Jakob Hoffmann im Podcast-Studio

Folge 20

Ich bin das schwarze Schaf.

Mit Jakob Hofmann, Azubi, Autist und großer Bruder eines Autisten

Erscheinungstermin: 16.09.2025, Autorin: Mirjam Rosentreter

Vorweg ein paar Hinweise: In unserem Podcast reden wir über Dinge, die vielleicht bei euch etwas anstoßen. Bitte beachtet:

Unsere Gespräche geben persönliche Erfahrungen wieder und erfüllen keinen wissenschaftlichen Anspruch. Das Hören oder Lesen unseres Podcasts ersetzt keinen Besuch in einer Praxis oder Beratungsstelle. Fühlt euch ermutigt, offen auf Menschen in eurem Umfeld zuzugehen. Oder sprecht Fachleute in eurer Nähe an.

Rückmeldungen könnt ihr über hallo@spektrakulaer.de an uns richten. Oder ihr kontaktiert uns auf unserem Instagram-Kanal @spektrakulaer_podcast. Gerne versuchen wir auf Themen einzugehen, die Euch interessieren. Persönliche Fragen zu Diagnostik oder Therapie können wir leider nicht beantworten.

Im folgenden Abschnitt haben wir für euch unsere Sprachaufnahme transkribiert, also verschriftlicht. Als Text aufgeschrieben ist gesprochene Sprache nicht immer ganz korrekt und eindeutig verständlich. Das Manuskript entspricht auch nicht einem journalistisch überarbeiteten Interview.

Dieser Podcast ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt.

Wenn ihr uns oder unsere Gäste irgendwo zitieren wollt, bleibt fair: Achtet auf den Gesamtzusammenhang und denkt bitte immer an die Quellenangabe.

Im Zweifel gilt die schöne alte Regel: Lieber einmal mehr nachfragen.

Vielen Dank für eure Neugier und euer Verständnis.

Mirjam & Marco

Transkript zu Podcast Folge 20, erschienen am 16.09.2025,

mit Jakob Hofmann und den Hosts Mirjam Rosentreter und Marco Tiede

Autorin: Mirjam Rosentreter

Hinweis: Der Text wurde behutsam redaktionell überarbeitet. Ziel ist es, das spontane Gespräch möglichst natürlich wiederzugeben. Deshalb dürfen sprachliche Ungenauigkeiten bleiben. Damit sich der Text leichter lesen lässt, ist die Zeichensetzung angepasst. Sie berücksichtigt die Sinneinheiten und Pausen, wie sie im Mündlichen typisch sind. Das heißt: Statt langer Bandwurmsätze gibt es öfter mal einen Punkt. Oder auch drei, wenn jemand kurz nachdenkt oder nach den richtigen Worten sucht. Dann kann ein angefangener Satz auch mal einfach ab…

Und nun, viel Freude beim Lesen.

Intro

Musik: Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music

Sprecher: Spektrakulär. Eltern erkunden Autismus.

Mirjam Rosentreter: Hallo, mein Name ist Mirjam Rosentreter. Ich bin Journalistin, Mutter eines Sohnes im Autismus-Spektrum. Und ich mache das hier nicht alleine. Bei mir ist Marco Tiede.

Marco Tiede: Moin. Ich bin auch Vater eines Jungen im Spektrum. Und ich arbeite als Therapeut und auch als Berater.

Mirjam Rosentreter: Es gibt zu dieser langen Version unseres Podcasts auch eine kurze, den Kurz-Pod. Ein Manuskript zu dieser Folge findet ihr auf unserer Seite spektrakulaer.de.

Sprecher: Heute mit Jakob Hofmann, Azubi, Autist und großer Bruder eines Autisten.

0:00:46

Mirjam Rosentreter: Herzlich willkommen zu unserer zwanzigsten Folge. Wir haben heute runden Geburtstag sozusagen. Und nochmal ganz offiziell herzlich willkommen lieber Jakob.

Jakob Hofmann: Hey, moin.

Mirjam Rosentreter: Im Juni, einen Tag nachdem dein Vater bei uns zu Gast war, Jochen Gertjejanßen, haben wir eine E-Mail bekommen. Von dir an hallo@ spektrakulaer.de. Und da hast du geschrieben: „Moin ihr beiden, hier schreibt Jakob, der ältere Sohn von Jochen Gertjejanßen. Mega Podcast! Danke euch für euer Engagement und euer Wissen.“ Dazwischen hast du noch ein bisschen mehr geschrieben. Da kommen wir vielleicht später drauf. Aber, ich war ganz schön erleichtert. (Jakob Hofmann schmunzelt) Wie war das denn für dich? Deinen Vater in unserem Podcast zu hören?

Jakob Hofmann: Ach ganz, ganz… Ja, es hat mich ein bisschen mit Stolz erfüllt. Andererseits war es jetzt aber auch nicht mehr so aufregend. Da meine ganze Familie ja schon, mit mir als einem von vier Protagonisten, im April in einer Arte Doku – produziert von Radio Bremen – zu sehen war. Und dementsprechend: Ja, ihn dann in einem Podcast zu hören? War schön auf jeden Fall. Aber jetzt auch nicht mehr so das Event, sag ich mal.

0:02:02

Mirjam Rosentreter: Und unangenehm? Irgendwelche Details, die persönlich waren?

Jakob Hofmann: Nö. Nee, find ich nicht. Grundsätzlich haben einfach… Hab ich mit meinen Eltern, also auch mit meiner Mutter, aber eben insbesondere mit Jochen schon immer irgendwie einen sehr rationalen, eine sehr rationale Redensart gepflegt. Und wir haben uns immer irgendwie über medizinische und psychologische Dinge ausgetauscht. Und ich hab ihn Dinge gefragt und so. Und es dann eben auch aufs Persönliche bezogen. Häufiger mal. Und dementsprechend war dann nichts unangenehm, nein.

Mirjam Rosentreter: Die Dokumentation, von der du gerade gesprochen hast, werden auch einige von euch vermutlich gesehen haben. Sie hatte den Titel „Autismus – Das rätselhafte Spektrum“. Ist bis Juni noch in der Arte-Mediathek zu finden gewesen. Jetzt findet man es leider nur noch auf YouTube. Auf Kanälen von anderen Leuten, die sie extra dann da reinstellen. Dieser Titel „Autismus – Das rätselhafte Spektrum“, wie fandest du den?

0:03:11

Jakob Hofmann: Wenn ich den irgendwie bewerten müsste, dann finde ich ihn doch ganz treffend. Denn er sagt eigentlich genau das, wie es ist. Es ist bekannt. Wir haben irgendwie einen Namen dafür. Wir nennen das ‚Autismus‘. Wir kennen diese ganzen Spektren, wie wir das beschreiben. Eben auch über den Autismus hinaus, weiter in den Bereich der Neurodivergenz. Und es ist aber eben rätselhaft. Also, so viel wir auch wissen, wir wissen bei Weitem nicht genug. Und meine Mutter sagte mal einen Satz, der das auch nochmal unterstreicht: Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten.

Marco Tiede: Ja, das wird häufig zitiert.

Jakob Hofmann: Das unterstreicht, finde ich, nochmal diesen Begriff ‚rätselhaft‘. Und das ist einfach so.

Marco Tiede: Ja, ich hab das so tatsächlich zweigleisig gesehen. Das eine, so wie du das benennst: Dass wir inzwischen, zumindest wenn wir uns damit beschäftigen, viel über Autismus wissen. Und gleichzeitig bleibt es rätselhaft. Aufgrund dieser Facettenvielfalt oder der Vielfältigkeit. Ich glaub, das doppelt sich, ne? ‚Facettenvielfalt‘? Also, der Vielfältigkeit.

Und zum anderen, glaube ich, ist es aber auch immer noch ein Rätsel. Für große Teile der Menschheit. Die darüber gar nichts wissen. Die dann immer wirklich gucken, als ob sie da gerade eine andere Spezies oder Außerirdische treffen. Obwohl das Wrong-Planet-Syndrom ja anderen zugeschrieben wird. Aber Jason hat das ja mal ganz geschickt umgekehrt. Er sagt: Ich bin eigentlich fein mit mir. Ich glaub, die anderen sind hier falsch auf dem Planeten. Siebte Folge war das, ne? Aber das finde ich noch so diese Erweiterung dieses Begriffes oder dieses Attributs ‚rätselhaft‘.

Dass viele das als Rätsel empfinden, weil sie sich damit nicht beschäftigt haben. Nicht beschäftigen konnten. Oder gar: nicht beschäftigen wollen. Und das dann so als Modeerscheinung abtun und denken: Ja, ist doch alles Blödsinn! Mode! Bäh! Und dann bleibt es ein Rätsel.

Jakob Hofmann: Ja, das stimmt.

0:05:17

Mirjam Rosentreter: Bei uns im Elternkreis, den Marco und ich ja auch für den Martinsclub moderieren, da taucht das Wort rätselhaft auch mal immer wieder auf. Und dann entsteht manchmal der Wunsch: Ich würde so gerne mal in die Zukunft reisen. So ein paar Jahre voraus. Wenn mein Kind vielleicht erwachsen ist. Und ich einfach Fragen stellen könnte.

Und jetzt haben wir da so einen jungen Erwachsenen sitzen. Der ist letztes Jahr 18 Jahre alt geworden. Vor anderthalb Jahren hast du aber erst deine Autismusdiagnose bekommen. Im Mai 2014.

Jakob Hofmann: Ja, Mai, April um den Dreh. 2024, ja.

Mirjam Rosentreter: Und in unserem Vorgespräch meintest du: Durch diese Diagnose bin ich selber auch in so einer merkwürdigen Situation, dass ich irgendwie so ganz neu auf mein eigenes Erwachsenwerden schaue.

0:06:04

Jakob Hofmann: Das ist auf jeden Fall so, ja. Einerseits hat sich natürlich erst mal retroperspektivisch ganz viel erschlossen. So rückblickend. Dass ich gedacht habe: Ah ok, ja damals! Als Beispiel mal mit fünf Jahren oder so. Da erschließt sich mir jetzt einiges. Andererseits ist es aber eben genau so: Also, dass man eben, dass ich eben merke: Ok, für mich ist irgendwie 18 zu sein und erwachsen zu werden so ganz… Klingt so ganz kitschig: Ist nicht nur das Altern und Reifen. Sondern ist eben auch das Lernen. Sich mit seinem eigenen Dasein im Spektrum irgendwie zurechtzufinden. Und auch abzufinden. Das hat auch viel mit Akzeptanz natürlich zu tun. Und ich vermute einfach mal stark, dass das über die Jahre, die man dann lebt, mit so einer Diagnose immer weiter zunimmt. Also, sowohl die Akzeptanz. Als auch irgendwie der Werkzeugkasten, mit dem man da… Den man zur Verfügung hat, um damit zurecht zu kommen. Und genau: Das ist eben dann ein bisschen mehr, als nur in Anführungszeichen ‚erwachsen zu werden‘. Und auslernen tun wir eh nicht. Also, völlig egal, wie alt wir sind.

