:48

Marco Tiede: Und wie ist das, wenn du dann halt kurz wieder auf den Punkt zurückgeholt wirst? Ist dir das dann unangenehm? Fühlst du dich da unangenehm berührt? Oder ist das okay?

Jutta Birck: Nö, ich weiß ja, wie ich bin (schmunzelt). Und dann ist das: Ach ja, klar! Kannst du ja nicht wissen, wie mein Gedankensprung oder Gedankengang da war. Und dann erkläre ich das einfach. Oder wenn es zu viel ist, zu wuselig, zu viele Gedanken mit reingebracht: Dann versuche ich das dann einfach runterzubrechen.

Marco Tiede: Runterzubrechen in welchem Sinn? Also in kürzere Sätze?

Jutta Birck: Kürzere… Eher in dem Sinne, das nicht so ausschweifend zu erklären. Einfach aufs Wesentliche runterbrechen.

Marco Tiede: Ja, aufs Wesentliche, auf den Punkt kommen, ne? Mhm.

0:45:46

Mirjam Rosentreter: Ich erinnere mich da gerade noch dran, was unser dritter Podcast-Gast Ella dazu für Tipps hatte. Sie hatte so eine ganz simple Methode entwickelt. Hatte sie aber auch erst durch den Deutschunterricht gelernt. Kommunikationsmodelle haben die sich da angeschaut. Und da hat sie verstanden: Wenn ich mit jemandem zu tun habe, zum Beispiel in der Schule oder bei der Arbeit. Dann gehe ich auf diesen Menschen zu und sage: Hallo, ich brauche manchmal etwas länger, bis ich etwas verstehe. Können Sie mir die Aufgabe bitte nochmal erklären? So, dann hört sie sich das an. Habe ich Sie richtig verstanden, dass ich jetzt Punkt, Punkt, Punkt machen soll? Dann kommt von gegenüber entweder ein Ja oder ein Nein oder noch eine Präzision. Aha! Und erst dann macht sie weiter.

Marco Tiede: Dieses Prinzip, dieses verstehende Nachfragen.

Mirjam Rosentreter: Das Prinzip der doppelten Rückversicherung. Das wäre ein ganz wichtiger Punkt, um in allen möglichen Bereichen des Lebens besser durchzukommen.

Marco Tiede: Das ist ja dann der große, große Punkt: Weil es eben so verschiedene Kommunikationsstile gibt. In der bunten Welt der Menschheit, sprich Neurodiversität. Und dann zwischen der Neurodivergenz und der neurotypischen Kommunikation, um das nochmal wieder ein bisschen dualistischer darzustellen, ja nochmal umso mehr. Und da ist das ja ein wichtiger Schritt zur Selbstbestimmtheit, dann eindeutige Kommunikationswerkzeuge mitzugeben. Und da sind verstehende Nachfragen auf jeden Fall ein sehr wichtiges Werkzeug. Auch unter PartnerInnen zum Beispiel (schmunzelt).

0:47:31

Jutta Birck: (schmunzelt) Meistens sind es immer mal wieder Kommunikationsprobleme. Auch da muss eigentlich dann nochmal immer geguckt werden: Wie ist die Situation, wenn wir zu Ende begleitet haben? Und…

Mirjam Rosentreter: …Mit den Arbeitgebern wahrscheinlich.

Jutta Birck: Genau.

Marco Tiede: Kontext.

Jutta Birck: Kontext, richtig (schmunzelt). Braucht es noch regelmäßige Unterstützung? Oder läuft das jetzt einfach? Und man kann einfach sagen: Okay, falls irgendwie was ist – sowohl dem Arbeitgeber als auch dem Arbeitnehmer dann in dem Fall: Bitte melden! Bevor es irgendwie den Bach runtergeht. Und irgendwie durch eine blöde Kommunikationsproblematik dann das alles den Bach runtergeht.