Marco Tiede: Das stimmt, klar. Ja, es ist ein spezifisches Erwachsenwerden. Was man rückblickend nochmal neu ansehen kann. Hattest du da ein Beispiel, als du an fünf Jahre dachtest?

Jakob Hofmann: Nö.

Marco Tiede: Hätte ja sein können.

Jakob Hofmann: Das war wirklich nur ein spontanes Beispiel.

0:07:49

Marco Tiede: Jason hatte das, glaube ich, mal benannt. Der hatte im Kindergarten schon versucht, seinen Leuten zu erklären: Wenn sie auf dem Verkehrsspielteppich gespielt haben. Dass man doch bitte rechts vor links fährt! Warum die das nicht kapieren?

Jakob Hofmann: Ja, richtig so! Das ist gut so. (Marco schmunzelt)

Marco Tiede: Jaja. Aber, er konnte sich nicht so richtig erklären, warum das die anderen Fünfjährigen nicht wussten. Denen war das völlig egal!

Jakob Hofmann: Sowas habe ich nicht so viel erlebt. So Besonderheiten in meiner Kommunikation und so. Die dann bei anderen auf Unverständnis gestoßen sind. Aber ich höre das immer. Ich kriege es live nicht mit. Aber ich höre es immer von meinem jüngeren Bruder. Der ist neun. Und der hat die Autismusdiagnose jetzt schon drei Jahre, glaube ich. Ich weiß es gar nicht so genau. Jedenfalls merklich länger als ich.

Und dem begegnet sowas immer, ständig. Ständig. Dem begegnet das sein ganzes Leben lang bisher schon! So ein Paradebeispiel war mal: Das war eine Situation wohl bei uns im Garten. Von der mir meine Mutter erzählte. Und danach habe ich ihn dann auch mal irgendwie dazu versucht, ein bisschen zu fragen. Habe nicht so viel rausbekommen. Aber meine Mutter erzählte irgendwie, wie er plötzlich mit strammen acht Jahren das Wort ‚Ambivalenz‘ verwendete. Und auch relativ genau benennen konnte, was das denn heißt.

Und er dafür beleidigt wurde. Weil es Angst macht, verunsichert, wie auch immer. Auf jeden Fall verstehen es andere Menschen dann nicht. Und das hat den völlig fertig gemacht. Das hat seinen Selbstwert total gekillt.

Marco Tiede: Mhm, krass.

Jakob Hofmann: Das hat ihm richtig wehgetan. Weil: Ich kann ja selber nicht verstehen, dass jemand anderes mich nicht versteht. Das ist ja so. Wir sprechen zwei verschiedene Sprachen dann irgendwie im Endeffekt. Und kommen dann irgendwie auf keinen Nenner.

0:09:59

Marco Tiede: Jaja, was dann schon seltsam genug ist. Weil: An sich meint man ja über denselben Wortschatz zu verfügen.

Jakob Hofmann: Ja, man meint.

Marco Tiede: Und trotzdem kommt anderes an.

Mirjam Rosentreter: War das bei dir auch so? Dass du schon ganz jung so einen großen Wortschatz hattest?

Jakob Hofmann: Das weiß ich gar nicht so genau. Da könnte man jetzt meine Mutter fragen. Nochmal zum Kontext: Meine Mutter war alleinerziehend mit mir einige Jahre lang. Und die kennt mich am besten so. Also auch Jochen kann das gar nicht so wirklich beurteilen. Weil der mich seit meinem achten Lebensjahr erst kennt. Und ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.

Also, ich weiß, dass ich auch schon immer irgendwie sprachinteressiert bin. Und auch mit Sicherheit irgendwie sprachbegabt. Das hat man auch in der Schule einfach gemerkt. Aber nö. Keine Ahnung, ehrlich gesagt.

0:11:01

Mirjam Rosentreter: Nochmal auf das Wort ‚Ambivalenz‘ zurück. Das dein Bruder kannte. Das hast du auch in der Dokumentation benutzt. Und zwar als du versucht hast zu beschreiben, was bei dir im Kopf passiert.

Jakob Hofmann: Ah, ja, ich erinnere mich! Der sagenumwobene Clip! Den die liebe Arte-Redaktion dann relativ, meiner Ansicht nach, relativ schlecht zusammengeschnitten auf Instagram veröffentlicht hat. Um diesen Film zu bewerben.

Ja, ich habe tatsächlich irgendwie einen Bezug zu diesem Wort ‚Ambivalenz‘. Weil das für mich immer mit Autismus zu tun hatte. Auch bevor ich die Diagnose bekommen habe.

Habe ich interessanterweise auch heute noch mit meiner Psychotherapeutin drüber gesprochen. Das ist: ‚Ambivalenz‘ im autistischen Sinne ist für mich das Ausloten von Emotionen. Also Emotionalität und Rationalität. Und wo finde ich die Mitte? Wo kommt es ins Gleichgewicht? Und so ist es dann auch im Kopf. Da schaukeln sich dann irgendwie Emotionen hoch oder so. Aufgrund von was auch immer. Reizung. Irgendwelchen Gedanken, die man hat.

Das kann eskalieren. Das kann aber auch durch einen rationalen Part, so auf so einer Meta-Ebene sozusagen, reguliert werden. Und in so einer Selbstregulation dann wieder runtergefahren werden. Und dann gibt es einen Teil, der ist noch relativ emotional geladen. Und einen Teil, der aber sagt: Nee, guck mal, das und das sind die Fakten! Und das ist diese Ambivalenz. Die für mich irgendwie immer mit Autismus, also in meinem eigenen Wahrnehmen, zu tun hat. Und hatte.

0:12:50

Mirjam Rosentreter: Meinst du damit: Du kannst das nicht richtig entkoppeln? Weil das immer zwangsläufig miteinander verknüpft ist? Dass du quasi nicht richtig nur einfach ins Gefühl reingehen kannst zum Beispiel?

Jakob Hofmann: Korrekt, ja. Ja, und aber eben auch andersherum. Also, wenn ich weiß: Okay, so und so sieht es aus. Und das ist Gesetz, das ist Fakt. Dann gibt es immer auch irgendwie einen kleinen Anteil, eine kleine Stimme, die sagt: Ja, aber sperrst du dich nicht damit gerade ein? So viel Sicherheit, wie dir das auch gibt! Das ist toll, dass du das weißt und so. Aber du quetschst dich ja in ne Zwangsjacke! Und du musst ja raus. Und du kannst auch nicht immer in deiner Komfortzone bleiben!

Aber dann kommt wieder der rationale Part und weiß: Ja, wenn ich jetzt aus meiner Komfortzone rausgehe, dann laufe ich natürlich Gefahr, irgendwie zu crashen. Und ja, und hin und her. Und weiter geht’s.

0:13:48

Marco Tiede: Für mich war noch mal interessant, dass du das auch parallel genannt hast. Mit dem: Entweder werde ich richtig, richtig wütend. Oder war es ein ‚und‘? Und ich crashe. Oder ist das eine Unterscheidung? Weil dieses Crashen, meine ich, ist ja noch mal was anderes, als das richtig, richtig wütend erden. Oder: Das eine geht ins andere über.

Jakob Hofmann: Es ist schon beides ein Crash. Es ist nur, ich konnte das für mich noch nicht ganz klar machen. Unter welchen Bedingungen der Ausbruch und unter welchen Bedingungen der Einbruch quasi zutage tritt. Es ist entweder ein Crash, in dem ich völlig ausbreche. Und anfange zu schreien. Das habe ich alles schon so irgendwie… In die Gemüseschale gegriffen und zehn Tomaten zerquetscht! Und danach durch die Küche geschleudert.

Oder so: Oder Mutters Blumen, die unterm Carport standen, in einer Tüte voll spannend durch den ganzen Garten gejagt. Danach war ich nicht der einzig Schreiende!

Marco Tiede: Ja, ja.

Jakob Hofmann: Oder eben: Ich verstumme. Und ich bin nicht mehr wirklich ansprechbar. Und nehme irgendwie durch einen Schleier alles wahr. Ich weiß es nicht. So psychologisch bin ich nicht bewandert. Aber ich interpretiere das so ein bisschen wie so eine ‚Dissoziation‘. Keine Ahnung, weiß ich nicht. Aber auf jeden Fall: Wir nennen es ‚Shutdown‘.

0:15:22

Marco Tiede: Ja, das wollte ich wissen.

Jakob Hofmann: Genau. Also, wir nennen es ‚Shutdown‘.  Und den Ausbruch nennen wir eben ‚Meltdown‘, ne?

Marco Tiede: Ja.

Jakob Hofmann: Genau. Und da zieht sich irgendwie alles zusammen. Und häufig ist es dann auch so, dass ich auch so Berührungen und so gar nicht mehr… Ja, also ich merke die wohl! Aber die Reaktion fehlt.

0:15:43

Marco Tiede: Das könnte zur Dissoziation passen. Dass du aus dir heraustrittst. Um überhaupt erstmal in einer Art von Reizfreiheit zu kommen. Weil du diese Reize nicht mehr abkannst. Dann ist es der vielleicht ‚dissoziative Shutdown‘. Es ist vielleicht synonym.

Was ich mich eben noch gefragt habe: Inwieweit es für dich auch eine Unterscheidung gibt zwischen diesem ‚Wutausbruch‘. Und dem ‚Meltdown‘. Weil: Es gibt so Unterscheidungsmerkmale in der Literatur. Die ich dann auch bislang so verbreite in Fortbildungen. Dass ich sage: Wenn jemand wütend ist, dann hat er schon noch ein Interesse daran, dass man das mitbekommt. Weil: Es gibt einen Grund. Es gibt eine Ursache für meine Wut. Und dann möchte ich auch das mitteilen. Und es sollen alle mitbekommen. Also: Publikum ist wichtig.

Wenn ich aber einen ‚Crash‘ oder einen ‚Meltdown‘ habe. Dann habe ich überhaupt keinen Blick mehr dafür. Ich habe keine Kontrolle. Keine Impulskontrollsteuerung mehr. Und dann ist mir auch jedes Publikum egal.

Jakob Hofmann: Das stimmt. Nee, ja, da hast du recht. Dann ist ‚Wut‘ vielleicht tatsächlich der falsche Begriff.

Marco Tiede: Weiß ich nicht.

Jakob Hofmann: Es ist schon so. Also, ich habe das selten gehabt. Also, mein Bruder… Das kann ich mal so sagen: Der hatte sowas. Mittlerweile hat er es natürlich auch noch. Aber der hatte sowas vor ein, zwei Jahren zweimal am Tag!

Marco Tiede: Das ist heftig, ja. Und auch arg anstrengend.

Jakob Hofmann: Unsagbar anstrengend! Nicht nur für ihn. Natürlich auch für alle drumherum. Aber vor allem für dieses Kind.

Marco Tiede: Absolut, ja.

Jakob Hofmann: Und ich hab‘ das… Ich kann das an zwei Händen abzählen, wie häufig ich das in meinem Leben hatte, ja. Ich hatte viel, viel, viel, viel häufiger den Shutdown als den Meltdown. Und aber ich würde schon sagen: Dann hast du recht, ja. Dann ist Meltdown der richt…, also, zumindest bei mir, zutreffendere Begriff. Weil, in so einem Moment ist bei mir auch jede Impulskontrolle weg. Und jede Regulation. Da geht es nur noch um raus.

0:17:44

Marco Tiede: Ja, was die Unterscheidung dann noch schwerer macht, ist glaube ich: Dass manchmal auch ein Meltdown aus einem Wutausbruch resultieren kann.

Jakob Hofmann: Das Stimmt.

Marco Tiede: Weil, die Wut ist ja auch ein Reiz, der in mir selbst entsteht. Also die ganzen Stresshormone, die dann rausgeschüttet werden. Und dann eben der Meltdown. Der ja oft aus einer Überlastung der Reizverarbeitung entsteht. Und wenn dann noch eine Emotion wie Wut dazu kommt. Kann ja auch eine Überraschung oder eine übergroße Freude sein. Die auch in einem Meltdown entstehen kann.

0:18:17

Jakob Hofmann: Ja, das habe ich auch schon erlebt.

Mirjam Rosentreter: Gehen wir mal auf die andere Seite der Skala der mentalen Zufriedenheit. (Schmunzeln) In welchen Momenten als kleines Kind warst du denn so ganz bei dir?

Jakob Hofmann: Inwiefern bei mir.

Mirjam Rosentreter: Dass du so voll in einer Sache aufgegangen bist. Und dich richtig wohl gefühlt hast.

Jakob Hofmann: Also… Als kleines Kind war das am meisten eigentlich bei meinen Großeltern. Immer. Das war so: Ich war als Kind zweimal die Woche dort. Und da ich jetzt nicht so die tollen Erfahrungen mit meinem leiblichen Vater gemacht habe. Ganz im Gegenteil. Deswegen war meine Mutter auch alleinerziehend. Also, mein leiblicher Vater und meine Mutter haben sich getrennt, da war ich drei.

Deswegen waren meine Großeltern immer das Paradies für mich. Und das war das Maximum an Sicherheit. Und das war auch… Da haben sich meine Mutter und meine Großeltern auch häufig in der Wolle gehabt. Als es darum ging, wie viel Fernsehen der Junge denn jetzt darf. Und so weiter und so fort. Und da sind meine Großeltern immer, immer stur geblieben. So nach dem Motto: Nee, das Kind hat keinen Vater. Der darf alles. Der darf hier alles! Alles, was ihm gut tut.

Mirjam Rosentreter: Ach so (lacht). Ich dachte gerade mit dem Vorsatz, ‚sind sie stur geblieben‘: Nee, wir wissen, was gut für dich ist. Du guckst jetzt nur eine Folge Sendung… Aah!

Jakob Hofmann: Ganz im Gegenteil! Sie sind… Wenn meine Mutter versucht hat, das zu regulieren, hat mein, gerade mein Großvater, eigentlich noch weiter frei gedreht. (Marco Tiede lacht auf)

Und, nee. Und da hab‘ ich mein erstes richtiges Spezialinteresse irgendwie dann immer gefüttert. Mein Großvater hat damals, als wir noch nicht diese ganzen tollen Streamingdienste hatten… Ne, ich mein, Youtube gab’s… Nee, doch! Youtube gab’s schon! Natürlich! Ähm… Da hat mein Großvater immer fleißig Dokus über maritimes Leben aufgenommen. Also aufgezeichnet, richtig noch, ne, im Fernsehen, so (schmunzelt). Ganz komisch, das 2025 noch zu sagen.

Marco Tiede: (ironisch)Aber nicht mehr auf VHS-Bändern!

Jakob Hofmann: Nein, nein! Dann würd‘ ich mich älter machen, als ich bin. Deutlich! Aber es ist… Genau: Und ich hab‘ da immer gesessen. Stundenlang. Stundenlang in diesem Wohnzimmer. Und hab mir über jeden einzelnen Wal und alles Mögliche: Pflanzen, Tiere, alles. Alles, was unterhalb der Meeresoberfläche irgendwie lebt. Hab mir das reingezogen. Und konnte natürlich auch alles auswendig. Und, ähm, dann hab‘ ich da gesessen. Und da war ich… Da war ich völlig bei mir. Weil ich eben auch wusste: Sobald dieses – und das ist nämlich der entscheidende Faktor: Sobald ich dieses Spezialinteresse da grade nicht mehr bedienen kann, aus welchem Grund auch immer, ne? Keine Ahnung: Fernseher geht aus, ne? Und jetzt ist Schicht im Schacht. Bin ich immer noch sicher! Ne? Und das wusste ich einfach. Und da konnte ich wirklich sehr, sehr bei mir sein. Immer. Das war…. War sehr gut.

0:21:48

Mirjam Rosentreter: Hast du diese Ressource bis heute?

Jakob Hofmann: Bei meinen Großeltern?

Mirjam Rosentreter: Ja, ich habe jetzt gerade noch an die Dokus gedacht. Also, dass du dich in diese Welten zurückdenkst? Dass du in Situationen, die stressig sind, dich vielleicht unters Meer träumst?

Jakob Hofmann: Nee.Das habe ich nicht. Ja.

Marco Tiede: Ich glaube, das ist ja auch… Also wie ich dich verstand: Das ist ja keine Traumwelt. Sondern das war ja eine sehr faktische Welt. Wo es viel zu entdecken gab.

Jakob Hofmann: Ausschließlich. Es ging ums Wissen. Also das ist mein Leben lang auch schon so: Wissen, Wissen, Wissen, Wissen.

Mirjam Rosentreter: Also, du hast dir nicht selber vorgestellt, du wärst da unter den Tieren und…

Jakob Hofmann: Das hatte überhaupt nichts Spielerisches! Sondern wirklich: Auch als Kind im Kindergarten, in der Grundschule war das Wissen.

Marco Tiede: Ich glaube, das ist auch so dieser häufige Irrtum. Der aufkommt, wenn es dann heißt: Ja, so ein autistisches Kind hat ja so seine eigene Welt. Oder ist in seiner eigenen Welt. Aber es geht um einen Sicherheitsraum. Der sich in einem Spezialinteresse abbilden kann. Weil eben diese sichere Kenntnis dieser vielen Fakten eines bestimmten Sachgebietes. Egal welches. Jetzt hier vielleicht die Meeresbiologie. Einfach Sicherheit vermittelt. Und wenn die Sicherheit genommen wird, dann kann man nicht mehr so gut bei sich sein. Ich glaube, das Bei-sich-Sein ist eine Art von Sicherheit-Spüren. Und das ist ja grundlegend wichtig für einen Menschen: Sich sicher zu fühlen.

Mirjam Rosentreter: Gab es dann später in der Schule vielleicht mal einen Moment, wo Meeresbiologie irgendwie ein Thema war? Und das auf einmal in einem anderen Kontext für dich dann ganz merkwürdig war?

0:23:36

Jakob Hofmann: Nee, es war total geil! Weil ich dann dastand und irgendwie Referate gehalten habe und so. Und das war ein Heimspiel! So ein völliges Heimspiel. Und dann habe ich nämlich gemerkt: Ah ja, okay. Das ist gar nicht nur irgendwie zu meinem eigenen Vergnügen. Sondern es gibt sogar Leute, die wollen das auch noch von mir wissen! Und dann da irgendwie zu stehen als Zehnjähriger oder so. Und dieses Gefühl zu kriegen: Ah okay, jetzt kann ich da in der Schule mal richtig zeigen, was ich draufhabe! Das ist schon toll. Das ist so.

Marco Tiede: Dann kannst du da in den Sicherheitsraum.

Jakob Hofmann: Und das eben vor irgendwie MitschülerInnen und Lehrkräften. Wo man vielleicht eher gerade mit irgendwie sozialen Unsicherheiten. Wie das eben auch bei mir mit dem Autismus so ist. Wo man vielleicht eher Angst hat. Aber wenn man dann dieses… Dann hat tatsächlich… Das war in der fünften Klasse irgendwie sowas. Da ging es dann darum. Da gab es eine ganze Projektwoche. Und da habe ich alles mitgenommen. Also alles, was ich irgendwie präsentieren konnte. Habe ich rausgehauen, was ging.

0:24:56

Mirjam Rosentreter: Was hat dir denn in der Schule Angst gemacht?

Jakob Hofmann: Oh, Schule ist ein Thema für sich bei mir. Das ist… Kann ich lange darüber berichten. In der Schule Angst gemacht hat mir erstmal gar nichts. Ich wurde eingeschult mit einem meiner damals besten Freunde. Mit dem ich auch schon im Kindergarten war. Wir sind zusammen nahtlos aus dem Kindergarten in die gleiche Schule. Und es war Hammer und super toll.

Ich war an der Waldorfschule in Osterholz in Bremen. Und das war auch gut. Waldorfschule – sehe ich mittlerweile auch alles ein bisschen anders. Aber ich finde für Kids ist es ein toller Ort. Für Jugendliche nicht mehr. Oder junge Erwachsene. Das kannst du vergessen.

Und da habe ich aber aus Intuition. Aber auch weil es ein bisschen provoziert wurde von meiner damaligen Klassenlehrerin. Habe ich schnell eine sozial – so doof das klingt, führende Rolle in der Klasse eingenommen. Und das klingt erstmal total paradox: Das ist ein Autist, der da irgendwie eine führende Rolle inne hat. Aber es war so! Und für mich war das aber nicht, weil ich irgendwie Bock darauf hatte zu sagen, wo es lang geht. Sondern weil: Dann habe ich Kontrolle!