Aber grundsätzlich habe ich jetzt so die Erfahrung gemacht, dass es eigentlich häufig nur Startschwierigkeiten sind. Und dass es danach eigentlich ziemlich gut läuft. Wenn man so ein bisschen sich aufeinander eingestellt hat. Und weiß, wie man kommuniziert und wo Besonderheiten sind. Und das ist eigentlich sehr schön. Und es bedarf eigentlich ein bisschen mehr Offenheit. Und viel Aufklärung, viel Brücken bauen. Einfach, um Ängste abzubauen. Auf beiden Seiten.

Also Kommunikation ist immer so ein ganz großes Oberthema. Selbst wenn Personen das Gefühl haben, sich doch ganz klar und logisch und eindeutig ausgedrückt zu haben. Dass es trotzdem auch da immer noch Spielraum zur Missinterpretation gibt.

Wir haben gemeinsam auch versucht, einen Fragebogen zu entwickeln, der autismusfreundlich ist. Und das ist so dermaßen schwierig! Weil, das ist ein größeres Feld. Und man versucht ja, einen größeren Bereich abzudecken. Und dann kommt dann doch immer nochmal die Rückfrage: Ist das und das dann auch mit da gemeint? Oder ist das nur wirklich da? Oder dann steht da ein Fragebogen für… Ja, aber das stimmt doch jetzt für mich gar nicht! Soll ich den trotzdem ausfüllen? Und: Ach ja, blöd, haben wir draufgeschrieben, müssen wir ändern.

0:50:17

Marco Tiede: Ja, also ich glaube, die Schwierigkeit ergibt sich ja auch: Du machst jetzt also einen Fragebogen, der autismusfreundlich formuliert ist. Oder wenn wir überhaupt über sogenannte autismusfreundliche Kommunikation reden. Und wir ja auch immer wieder betonen: Kennst du einen Autisten, kennst genau einen. Welchen Autisten stellen wir uns denn gerade vor? Wenn wir „autismusfreundlich“ denken? Wir müssen also eigentlich so eine zusammengedachte Vielfalt einer autistischen Vielheit denken. Und das alles mit reindenken. Und dann nennen wir das also „autismusfreundlich“. Obwohl es immer individuelle Unterschiede gibt.

Jutta Birck: Eine Sache möchte ich noch einmal kurz mitreinbringen. Auch zu einem Podcast-Gast: Jason. Der sagte: Die anderen sind auf dem falschen Planeten. Weil, ich bin ja logisch.

Nur: die Logik von dem einen Autisten muss für den nächsten Autisten nicht unbedingt logisch sein! Das habe ich halt auch gemerkt. Privat und bei der Arbeit: Dass da das dann auch nicht immer klar ist, die Logik des einen mit der Logik des anderen.

0:51:35

Mirjam Rosentreter: Wie ich das so aus dem, was du erzählst, raushöre, bist du eigentlich den ganzen Tag bei der Arbeit und zu Hause immer in einer Vermittlerrolle gewesen schon. Jetzt, wo die Geschwister, die ersten, ausgezogen sind und für dich auch sich das Leben so ein bisschen ändert: Wo schwimmst du dich denn jetzt vielleicht frei? Und versuchst, deinen Weg nochmal anders zu gehen?

Jutta Birck: Ja, das ist eine gute Frage.

Marco Tiede: Äh, wie meinst du, die Frage? Meinst du das jetzt beruflich oder privat?

Mirjam Rosentreter: Ich meine es ja sowohl als auch. Aber eigentlich eher privat.

Marco Tiede: Okay.

Mirjam Rosentreter: Das geht ja vielen Müttern so mit autistischen Kindern, erst recht, wenn sie noch mehr Geschwisterkinder haben: Dass sie hauptsächlich die Ansprechpartnerin der Kinder sind. Wenn sie so einen Beruf ausüben, dass sie mehr zu Hause sind, als zum Beispiel der Partner oder die Partnerin.

Marco Tiede: Und meinst du mit Freischwimmen dann, wieder die innere Balance zurückfinden?