Wenn jeder mich gut findet. Und ich auch mit allen gut bin, ne? Nicht alle sind meine Freunde. Aber ich hatte jahrelang mit keiner Person aus der Klasse wirklich ein Problem, ne. Aber ich auch weiß: Okay, die haben mit mir auch kein Problem. Dann brauch ich ja keine Angst haben. Und das hat funktioniert. Ewigkeiten. Und das hat so lange funktioniert, bis ich gemerkt habe: Ah, okay. Wir werden alle… Oder wir sind dann, dann waren wir alle so 15, 16. Und dann habe ich gemerkt: Okay, ich bin ein richtiger Vollblutteenie gerade. Und alle anderen auch! Und jetzt entwickeln sich die Menschen in ihre eigenen Richtungen. Und jetzt ist man nicht mehr… Und das war in der Waldorfschule. Deswegen meine ich auch: Für Kids ist das der Hammer. Weil: Das Gemeinschaftsgefühl, das wurde gestärkt wie sonst was in der Waldorfschule!

Das war eine Einheit! Ne? Ein Block an Kindern.

Und das hat sich aufgedröselt. So ab der, ja, 8. Klasse. Wobei, da ist man eher dann 14, ne? So als man dann Teenie war, irgendwie. Und dann habe ich gemerkt: Okay, die Menschen entwickeln sich weg. Und dann kann ich die Kontrolle ja gar nicht mehr haben. Wenn nicht mehr alle so nah beieinander sind. Mit ihren Vorstellungen. Ne? Mit auch ihren Horizonten. Die ja natürlich als Kind noch deutlich kleiner sind.

Und dann habe ich die Kontrolle losgelassen. Komplett. Von jetzt auf gleich. Und dann ging es bergab. Dann ging es stark bergab. Weil: augenblicklich kam die Angst. Und augenblicklich habe ich gemerkt: Okay, die Person hat ganz, ganz andere Werte als ich. Und: Wow, da werden irgendwie gerade sexistische Dinge gesagt! Und ich weiß überhaupt nicht, wie ich damit umgehen soll. Wenn ich jetzt aufstehe und losschreie, was passiert dann? Wenn ich die Klappe halte? Dann machen die Personen einfach weiter.

Wie händle ich das? Und solche Dinge. Und das kam dann alles. Immer wieder. Und immer wieder. Und immer wieder gab es dann so Situationen, wo ich einfach nicht mehr wusste, was ich tun sollte. Weil ich das Gefühl hatte: Dadurch, dass ich diese Kontrolle abgegeben habe, kenne ich die Menschen nicht mehr. Es sind Fremde! Und dieses Fremde, das hat mir immer wieder Angst gemacht. Und so doll Angst, dass ich dann in einem Burnout gelandet bin. Mit 17! Da bin ich ironischerweise ein bisschen stolz drauf. Das schaffen nicht viele.

Mirjam Rosentreter: So früh, meinst du?

Jakob Hofmann: So früh.

Mirjam Rosentreter: Bitter.

Jakob Hofmann: War auch nicht toll. Und dann habe ich die Diagnose ‚Autismus‘ gestellt bekommen. Weil ich mich gefragt habe, beziehungsweise meine Eltern und ich uns gefragt haben: Was ist hier eigentlich los? Weil, es lief ja jahrelang so gut. Und habe dann, genau, die habe ich Frühjahr 2024 bekommen. Und das letzte Mal in der Schule war ich: Vor den Sommerferien 2024.

Also, ich habe dann… Nach der 11. Klasse bin ich von der Schule runter. Obwohl ich eigentlich immer den Plan hatte, da ein Abitur zu machen. Und habe gesagt: Nein. Nie wieder! Beziehungsweise, ich habe mich erstmal für drei Monate freistellen lassen. Ab Beginn des Schuljahres 2024, 2025. Und dann habe ich diese Pause gemacht. Mit der Intention, dann, wenn es Richtung 18. Geburtstag geht – der war dann im November letzten Jahres – zu gucken: Komme ich denn zurück an die Schule? Und mache ich quasi einen Neuanfang?

Und das habe ich dann gemacht. Und bin dann wiedergekommen. Und habe dann bei dem Gedanken an Schule eigentlich umso mehr gemerkt: Ne, vergesst es!

0:30:22

Marco Tiede: Ein bisschen erinnert mich das, was du erzählst, auch an die Erzählung von Imke. Die auch mal hier war. Die ja auch für sich so in der, ich glaube ungefähr auch so in dieser Grundschulzeit für sich die Leute ganz gut sortieren konnte. Und das ganz gut, wie du vielleicht auch sagst, kontrollieren konnte. Und in der Pubertät war plötzlich alles komplett anders.

Dazu kommt ja auch, dass in Waldorfschulen dann die Klassenleitung wechselt.

Jakob Hofmann: Der Klassenlehrer ist weg.

Marco Tiede: Weil, die sind acht Jahre miteinander gewesen. Zack, hast du jemand ganz anderes! Alles anders! Aber das ist diese Kontrolle. Du sagst, du hast sie abgegeben. Vielleicht war es auch ein bisschen was von beiden: Du hast sie abgegeben und sie ist dir entglitten. Weil einfach die Pubertät hereinbrach über alle.

0:31:08

Mirjam Rosentreter: Ja, das wollte ich vorhin auch fragen. Weil du das auch so betont hast, dass du sie losgelassen hast. Also, als wäre das ein bewusster, als wäre das eine bewusste Entscheidung gewesen.

Jakob Hofmann: Das war’s.

Mirjam Rosentreter: Aber wie? Wie hast du das denn konkret gemacht? Hast du dann einfach, wenn… Wenn jemand eine Frage gestellt hat und jemand anderes hat geantwortet. Hast du nicht mehr geantwortet? Oder hast du nur noch zugehört? Oder…

Jakob Hofmann: Naja, also diese kontrollierende Funktion hat sich auch immer so dargestellt, dass ich einfach für die Klasse eingestanden bin. Ich, ähm…

Mirjam Rosentreter: Auch Klassensprecher gewesen?

Jakob Hofmann: Ja. Natürlich. Ich war Klassensprecher. Ob gewählt oder nicht gewählt, war auch egal (Marco schmunzelt). Ich war Klassensprecher! Also mal war ich gewählt. Mal war irgendein, tut wir leid, Heijo Pai gewählt. Trotzdem habe ich den Job irgendwie gemacht! Und ich habe auch die… Wie das an der Waldorfschule so ist: Ich finde die Quote da an Menschen, die dem offiziellen Stand der Wissenschaft nicht glauben, ist auch relativ hoch. Ich habe auch die Lehrerin angeschrien! Wenn die irgendeinen Quatsch erzählt haben (flüstert): Wir brauchen keine Maske! Wie, Corona? Brauchen wir nicht! Da habe ich… Ich hätte da eigentlich… Eigentlich hätte ich von dieser Schule fliegen können! Aber hochkant!

Mirjam Rosentreter: Als du noch die Kontrolle hattest.

Jakob Hofmann: Als ich noch die Kontrolle hatte. Und dann habe ich die Kontrolle nämlich insofern losgelassen – und das war auch sehr bewusst – weil  ich gemerkt habe: Okay, ich habe Freundinnen, denen ich blind vertraue. Die mir blind vertrauen. Und die mich auch nicht infrage stellen. Da ist es sowieso egal, ob ich jetzt Autist bin oder nicht. Völlig egal!

0:32:49

Mirjam Rosentreter: Und du hattest ja auchdeine Freundin mit in der Klasse? Oder?

Jakob Hofmann: Ja, das war dann erst später.

Mirjam Rosentreter: Ach so, okay.

Jakob Hofmann: Wir haben uns dann erst kennengelernt, als es für mich richtig bergab ging. Und…

Mirjam Rosentreter: Oh. Können wir vielleicht gleich noch drauf kommen.

Jakob Hofmann: Genau. Da können wir gleich gerne noch zu kommen. Und jedenfalls, war es dann so: Ich wusste, ich habe meine FreundInnen irgendwie. Und bin safe. Außerhalb der Schule. Und innerhalb der Schule sind aber meine Werte, die ich habe, völlig alleine.

Und dann, also, ich sage das immer so: So, so komisch irgendwie. Dann fangen an, junge Männer, da völlig frei zu steuern! Und irgendwie sich über Dinge zu definieren, die ich für so verwerflich halte! Dass ich da irgendwie auch gar keinen Kommentar mehr zu finde. Und so ging es mir dann da auch schon. Und mit der Jugend kam das dann.

0:33:47

Marco Tiede: Also war die Jugend auch nicht frei von materialistischem Status.

Jakob Hofmann: Nein! Materialistisch, sexistisch, patriarchal. Rassistisch auch! Nee, so alles, was dazugehört. Natürlich. Und dann irgendwie auch dieser klassische Teufelskreis: Dass da Mädels sitzen und einfach die ganze Zeit die Klappe halten. Und ich denke: Leute! Irgendwie… Wir kommen so nicht voran! Nee! Wenn es irgendwie ein paar Knallos gibt, die die ganze Zeit Scheiße bauen. Und die Opfer sitzen stumm daneben? Es tut mir leid, ne, aber: Das ist auch hart. Aber irgendwie, wenn man auch nur die Klappe hält, dann ändert sich auch nichts!

Und dann stand ich irgendwie dazwischen. Und dann ging das nämlich auch so los mit dieser Männlichkeitsbildung. Was ist eigentlich Männlichkeit? Und das ist immer die wichtigere Frage bei den Jugendlichen. Als was eigentlich Weiblichkeit ist. Klar, ne? Ist leider Gottes so. Weil die Männer sind immer die Lauteren. Und dann habe ich gemerkt: Puh, ich entspreche denen so gar nicht! Also, null! Und das war total schlimm. Und dann habe ich aber gemerkt: Okay, aber ich kann die nicht ändern! Es funktioniert ja nicht. Ich kann zwar sagen, dass ich scheiße finde, was sie sagen. Wie die drauf sind. Aber ändern tue ich sie dadurch nicht. Und dann habe ich sozusagen aufgegeben. Und das war ganz bewusst. Und da habe ich dann ganz bewusst die Kontrolle abgegeben. Und da habe ich auch gesagt: So, Jungs! Also, ich bin tatsächlich zu denen hingegangen! Und habe das denen gesagt.

Und ab da war ich eigentlich so ziemlich alleine. Ich hatte eine enge Freundin in der Klasse. Die aber auch ein sehr besonderer Charakter ist. Weswegen die sehr selten nur in der Schule war. Das heißt, da gab es auch keine Konstante. Und dann war ich in der Schule eigentlich alleine.

Und dann, meine ich eben: Und dadurch, dass es auch alles so ganz andere Werte waren als meine, war das für mich so fremd. Es hat so eine ganz schnelle radikale Entfremdung stattgefunden. Und dann ging es für mich irgendwie mit der Angst los.

0:36:02

Mirjam Rosentreter: Die Angst, die mit dem Burnout irgendwie verknüpft war?

Jakob Hofmann: Ja, das Burnout war dann so das Endstadium, ne? Darin ist dann alles gemündet irgendwie. Und dann…

Mirjam Rosentreter: Du hast gesagt, deine Freundin hätte dir geholfen, dich da rauszuholen. Kannst du das kurz schildern, wie das dazu gekommen ist?

Jakob Hofmann: In der Zeit, also so im ersten Halbjahr 2024, habe ich meine Freundin kennengelernt. Die ist auch immer noch in der Klasse jetzt gerade. Die macht Abitur momentan. Was ich da eigentlich auch gerne gemacht hätte. Aber können wir auch noch mal zukommen.

Und das war ganz aufregend irgendwie. Weil das eine Kennenlernzeit war in der Schule. Ganz skurril eigentlich. Weil man so gar nicht selber bestimmen kann, wie man sich sieht. Und wo und wann und so. Weil, das ist natürlich alles irgendwie fremdbestimmt. Durch diesen Schulalltag. Und trotzdem haben wir uns, haben wir schnell festgestellt: Okay, das passt ganz gut. Und sie hat dann tatsächlich innerhalb von wenigen Wochen ein Gespür dafür entwickelt, wann es Zeit war, mir zu sagen: Jakob, steh doch mal auf. Geh mal raus.

0:37:27

Marco Tiede: Also wenn sie gemerkt hat, du kommst gerade an so eine Reizüberflutungs-Schwelle.

Jakob Hofmann: Genau.Bei mir ist gerade das Fass quasi voll. Dass sie dann irgendwie Anstöße gegeben hat. Und das war total wichtig. Das hat extrem geholfen.

Marco Tiede: Das ist, was ich früher als Schulbegleiter gemacht habe. Den Kindern zu sagen: Hmm, ich glaube, jetzt können wir mal ein bisschen Rückzug gebrauchen.

Jakob Hofmann: Ja, genau.

Mirjam Rosentreter: Damit hat sie dir natürlich maximal Sicherheit dann wieder gegeben.

Jakob Hofmann: Auf jeden Fall. Ja. Ja, obwohl das ja… Naja: Ja, sie hat mir an sich Sicherheit gegeben. Aber eben diese Sicherheit kam von einem Menschen, bei dem ich eigentlich noch gar nicht so sicher war. Ne? Weil, wir kannten uns da ein paar Monate.

0:38:12

Mirjam Rosentreter: Ist ganz süß. In der Doku erzählt sie im Grunde, wie sie sich in dich verliebt hat.

Jakob Hofmann: Ja. Stimmt (schmunzelt).  

Mirjam Rosentreter: Sie sagt da, sie hätte dich von Anfang an cool gefunden, weil du dein Ding gemacht hast, hat sie es nicht gesagt. Moment, wo hab ich die Seite? Muss ich eben kurz zitieren.

Jakob Hofmann: Das weiß ich auch nicht mehr. (Papierrascheln, Mirjam macht ein Geräusch)

Marco Tiede: Raschel, raschel.

Mirjam Rosentreter: Am Anfang, so im Klassenraum, hatte Jakob so eine total selbstsichere Art. Niemand konnte ihm was.

Jakob Hofmann: Ja.

Mirjam Rosentreter: Und dann sagt sie, sie mochte deinen Humor. Dass er Prioritäten und Interessen hat, die andere so gar nicht haben. Und das hat mich irgendwie so… Das hat gekribbelt. Das fand ich cool. Wie hat sich das für dich denn angefühlt? Wie war es denn umgekehrt?

Jakob Hofmann: Ja, das war super. Für mich war das irgendwie… Für mich war das… Ja, wie war das? Das war alles etwas getrübt. Einfach dadurch, dass ich da in so einem Dauerstress war. Und das war so ein Lichtblick.

Und warum ich diesen Menschen eigentlich so toll finde, das konnte ich da in der Schule gar nicht rausfinden. Ging gar nicht. Das war eine reine, war ein reines Bauchgefühl irgendwie.

Und das konnte ich erst, als ich dann nicht mehr in der Schule war. Da habe ich das dann so richtig gemerkt: Okay, aha! Wer das eigentlich ist. Weil es in der Schule… Da alles… Es war gar nicht…

0:39:50

Marco Tiede: Viel zu viele Störreize, oder?

Jakob Hofmann: Es ging überhaupt nicht! Weil es natürlich, wie gerade schon gesagt, einfach auch fremdbestimmt war. Und ich habe aber auch, ich habe schnell auch zu ihr dann gesagt: Es ist cool, dass wir in einer Klasse sind. Aber im Endeffekt stresst es mich dann doch auch. Und insbesondere, weil es mir jetzt gerade so schlecht geht.

Und dann erst im Sommer 2024 habe ich geschnallt, in wen ich mich da verliebt habe. Und ja, und jetzt sind wir immer noch. Und das ist auch gut so.

Marco Tiede: Klingt gut, ja.

Mirjam Rosentreter: In der Doku blickt auch deine Mutter auf diese Zeit zurück. Als elfte Klasse, als du dann abgebrochen hast. Und da sagt sie: Dann haben wir ihn da mit allen Beteiligten und mit seiner Freundin durchgecoacht.

Jakob Hofmann: Ja, das war auch so.

Mirjam Rosentreter: Wie kann man sich das vorstellen? Habt ihr euch alle um einen runden Tisch gesetzt?

0:40:54

Jakob Hofmann: Es gab verschiedene Bereiche, quasi. Es gab die akute, emotionale Ersthilfeleisterin, quasi so: Anna, in der Schule.

Und dann gab es aber eben meine Eltern. Die versucht haben, Anstöße zu geben. Was für Nachteilsausgleiche bräuchte ich. Und so weiter und so fort. Eben auch immer einfach da waren. Um mir meine Gefühle zu bestätigen. Also einfach, wenn ich aus der Schule gekommen bin und völlig durch war. Einfach zuzuhören und das zu validieren.

Mit Sicherheit war auch mein Arbeitsplatz ein Teil dessen. Denn ich habe als Schüler noch im Minijob zweimal die Woche gearbeitet.

Mirjam Rosentreter: In dem Outdoor- und Trecking-Laden.

Jakob Hofmann: Das ist ein Outdoor-Laden. Und da bin ich dann so im Mai, Juni 2024. Als es wirklich ganz schlimm war, auch mit diesem Burn-out und so.

Bin ich nahezu jeden Tag früher aus der Schule weg. Manchmal bin ich auch gar nicht zur Schule gegangen.

Am Ende gab es dann wirklich eine Phase, wo ich akute Angst hatte davor, da hinzufahren. Und da waren dann eben auch meine Eltern einfach da, ne? So. Und dann zeitgleich irgendwie Psychotherapeuten und so weiter. Und das meint sie mit ‚allen Beteiligten‘. Also, einfach so. Und das können meine Eltern wahnsinnig gut: Networken. Also, networken, allein um ihre Kids irgendwie besser zu situieren. Das können die beiden wahnsinnig gut.

Und, ähm, genau. Dann bin ich eben auch häufiger früher da aus der Schule schon weg. Und dann auch an Tagen, wo ich gar nicht arbeiten musste, bin ich einfach in den Laden gefahren.

0:42:57

Marco Tiede: Kannst du diese Angst beschreiben, die du da empfunden hast? Wenn du an Tagen, wo du nicht zur Schule gefahren bist, daran gedacht hast? Oder ist das schwer zu greifen?

Jakob Hofmann: Das ist total schwer zu greifen.

Marco Tiede: Ja, glaube ich. Weil, mir begegnet das auch im therapeutischen Kontext immer wieder. Dass es Kids gibt und auch Jugendliche gibt, die sagen: Das geht einfach nicht. Ich will eigentlich, aber das geht nicht.

Jakob Hofmann: Es geht einfach nicht.

Marco Tiede: Die dann fast zu so einer Erstarrung kommen. Aber das ist so schwer für Außenstehende zu vermitteln: Ja, da ist eine Angst. Und das ist ein fieses Gefühl. Das verbreitet größtmögliche Unsicherheit. Und die will kein Mensch. Das einfach mal zu akzeptieren. Oder, wie du sagst: Deine Eltern haben das auch validiert. Im Sinne von: bestätigt, gespiegelt. Ja, ich sehe deine Angst. Okay, damit sollst du nicht leben. Dann komm mal zur Ruhe. Oder wie auch immer.

Jakob Hofmann: Ja, das stimmt.

0:43:49

Mirjam Rosentreter: Du hast in der Doku gesagt, du würdest auch lieber eine ganze Woche durchschuften, inklusive Samstag, Sonntag, als in die Schule zu gehen.

Jakob Hofmann: Das ist auch immer noch so, ja.

Mirjam Rosentreter: Eine Situation kann man in der Doku ausführlicher begutachten. Weil da ja auch viele Szenen in dem Laden spielen, in dem du jobst.

Jakob Hofmann: Ich bin offiziell in Ausbildung. Aber zu einer Ausbildung gehört eben auch der Besuch der Berufsschule. Und das habe ich so fünf, sechs Mal geschafft. Und dann ging es schon nicht mehr. Denn die gleichen Ängste kamen zurück, dieses Fremde. Und es war genau das gleiche Gefühl, wie ich am Ende der Waldorfschulzeit hatte.

Und deswegen bin ich nun schon längerfristig krankgeschrieben für die Berufsschule. Und eigentlich würde ich gerne ein Abitur machen. Und diese Ausbildung war eben die Bedingung meiner Eltern. Das ist tatsächlich so gewesen: Dann musst du irgendwas machen, bevor du nichts machst.

0:44:47

Mirjam Rosentreter: Wegen der Struktur wahrscheinlich.

Jakob Hofmann: Wegen der Struktur. Aber eben auch mit Sicherheit aus der Sorge, so ganz kitschig, konservativ gesagt: Dass aus mir nichts wird.

Und dann war die Bedingung: Okay, du musst irgendwas tun! Also machst du eine Ausbildung. Da habe ich gesagt: Ja, okay, dann mache ich die Ausbildung da im Laden.

Also, die Zeit, die ich quasi nicht in die Berufsschule gehe, kompensiere ich durch Arbeitszeit. Trotzdem kriege ich niemals diese Ausbildung abgeschlossen. Weil ich den Theorie-Teil nicht erfülle. Auf kurz oder lang werde ich diese Ausbildung auch abbrechen. Aber erst wenn ich weiß: Okay, hier kann ich unter für mich funktionierenden Bedingungen das machen, was ich wirklich will. Nämlich: ein Abitur.

Und momentan bin ich deswegen zu einem verschwindend geringen Gehalt im Vergleich zu der Arbeitszeit, die ich leiste da im Laden. Und arbeite mir tatsächlich eigentlich den Arsch ab. Also es ist so.