Mirjam Rosentreter: Nee, da meine ich zu gucken, was interessiert mich denn eigentlich im Leben? Wo will ich nochmal gucken? Und nicht immer nur in dieser Vermittlerrolle zwischen den Bedürfnissen verschiedener Menschen zu stecken. Sondern auch mal den eigenen Bedürfnissen nachzugehen. Und das kann ja alles Mögliche sein! Das kann ein Bedürfnis nach Ruhe sein. Nach verrückten Freizeitaktivitäten, die deine Familie niemals mitmacht. Oder nach einem neuen Job.

Marco Tiede: Das ist so interessant. Weil diese Metapher „Freischwimmen“ habe ich anders gedeutet. Das eine ist ja, dass man erst mal ein Bild vor sich hat mit Badeanzug und Schwimmen im Wasser (schmunzelt). Aber das andere: Dieses Freischwimmen kann eben bedeuten, sich einen eigenen Anker zu suchen. Und da wieder zur inneren Balance zu kommen. Oder, in deinem Sinne: seinen Interessen nachzugehen. Was ja letztlich auch ein Anker ist.

Aber vielleicht auch: Seiner eigenen empfundenen Identität – was will ich noch tun erreichen – nachzugehen.

Mirjam Rosentreter: Ja, wie verstehst du meine Frage denn, nach dem Freischwimmen?

Jutta Birck: Ja, also, ich habe schon so ein bisschen mehr zu mir zu kommen, das schon auch so interpretiert. Das ist ja auch immer wieder Thema beim Elterngesprächskreis: Und wo bleibe ich dann auch? Das ist natürlich, gerade bei mir ist es halt nochmal doppelt irgendwie.

Weil ich ja selber auch einfach ganz schnell in eine Überforderung reingekommen bin. Also, ich habe selber halt gemerkt: So diese Alltagsorganisation und das alles, das war immer unglaublich fordernd. Und dann allen gerecht zu werden. Und wie viel Kraft das mich gekostet hat. Das habe ich eigentlich erst wirklich gemerkt, als ich dann im Grunde begonnen habe, Medikamente zu nehmen wegen dem ADS. Und dann gemerkt habe: Ups, wie einfach bestimmte Dinge plötzlich sind! Und wie anders das Leben sein kann.

0:54:50

Marco Tiede: Und hast du dann da auch ein Gespür gekriegt, was du willst, was du brauchst? Also um dich, in dem Sinne jetzt, wie Mirjam das fragte, freizuschwimmen? Also: Was ist es, was dich dann mehr ausmacht, was dir entspricht?

Jutta Birck: Also, es hat insofern dazu beigetragen, dass ich mehr bei mir ankomme: Dass ich einfach gemerkt habe, dass ich überhaupt von Überforderung zu Überforderung geschwommen bin.

Und in dem Moment, wo mir das klar geworden ist. Und auch warum. Und dass es halt eine andere Möglichkeit für mich gibt. Da ist dann halt einfach gekommen: Okay, jetzt kann ich auch viel mehr ich selbst sein. Wo ja immer gesagt wird, häufig so mit den Medikamenten: Dass es das nicht ist. Aber für mich ist es halt einfach. Ich habe die Möglichkeit, dadurch da zu sein. Und trotzdem auch mich selbst nicht zu verlieren.

Marco Tiede: Und was ist das dann, was sich für Dich eröffnet? Was Du dann für Dich ergreifst, was dann Dir entspricht?

Jutta Birck: Dass ich einfach ein bisschen mehr Zeit habe für meine Hobbys auch. Also, ich mache Handarbeiten mit Häkeln oder Sticken und Nähen. Also Nähen mache ich vor allem ganz viel. Und da habe ich jetzt auch nicht mehr nur die kaputten Hosen (schmunzelt) oder Sachen, die ich flicken muss. Sondern kann halt viel mehr in diesen kreativen Bereich auch reingehen. Und für mich Dinge nähen. Was ich schon immer vorhatte, aber nie umsetzen konnte. Weil nie die Zeit da war. Und das ist etwas, was ich sehr genieße.