0:45:51

Marco Tiede: Ich habe gerade überlegt. Weil wir auch immer wieder mit SchülerInnen zu tun haben, die dann eben da ihre Schwierigkeiten haben. In die Schule zu kommen. Aus verschiedensten Gründen. Welche Alternativen es gibt? Durch Webbeschulung, durch Fernbeschulung etcetera. Ist das schon mal in Erwägung gezogen worden?

Jakob Hofmann: Da bin ich gerade dran. Ja tatsächlich, also.

Marco Tiede: Weil das ist ja auch wieder das Ding mit der Bildung.

Jakob Hofmann: Ein Antrag ist gerade bei der Eingliederungshilfe.

Marco Tiede: Ja, dass Bildung sich so schwer tut damit. Weil sie ja alle Inklusion propagieren. Dann auch inklusiv weiterzudenken. Zu wissen, dass das Format Schule in Form von Präsenzbeschulung nicht für jeder Mensch geeignet ist. Und dann zu gucken: Was gibt es denn für Alternativen? An Online-, Fernbeschulung. Oder mit Teilpräsenzen in kleineren Gruppen. Da tut sich dann die deutsche Schullandschaft anscheinend noch schwer.

Jakob Hofmann: Sehr schwer.

Marco Tiede: Dass es genug Menschen gäbe, die davon sehr profitieren würden. Ich kenne einige davon.

0:47:05

Mirjam Rosentreter: Mich hat das, was du erzählt hast: Dass die Berufsschule so anstrengend ist. Und eigentlich nicht, überhaupt nicht machbar. An dieses Buch erinnert von der niederländischen Autorin Judith Visser: Mein Leben als Sonntagskind. Die das auch beschreibt. Also, falls du nochmal Lust hast? Wir haben uns darüber im Vorgespräch unterhalten, dass du nicht gerne Bücher liest.

Jakob Hofmann: Nee. Das stimmt.

Mirjam Rosentreter: Vor allen Dingen nicht autobiografisch gefärbte Bücher. Deine Mutter meintest du, würde auch versuchen, dir immer Bücher anzudienen. Um da reinzuschauen.

Was ich hier interessant finde bei ihr, sie sagt: Dieses Fremdheitsgefühl, das beschreibt sie auch. Also, was an der Berufsschule dann eigentlich nochmal schlimmer wird. Weil dann ja auch das intellektuelle Niveau so unterschiedlich ist.

0:47:48

Jakob Hofmann: Das ist ja aber an der Waldorfschule ja auch schon.

Marco Tiede: Hhmm.

Jakob Hofmann: An der Waldorfschule sind ja auch Menschen aus jeder Richtung. Das ist auch so. Aber an der Waldorfschule wird eben proaktiv daran gearbeitet, dass man das nicht merkt. Und dass eben auch, dass das nicht zur Grundlage von sozialer Differenzierung wird. Bei den Kindern schafft man das. Bei Jugendlichen schafft man das halt nicht.

Da schließt sich der Kreis wieder: Sobald die Kids jugendlich werden, ist da Hopfen und Malz irgendwie verloren. Finde ich. So war meine Erfahrung. Ist die Erfahrung von vielen Menschen, die ich kenne. Die auch an der Waldorfschule waren oder sind.

Mirjam Rosentreter: Ich habe vorhin, als wir bei dem Thema schon mal waren, vergessen nachzufragen: Ob du eigentlich so eine Art Outing hattest. Hast du das irgendwie so halbwegs offiziell gemacht, dass du eine Autismusdiagnose hast?

Jakob Hofmann: Nein.

Mirjam Rosentreter: Habe ich fast vermutet, ja.

0:48:46

Jakob Hofmann: Ich bin grundsätzlich mit diesem, mit dieser Information relativ vorsichtig. Ich meine, ne (schmunzelt): War in einer Doku von einer Bundesrundfunkanstalt, ne? So, also irgendwie, ich kann es jetzt auch nicht mehr retten. (Marco lacht) Aber jetzt sitze ich hier im Podcast, ne? So. Also, es ist schon draußen. In der Welt. Aber in Kreisen, so wie der Schule oder so. Wollte ich das nie… Wollte ich mich damit nie outen. Aus dem simplen Grund, dass ich… ähm. Naja: Dass man es mir nicht ansieht. Ne? Und… ähm. Ich eben die Angst davor habe, dass man mich damit nicht ernst nimmt. Und ich weiß: Wenn die Menschen zu mir kommen. Mit Kamera und Mikro und ne Doku über Autismus drehen wollen. Dann nehmen die das ja ernst! Sonst würden die mich da ja nicht haben wollen. Wenn ich in euren Podcast komme: Dann nehmt ihr mich damit ja ernst.

Aber, das weiß ich in der Schule nicht. Ich würde fast vermuten, man, ich werde da eher weniger ernst genommen. Und deswegen oute ich mich da nicht. Und ich oute mich auch nicht, weil… ähm, das, glaube ich, das Entfremdungsgefühl noch verstärkt hätte.

0:50:17

Marco Tiede: Das ist ein guter Punkt, den du da sagst. Also gerade, obwohl das so paradox ist. Ich denke mal, es braucht ja möglichst große Transparenz, um dann mehr Selbstverständnis, sich gegenseitig entgegenzubringen.

Und jetzt merke ich gerade, gerade durch den Punkt der Nichtsichtbarkeit: Dass das dann von Außenstehenden nicht so richtig gegriffen werden kann. So wie ja auch diese unbeschreibliche Angst ja dann selten richtig aufgegriffen wird. Und man dann schnell mit Floskeln um die Ecke kommt: Man könnte sich auch mal zusammenreißen. Oder wenn einer meiner Klienten sagt: Dann ist das so ein bisschen, als wenn du einem Rollstuhlfahrer sagst, dann steh doch mal auf! Und lauf jetzt.

Jakob Hofmann: Ja, genau.

Marco Tiede: Aber das war für mich, ist gerade für mich nochmal so ein interessanter Punkt: Zu hören, dass du das aufgrund der Unsichtbarkeit eher zurückhältst. Weil da vielleicht doch die Bedenken einer noch größeren Entfremdung größer sind.

Und mich das gleichzeitig nochmal fragen lässt: Ob du das für Leute, bei denen das sichtbarer, auffälliger wäre. Durch Verhaltensweisen oder was auch immer. Ob es da… Ob du es da anders handhaben würdest? Wenn du jemand wärst, der auffälliger wäre oder so?

Jakob Hofmann: Bestimmt, ja.

Marco Tiede: Also, um da eine Transparenz reinzubringen.

Jakob Hofmann: Auf jeden Fall.

Marco Tiede: Weil ich mich das immer wieder frage. Wenn ich mit Eltern zusammensitze, die mich darum bitten: Vielleicht kannst du noch mal mit der Klasse ins Gespräch kommen, so als Außenstehender. Und ich versuche ja auch nicht einen Fachvortrag daraus zu machen. Sondern eher die Verschiedenheit von Menschheit vor Augen zu führen.

Ich kann natürlich immer gut mit mir anfangen. Meinen anderthalb Ohren, meinen Hörgeräten. Und sagen: So und solcherlei Verschiedenheiten gibt es auf vielen, vielen Ebenen. Bis ich dann auch mal auf so autistische Dimensionen komme. Und die versuche zu beschreiben. Ohne dass ich das unbedingt erstmal so benenne.

Jakob Hofmann: Ja.

Marco Tiede: Ja, aber das ist, finde ich, nochmal ein sehr wichtiger Punkt. Den du da ansprichst: Dass durch diese Unsichtbarkeit und des Nichtwissens. Ob die anderen das dann auch so ernst nehmen. Wenn sie um die Thematik nicht so wissen. Wie du ja sagst: Wir sind da irgendwie auch mitgewachsen. Durch unsere Kinder und durch unsere Arbeit. Und das Filmteam eben ja auch. Und konnten deswegen dir diese Glaubhaftigkeit des Ernstnehmens entgegenbringen.

0:52:35

Mirjam Rosentreter: Diese Instagram-Reaktionen. Haben die dich dann belastet in dieser Hinsicht? Ich habe das Reel auch gesehen. Und sehr viele Menschen haben es geliked. Also es gibt mehr als 40.000 Likes. Also, offensichtlich hat das, was da zusammengeschnitten wurde, vielen Menschen gefallen. Und es gibt eine rege Diskussion unter dem Post. Also in den Kommentarspalten. Auch über 500 Kommentare. Wo sich die Leute dann untereinander ausdiskutieren, so.

Jakob Hofmann: Korrekt, ja.

Mirjam Rosentreter: Hast du das alles mitverfolgt?

Jakob Hofmann: Ja, ich hab’s. Das habe ich sehr, sehr rege mitverfolgt. Und das war nämlich auch so. Es ist auch ein bisschen Teil… Oder das ist ein Symptom dieses Reels gewesen. Dass darunter eben viel diskutiert wurde. Und eben nicht ausschließlich konstruktiv.

Also klar, wir sind im Internet. Das ist irgendwie gesetzfreies Gebiet. Da macht jeder, was er will. Aber ich denke mal: Darunter, unter so einem Video versammeln sich dann doch eher Leute, die auch ein ernsthaftes Interesse zeigen. Und dennoch wurde dort auch echt unangenehm kommentiert, teilweise. Und das hätte man vermeiden können.

Denn der Clip ist damit geendet. Mit einer Szene, wo ich dort sitze bei meinen Eltern im Wohnzimmer und sage: Und ich funktioniere. Das ist toll!

Mirjam Rosentreter: Ja.

Jakob Hofmann: Und natürlich fühlen sich total viele Menschen davon total angegriffen, mega. Würd ich auch! Aber danach kam eigentlich noch was! Fehlte. War nicht da.

Und jetzt ist es, so langsam kommt es bei mir wieder: Das ist es nämlich, was mich daran so gestört hat. Und das hat dann eben auch den Nährboden gegeben, glaube ich. Also daran haben sich einige Leute echt aufgehängt. An diesem: Ich funktioniere. Das ist toll. Ein Kommentar war da nämlich: Ja und ich funktioniere nicht so gut. Und das ist totale Scheiße.

Und ich glaube das den Menschen! Aber im Endeffekt: Ey komm, also, ich will mich damit nicht über irgendwen stellen. Ich habe es auch tatsächlich… Ich habe den Satz zu Ende geführt. Nur das Ende war einfach nicht drin.

Mirjam Rosentreter: Genau, dass es verdammt anstrengend…

Jakob Hofmann: Ich hab gesagt: Zu welchem Preis, ne? Also, so: Ich funktioniere, aber es kostet so, so viel. Ich hab‘ eine Energieeffizienz, die ist Katastrophe! Eigentlich, ne? So, ne? War nicht drin.