Und auch beruflich einfach dann nochmal ein bisschen mehr zu machen. Und da weiterzukommen. Und das ist schon auch etwas, was ich gerne mache. Was gekommen ist, je älter die Kinder geworden sind.

Mirjam Rosentreter: Das hört sich so an, als hättest du eine Struktur für dich gefunden, wie du deine Tage gestaltest?

Jutta Birck: Ja, das war im Grunde… Also mit dem ADS ist es ja ähnlich wie mit dem autistischen Burnout: Dann ich bin ja im Grunde von Burnout zu Burnout, eigentlich war ständig in diesem. Ja diese Überforderung, Überlastung. Und dann auch immer wieder in Depressionen reingerutscht. Das ist ja häufig die Folge neben Ängsten und sonstigen. Auch die Folge von diesen Überlastungen, diesen regelmäßigen.

Und in dem Moment, wo ich die Medikamente genommen habe, war das dann… Ja, es gibt so ein schönes Bild mit einem Kugelschreiber. Das ist dann: Es kommt eine Idee rein oder eine Aufgabe. Du hast einen normalen Kugelschreiber in der Hand, drückst einmal drauf und dann kannst du schreiben. Bei ADS ist das dann mehr dieser Kugelschreiber mit diesen vier Minen. Und wenn man die gleichzeitig rausdrücken will, dann blockieren die sich gegenseitig. Und du bist gar nicht in der Lage, etwas zu tun. Beim Autismus gibt es das Phänomen auch häufig. Dass man dann so überfordert ist. Dass so viel da ist, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll.

Und jetzt mit den Medikamenten bin ich in der Lage… Diese vier Ideen gleichzeitig, die sind immer noch da. Aber ich bin in der Lage, dann statt alle gleichzeitig runterzudrücken, die nacheinander runterzudrücken. Und dann kommt da eine Mine raus. Und ich bin in der Lage, das zu machen.

Teilweise war vorher die Situation, dass ich gerne etwas z.B. nähen wollte. Ich aber dann unten am Tisch saß und eine Liste geschrieben habe, was alles zu machen ist. Und ich dann stundenlang vor dieser Liste. Also stundenlang vielleicht nicht. Aber im Grunde ganz lange vor dieser Liste stand und mir überlegt habe, wie ich das alles irgendwie machen kann.

Und das Problem ist dann halt: das einfach in Aktion kommen. Das war nicht möglich in dem Moment. Und dann aufgrund von dieser ständigen Überforderung.

Und jetzt ist es halt… Für mich – ich kann da halt auch immer nur für mich sprechen, aber es gibt ja auch ganz viele Autisten mit ADHS. Es ist ja eine relativ häufige Kombi. Mir hat das sehr gut geholfen mit den Medikamenten. Für mich ist das ein neues Leben. Und ein entspannteres Leben. Ein Leben, wo ich die Dinge, die ich vorher immer nur als Idee hatte, auch wirklich umsetzen kann. Und zu Ende bringen kann.

Aber das muss nicht bei jedem so sein. Gerade im Autismus wirken Medikamente manchmal paradox. Und da muss man halt immer genau gucken. Und es gibt kein: Das ist richtig so oder das ist falsch. Also, man muss bei jedem individuell gucken: Was ist für mich der richtige Weg? Wo geht das lang? Das macht es immer sehr schwierig. Aber es gibt keine Patentlösung. Das ist das Blöde. Und man muss wirklich immer individuell für die einzelne Person gucken.

1:00:52

Mirjam Rosentreter: Und was braucht es noch? Also was sind zum Schluss… Ich versuche mal für uns jetzt das Gespräch zusammenzuführen zu unserem Punkt, den wir immer am Ende haben: Was jeder Gast sich von der Gesellschaft wünscht. Was noch besser werden kann, damit so viele Hürden überwunden werden.

Jutta Birck: Ja, es braucht eigentlich einen Austausch, ein Gespräch. Es braucht, dass es in der Normalität mehr ankommt, das Anderssein auch. Dass man so angenommen wird, akzeptiert wird, wie man ist. Einfach mit den Stärken und mit den Schwächen. Und dass man sich nicht verdrehen und verwenden muss, um irgendwie akzeptiert zu werden, sondern so, wie man ist. Und dann kann man seine Stärken auch optimal zeigen.

1:01:53

Mirjam Rosentreter: Danke für deine Zeit, Jutta. Und warum wir diesmal etwas hin und hergeeiert sind, vielleicht an der einen oder anderen Stelle: Wir hatten ja auch keine besonders lange Zeit der Vorplanung für unser Gespräch.

Jutta Birck: Und dann mit mir mit dem ADS: Wumm! (schmunzelt)

Mirjam Rosentreter: Euch einen schönen Monat, bis wir uns wieder hören.

Marco Tiede: Jo, Tschüss.

Jutta Birck: War sehr spontan, aber auch sehr nett.

Mirjam Rosentreter: Danke dir, Jutta. Tschüss!

1:02:29

Outro

Musik

Sprecher: Das war Spektrakulär. Eltern erkunden Autismus.

Mirjam Rosentreter: Unsere Kontaktdaten und alle Infos zu unseren Folgen findest du in den Shownotes auf unserer Seite spektrakulaer.de.

Sprecher: Der Podcast aus dem Martinsclub Bremen.

Musikende

Sprecher: Gefördert durch die Heidehof-Stiftung, die Waldemar-Koch-Stiftung und die Aktion Mensch.

Sprecherin: In Zusammenarbeit mit Selbstverständlich, der Agentur für barrierefreie Kommunikation.

Ende

….

Quellen und weiterführende Infos zu den Themen in dieser Folge

Hinweis: für Links zu externen Online-Quellen übernehmen wir keine Gewähr!

Infos zum Gast Jutta Birck

Selbstverständlich Arbeit
https://www.martinsclub.de/leistungen/berufliche-teilhabe/fuer-jobsuchende/

Berufe im ganzen Spektrum
www.martinsclub.de/leistungen/projekte/berufe-im-ganzen-spektrum/

Schulbegleitung Martinsclub

Assistenz in Schulen

Tipp: Mehr zu Juttas ADHS-Diagnose und ihrem eigenen Weg in „Die Rattenfänger“ dem eigenen Podcast unseres ersten Podcastgastes Bianca Bräulich
https://www.youtube.com/watch?v=DvDVkoYUGuw

Begriffe, Medien und Bücher

Zur Selbstbestimmung

https://www.teilhabeberatung.de/woerterbuch/selbstbestimmung

Zur Neurodiversität / Neurodivergenz

Interview mit Prof. Dr. Zimpel „Wie Schneeflocken…“ bei „buten un binnen“ von Radio Bremen (unter dem Bericht zum Fachtag/Interview mit Dr. Gertjejanßen)
„Wie Schneeflocken“:  Psychologe erklärt, warum alle Hirne anders sind

Dokumentation zur Neurodiversität

https://www.ardmediathek.de/video/auf-spurensuche-oder-ard-wissen/neurodiversitaet-wie-normal-ist-anders/br/Y3JpZDovL2JyLmRlL2Jyb2FkY2FzdC9mYzVlYmE0Zi1iOTY1LTQxMjEtYTBlZi0wM2M5OTBiYTgzMjZfb25saW5lYnJvYWRjYXN0

von Jutta erwähntes Video bei Youtube von Kaelynn Partlow
https://m.youtube.com/shorts/AO_lrBBAmYo

Buch von Kaelynn Partlow „Life on the bridge:linking my world to yours as an autistic therapist“ https://www.genialokal.de/Produkt/Kaelynn-Partlow/Life-on-the-Bridge_lid_54620173.html

Zur Podcast-Folge 8 mit Imke Heuer
https://spektrakulaer.podigee.io/18-spektrakular-folge-8-autismus-live-und-direkt-die-publikumsfolge