0:55:18

Mirjam Rosentreter: Und Ludger Tebartz van Elst, der Autismusforscher, der auch bei uns schon zu Gast war im Podcast. Der ordnet das auch noch ein. Nämlich in dem Sinne, wie du das gesagt hast: Dass den Menschen, die nach außen hin gut funktionieren, in den meisten Situationen, das abgesprochen wird. Dass das für sie verdammt anstrengend ist. Und dass sie darunter auch leiden. Und den Menschen, die das nicht können, wird dann wiederum manchmal abgesprochen, dass sie zum Beispiel intelligent sind. Dass sie dabei sind. Dass sie irgendwie anwesend sind. So dieses alte Klischee von Autismus. Dass alle autistischen Menschen, so wie man sie früher kannte aus Filmen oder so.

Jakob Hofmann: Sich isoliert, ne.

Mirjam Rosentreter: Ja, genau.

Jakob Hofmann: Ich bin… hab da einmal fast geheult. Weil ich echt gedacht hab: Puh, cool. Ihr unterhaltet euch im Internet irgendwie über solch sensible Themen. Das hat mich eher berührt, als belastet. Aber andererseits hab‘ ich dann natürlich die teils relativ destruktiven Kommentare gelesen. Wie: Kann mir jemand verraten, ob es in der Doku wieder nur um – in Klammern – ‚weiße, männliche Autisten‘ geht? Gibt es auch Frauen und POC? Sonst habe ich keinen Bock, mir das reinzuziehen.

Es wird direkt politisiert! Und das finde ich total destruktiv! Vor allem – und das sagte meine Mutter nämlich auch mal – meine Mutter sagte: Eigentlich ist es insbesondere spannend, dass ein junger Mann wie ich so gut maskiert. Denn eigentlich ist das starke Maskieren ein Attribut, das Frauen zugesprochen wird im Spektrum.

Dementsprechend könnte man eher argumentieren, ich sei das schwarze Schaf. Dadurch, dass ich Mann bin. In Kombination mit einer starken Masking-Eigenschaft.

0:57:13

Mirjam Rosentreter: Da kommt der politische Kopf, Jakob, spricht da wieder. Also, es ist ja sowieso schon mehrmals heute jetzt in unserem Gespräch.

Was machst du denn gerne? Wenn du jetzt heute nicht mehr Natur-Dokus schaust?

Jakob Hofmann: Für mich klingt diese Frage immer so danach, als wenn man so nach ein, zwei Sachen fragt. Aber ich kann nicht ein, zwei Sachen benennen.

Marco Tiede: Das ist wieder das Problem mit dem Offene-Fragen-Stellen.

Mirjam Rosentreter: Ja, ja, ja, ja, ja.

Jakob Hofmann: Ja, stimmt. Ja, es ist so.

Marco Tiede: Axel Brauns, ein autistischer Autor – der dieses großartige Buch Buntschatten und Federmäuse geschrieben hat – der wurde mal in einer Lesung gefragt: Was nervt Sie denn am meisten im Umgang mit neurotypischem Menschen?

Jakob Hofmann: Hm, so was…

Marco Tiede: Er sagte: Wollen Sie das in 37 Worten, in 37 Sätzen oder in 37 Buchstaben gesagt bekommen? Hat er so ein bisschen selbstironisch mal bitte um eine Eingrenzung der Frage gebeten.

Mirjam Rosentreter: Gibt es denn etwas, was du als ‚Hobby‘ bezeichnest?

Jakob Hofmann: Ja. Ein relativ neues Hobby von mir ist das exzessive  Fahrradfahren, Rennradfahren. Und es ist spannenderweise das erste Mal in meinem Leben, dass ich Spaß, so richtig, richtig Spaß an Sport habe. Weil: Beim Sport spürt man natürlich seinen Körper. Und seinen Kopf relativ wenig.

Und dass man den Kopf nicht viel spürt, das ist sehr, sehr gut. Das ist so eine Erholungsmaßnahme. Das ist Wellness irgendwie: Den Körper zu spüren stattdessen.

Das konnte ich aber noch nie gut. Ich esse extrem schlecht und unregelmäßig. Mal ganz viel, mal ganz wenig. Ich habe eine extrem hohe Schmerztoleranz. Ich kann das auch gar nicht so richtig merken: Von wo kommt denn der Schmerz? Ich habe einen ganz schlechten Bezug zu meinem eigenen Körper, eigentlich. Und mir ist es auch überwiegend ziemlich egal, wie es mit meinem Körper geht. Also, ob ich nun krank bin oder nicht. Ich habe Fieber? Ja, fahre ich auf ein Konzert oder sowas. Also so: Ich mache halt. Ist mir egal. Mein Körper ist nicht wichtig. Hauptsache mein Kopf funktioniert.

Spannenderweise finde ich aber Radfahren ganz schön toll. Weil das, glaube ich, so was Monotones hat. Das ist ganz, ganz regelmäßig. Ganz gleichmäßig. Das ist die ganze Zeit die gleiche Bewegung. Und das ist auch ein Vorankommen.

Und ich mag schon immer Wandern sehr gerne. Ich bin seit zehn Jahren Pfadfinder. Das hat mir das so ein bisschen in die Wiege gelegt. Aber eben auch selber habe ich Touren gemacht. Und auch mit meiner Freundin. Aber Wandern ist eben – ich meine: Das ist Laufen. Das ist Gehen. Also klar, man hat irgendwie auch einen Rucksack auf dem Rücken. Und man spürt auch irgendwann die Beine. Aber das ist was ganz anderes als die meisten Sportarten. Insbesondere so Ausdauersportarten. Wo man sich wirklich bis zum Keuchen, bis zum Schwindelanfall irgendwie quält.

Und plötzlich mag ich das irgendwie. Und das würde ich als mein aktuelles großes Hobby bezeichnen.

Mirjam Rosentreter: Machst du auch ganz alleine oder auch mal mit deiner Freundin?

Jakob Hofmann: Ja, nee, alleine. Das ist auch wichtig, dass das alleine stattfindet. Weil ansonsten, wenn man zu zweit ist, muss man ja wieder denken. Dann ist ja wieder jemand da. Der mit einem sprechen will oder potenziell eben mit einem spricht. Und dann muss der Kopf wieder angestrengt werden.

1:00:28

Mirjam Rosentreter: Du hast mir erzählt, dass du ja auch politisch engagiert warst. Für eine ökologische Verkehrswende, meine ich auch, ne?

Jakob Hofmann: Ja. Es ist nun mal so – für mich ist leider Gottes die aktive politische Arbeit mittlerweile nicht mehr zu integrieren. In meinen Alltag, aus zeittechnischen Gründen.

Wenn ich denn die Zeit hätte, wäre aber bei mir Verkehr an erster Stelle wieder. Einfach weil es irgendwie so mein Ding ist. Im Endeffekt finde ich so alles an klimaneutralerer und sozialverträglicherer und gleichstellenderer Politik – als wir sie jetzt haben, oder auch als wir sie unter der Ampel oder Merkel hatten – gut.

Und nur natürlich: Einer kann nicht alles machen. Also, wofür haben wir Ministerien? Wofür haben wir Ressorts, Ausschüsse und so weiter? Arbeitsteilung! Klar. Und jeder hat irgendwie so sein besonderes Interesse, sein Spezialinteresse. Und meins ist da am ehesten dann doch Verkehr. Aber auch das ist mittlerweile einfach zum großen Teil eingeschlafen. Weil ich die Zeit dafür nicht habe.

1:01:43

Mirjam Rosentreter: Wenn du es schaffst, das Abi zu machen. Was für dich irgendwie noch ein Baustein ist, um in die Richtung auch weiterzugehen. Vielleicht zu studieren. Was wäre dann dein berufliches Ziel?

Jakob Hofmann: Mein berufliches Ziel wäre also tatsächlich gar nicht mal so besonders. Also, ich würde jetzt nichts studieren, was irgendwie mit dem Thema Verkehr direkt zu tun hat. Sondern ich würde wahrscheinlich Politikwissenschaften oder Politik und Wirtschaft oder sowas studieren.

Auf jeden Fall etwas ziemlich Theoretisches. Vielleicht auch analytische Tagespolitik.

Naja, und bestimmt auch darüber wieder den Bogen zum Verkehr kriegen. Gerade durch Politik und Wirtschaft. Weil: Verkehrspolitik ist eine extrem… Also klar, nahezu jede oder eigentlich jeder politische Bereich hat auch mit Wirtschaftspolitik und mit Finanzpolitik zu tun. Aber beim Verkehr ist das schon immens. Gerade in einem Land wie Deutschland. Wir haben einen der beiden größten Autohersteller der Welt. Und das ist zeitgleich einer der klimaschädlichsten Autohersteller der Welt. Sowohl in der Produktion als auch mit den Produkten.

Irgendwie kriegt man da schon den Bogen wieder hin. Aber ich würde dann doch erstmal etwas nicht ganz so Detailliertes studieren. Sondern eher, wo man über ein weiteres Feld schauen kann.

Mirjam Rosentreter: So etwas… mehr so einem Studium Generale entsprechend?

Jakob Hofmann: Könnte man sagen, ja.

Mirjam Rosentreter: Wie man das früher nannte. Also wenn ein Studium ganz viele Wissenschaftsgebiete streift.

Marco Tiede: Ich dachte eher so von der Theorie in die praktischen Bereiche zu kommen. Um die damit zu füttern. Mit Informationen. Immer mit der großen Hoffnung verbunden, dass dann auch mal praxisorientierte Bereiche sich dann auch mal auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf die Theorien einlassen. Also ich meine, da arbeiten sich ja schon einige ab. Von Maja Göpel angefangen über viele andere Leute.

1:03:57

Mirjam Rosentreter: Wenn du die Gesellschaft im Sozialen transformieren könntest. Wo würdest du ansetzen? Um sie ein bisschen autismusfreundlicher zu machen?

Jakob Hofmann: Autismusfreundlicher… die Gesellschaft oder die Infrastruktur?

Mirjam Rosentreter: Frage ich jetzt, um beim Thema Verkehrswende vielleicht zu bleiben, vielleicht Infrastruktur erstmal. Du kannst ja auch für beides antworten.

Jakob Hofmann: Ich glaube, in der Infrastruktur – und es tut nicht nur AutistInnen gut – brauchen wir alles mal ein Stück langsamer. Denn Zeit ist Geld. Und wir brauchen alle gar nicht unbedingt immer nur das Geld. Also, wir brauchen vielleicht auch einfach mal nur mehr Zeit. Und dadurch ein bisschen weniger Geld. Als Statussymbol meine ich jetzt. Gar nicht im realen ‚Geld in der Hand‘. Sondern wir brauchen Ruhe.