Workshop beim Neurodivergenzfachtag am 15.05.2025
https://www.ameos.de/fileadmin/Pressemitteilungen/Einrichtungen/Klinikum_Bremen/Fachtag_Neurodivergenz.pdf

Zur Rechtlichen Betreuung
https://autismus-verstehen.de/recht/gesetzliche-betreuung-und-vorsorgevollmacht/

https://ellasblog.de/neues-betreuungsrecht-kurz-und-knapp-zusammengefasst-das-musst-du-wissen

Zur Podcast-Folge 18 mit Chris Lockingen
https://spektrakulaer.podigee.io/40-spektrakular-folge-18-it-und-selbsthilfe-haben-mein-leben-gerettet

Zur Podcast-Folge 3 mit Ella
https://spektrakulaer.podigee.io/7-spektrakular-eltern-erkunden-autismus-folge-3-tulpe-schreibt-man-wie-mans-spricht

Zur Podcast-Folge 7 mit Jason von Juterczenka

https://spektrakulaer.podigee.io/16-spektrakular-folge-7-alle-anderen-sind-auf-dem-falschen-planeten

Zum gemeinsamen Auftreten von Autismus und ADHS (Komorbidität)

Anhaltspunkte für die Differenzialdiagnostik von ASS und ADHS
(auf S.16 der Leseprobe aus dem Kapitel von Andreas Riedel im o.g. Buch)
https://www.mwv-berlin.de/buecher-bestellen-2016/images/product_images/leseproben_images/9783941468801_Leseprobe.pdf

Daniel Schöttle, Benno G. Schimmelmann, Ludger Tebartz van Elst: ADHS und hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen. Komorbidität oder Differenzialdiagnose? Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Diagnostik und Behandlung. Nervenheilkunde 2019, S. 632-642.

https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/a-0959-2034.pdf

Artikel im Deutschen Ärzteblatt:

https://www.aerzteblatt.de/news/autistische-kinder-nehmen-adhs-mit-ins-erwachsenenalter-88509ede-c7b2-4f04-9946-ebfdec61a990

Britische Studie, auf die der Artikel Bezug nimmt:

https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2830118

Daten und Statistiken zu ADHS aus den USA

https://www.cdc.gov/adhd/data/index.html

Zum Autistischen Burnout
https://www.autismus-bremen.de/wp-content/uploads/2018/06/Autistisches-Burnout.pdf

Autistisches Burnout: Entstehung, Wirkung und Bewältigung

Zur autismusfreundlichen Kommunikation und Kommunikationsmodellen
https://mittendrin.family/21-tipps-fuer-ein-gelingendes-gespraech-mit-menschen-im-autismus-spektrum-as/

Neurodiverse Kommunikation 

Eisberg-Modell für autismusfreundliche Kommunikation

https://de.wikipedia.org/wiki/Eisbergmodell#cite_note-2

Anne Häußler, Antje Tuckermann, Markus Kiwitt (2014): Wenn Verhalten zur Herausforderung wird. Kapitel 1: Die Basis: Das Eisberg-Modell (Aus der Reihe: Praxis TEACHH)

Vier-Ohren-Modell von Friedemann Schulz von Thun (auch bekannt als Kommunikationsquadrat oder Vier-Seiten-Modell):

https://www.schulz-von-thun.de/die-modelle/das-kommunikationsquadrat

Dazu gibt es ein Lehrvideo in der Mediathek von ARD alpha: https://www.ardmediathek.de/video/alpha-lernen-oder-deutsch/schulz-von-thun-die-4-seiten-einer-nachricht/ard-alpha/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvL2FjZTVhY2JjLTlmMDgtNDk1ZC1hYTI0LWM2YmUwMjZiNjc3MwBandwurmsätze gibt es öfter mal einen Punkt. Oder auch drei, wenn jemand kurz nachdenkt oder nach den richtigen Worten sucht. Dann kann ein angefangener Satz auch mal einfach ab… Und nun, viel Freude beim Lesen!

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