Und die Infrastruktur, das ist so das, wo wir unterwegs sind. Und unser alltägliches Leben dreht sich darum. Wenn das Tempo auf der Straße langsamer ist, dann passieren auch weniger Unfälle. Dann sind die Leute aber auch entspannter.

Und leider Gottes brauchen wir auch mehr Platz. Aber nicht für Autos, sondern für alle anderen. Wir brauchen breitere Fußwege. Wir brauchen breitere Radwege. Wir brauchen sichere Radwege.

Ich finde auch, eigentlich kann man – und das ist, wie gesagt, völlig entkoppelt vom Thema Autismus – aber eigentlich kann man auch Radwege sicher vom Fußwegen trennen. Und von der Straße. Dann passiert bei weitem nicht mehr so viel. Und so weiter und so fort.

Aber natürlich: In letzter Konsequenz müssen wir auch unsere Termine in größeren Abständen setzen. Ich komme halt nicht mehr so schnell von A nach B. Und wenn wir vielleicht auch mal irgendwann alle kein eigenes Auto mehr haben. Dann auch nicht. Vielleicht sind wir aber auch noch schneller. Wenn wir alles richtig machen. Wer weiß das schon?

Aber, wie gesagt: Unabhängig davon, ob man jetzt Autist ist oder nicht. Ich glaube, wir brauchen mehr Platz und mehr Zeit. Weil dann wird es für alle angenehmer. Jeder hat mehr Raum. Und man ist nicht die ganze Zeit gequetscht. Und nicht die ganze Zeit gestresst.

Marco Tiede: Ich finde es aber gerade aus autistischer Sicht nochmal sehr spannend. Genau diese Sachen, die du benannt hast, zu betrachten. Weil aus verkehrspolitischer und ökologischer Sicht ist das ja klar, warum das wichtig sein kann, die Entscheidung. Aber aus autismuspezifischer Sicht ist es ja insofern wichtig: Wenn man schon mal allein diese Aufteilung der sogenannten Premiumroute sieht, am Wall. Straße, Fahrradweg, Fußweg. Es ist eine klare Kategorisierung. Also schon das bringt ja Klarheit für den Weg. Jetzt mal so für Menschen, die vielleicht nicht so ganz sicher sind in den Kategorisierungen.

Mirjam Rosentreter: Das ist so eine – für Nicht-Bremer: Der Wall ist so eine der Verkehrsachsen, die die wichtigen Stadtteile miteinander in Bremen verbindet.

Marco Tiede: Aber dann die Entschleunigung. Und auch den Platz, den man braucht. Da könnte man dann vielleicht wieder die öffentlichen Verkehrsmittel zuzählen. Dass man sagt: Vielleicht fährt dann die Straßenbahn auch lieber alle drei Minuten. Damit sich das Volk mehr verteilt in den Bahnen. Die nicht alle so voll sind. Und so weiter, das sind so Sachen, die man denken könnte.

Weil, viele denken ja immer, es würden irgendwelche Freiheiten beschnitten. Wenn ein Mensch nicht so fahren kann, wie er will. Aber das ist dann ja ein Irrglauben. Aber da dreht sich ja die Gesellschaft schon eine Weile im Kreis. Aber es ist eine gute Perspektive.

Mirjam Rosentreter: Und der andere Aspekt, den du benennen wolltest? Als Anpassung an autistische Menschen, unter anderem oder einfach inklusiver? In welche andere Richtung hast du denn gerade noch gedacht? Was du verändern würdest gesellschaftlich.

1:08:34

Jakob Hofmann:

Ja, das ist immer so. Ich denke da gleich irgendwie so realpolitisch, ne: Geht halt nicht! Das sind halt irgendwie utopische Vorstellungen, ne?

Aber: Ich finde, wir sollten Dinge wie, das Gendern zu verbieten, verbieten. (Marco schmunzelt) Und sowas.

Ich bin auch der Meinung, dass verbale sexuelle Übergriffe schwerst strafbar gemacht werden sollten. Übrigens: Länder wie Spanien haben sowas, ne? Also es ist kein Hexenwerk, liebe Bundesregierung! Aber gut: Es ist auch eine Bundesregierung zu 90% aus Männern. Das interessiert da ja eh niemanden.

Ich finde, wir brauchen in der Schule viel, viel mehr Aufklärung über Rollenbilder und Geschlechter. Denn wir driften nicht nur sozial, was die Geschlechter angeht, total auseinander. Sondern in der Konsequenz auch politisch.

Die beste Wählerschaft der Rechtsextremen sind exakt meine demografische Gruppe: Junge, weiße Männer. Das ist so. Das sind die besten Wähler. Von denen hat… Jeder Dritte in Deutschland würde die AfD wählen. Bei Frauen ist es genau andersrum. Also die jungen Frauen sind die besten Wählerinnen von der Linken. Warum? Woher?

Und wie kann man Demokratiebewusstsein, Gesellschaftsbewusstsein und auch Fairness-Bewusstsein in die Köpfe bekommen? Wenn die Menschen noch klein sind. Wenn es Kinder sind. Und dementsprechend muss das in der Schule passieren. Und ich bin auch der Meinung, dass wir die Schule sowieso anders machen sollten. Also komplett anders. Mit deutlich weniger Leistungsdruck und deutlich weniger Stress. Und so, dass die Menschen irgendwie auch Mensch sein dürfen. Und nicht nur Püppchen. Und zeitgleich eben lernen, was es heißt, Mensch zu sein. Und dass es eben auch Menschen gibt, die sichtbare Behinderungen haben, unsichtbare Behinderungen.

Und so weiter und so fort. Und die Liste geht weiter und weiter. Aber solche Sachen – ich sehe tatsächlich viele, viele, viele Probleme, die wir so haben, in dieser komischen Rollenverteilung. Die irgendwie jetzt mit der aktuellen Bundesregierung nur noch weiter manifestiert wird.

Auch wir Männer. Liebe Männer da draußen: Wir sind alle Opfer vom Patriarchat! Auch uns tut es nicht gut, es ist so. Auch wenn wir nicht die schlimmsten Opfer sind. Wir haben noch, ein bisschen bleibt uns noch, aber – im Vergleich zu den Flintapersonen. Aber trotzdem: Auch wir. Wenn wir nicht an irgendwelchen Konzernspitzen sitzen oder in der Politik ganz oben, profitieren da eigentlich nur kaum.

1:11:47

Mirjam Rosentreter: Jakob, vielen Dank.

Jakob Hofmann: Gerne.

Marco Tiede: Kann ich mich anschließen, ich muss das noch ein bisschen sacken lassen.

Mirjam Rosentreter: Ja, euch vielen Dank fürs Zuhören. Wir hören uns in einem Monat wieder, also hört ihr uns wieder. Wir euch ja leider nicht. Aber meldet euch gerne weiter bei uns mit E-Mails. Ihr könnt uns auch schreiben. So wie Jakob das gemacht hat. An hallo@spektrakulaer.de. Oder wenn ihr auf unsere Homepage geht, da könnt ihr uns in so einem Kontaktformular auch direkt eine Frage reinschreiben, eine Anmerkung reinschreiben. Wir freuen uns über eure Ideen und über euer Feedback.

Marco Tiede: Tschüss.

Jakob Hofmann: Tschüss.

1:12:27

Outro

Musik: Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music

Sprecher: Das war Spektrakulär. Eltern erkunden Autismus.

Mirjam Rosentreter: Unsere Kontaktdaten und alle Infos zu unseren Folgen findest du in den Shownotes auf unserer Seite spektrakulaer.de.

Sprecher: Der Podcast aus dem Martinsclub Bremen.

Sprecher: Gefördert durch die Heidehof-Stiftung, die Waldemar-Koch-Stiftung und die Aktion Mensch.

Sprecherin: In Zusammenarbeit mit Selbstverständlich, der Agentur für barrierefreie Kommunikation.

Ende

….

Quellen und weiterführende Infos zu den Themen in dieser Folge

Hinweis: für Links zu externen Online-Quellen übernehmen wir keine Gewähr.

Zur Arte-Dokumentation mit unserem Gast Jakob Hofmann (derzeit leider nicht mehr in der Mediathek)

„Autismus – Ein rätselhaftes Spektrum“ von Nadine Niemann erschien im April 2025

Kurz-Info bei buten un binnen (Radio Bremen)
https://www.butenunbinnen.de/videos/autismus-spektrum-dokumentation-radio-bremen-nadine-niemann-100.html

„Reaktions-Video“ mit der Dokumentation auf YouTube von einem „morf“
https://www.youtube.com/watch?v=yNzQkOVgMk4

Ausspruch von Jakobs Mutter „Kennst du einen Autisten, kennst du EINEN Autisten“ stammt von Dr. Steven Shore, der im Original sagte „If you know one person with autism, you know one person with autism“

Infos zu Dr. Steven Shore https://drstephenshore.com/
er ist selbst im Autismus-Spektrum und informiert umfassend zu diesem Thema

Zur Podcastfolge 7 mit Jason von Juterczenka

„Alle anderen sind auf dem falschen Planeten“

Zur vermeintlichen „Modediagnose“ Autismus

Video von „quarks“ beim WDR: https://www.youtube.com/watch?v=ChcKnTjPsI8

Link zum diskutierten Insta-Reel zur arte-Dokumentation
https://www.instagram.com/reel/DIavajOt-Jd/

Zum Begriff „Ambivalenz“

https://flexikon.doccheck.com/de/Ambivalenz

Zum Synonym des „Crashens“ als Ausdruck für Overload, Meltdown und Shutdown (Reizüberflutung, Ausbruch, Zusammenbruch)

https://ellasblog.de/overload-meltdown-und-shutdown-erklaert-von-einer-autistin-eine-verschwimmende-flimmernde-unwirkliche-chaotische-masse

Zum psychiatrischen Begriff „Dissoziation“ https://flexikon.doccheck.com/de/Dissoziation

https://de.wikipedia.org/wiki/Dissoziation_(Psychologie)

Zur Komorbidität Angst/Angststörung und Schulangst im Autismus-Spektrum

Wenn die Angst immer da ist – Autismus und Angststörung als Komorbidität im Alltag
https://autismus-kultur.de/autismus-oder-angststoerung
https://autismus-kultur.de/schulverweigerung-schulangst-autismus

Zum Burnout als Komorbidität und der Unterscheidung vom autistischen Burnout

Autistisches Burnout: Entstehung, Wirkung und Bewältigung
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/burnout-bei-adhs-und-autismus-verhindern-155807

Buch von Axel Brauns „Buntschatten und Fledermäuse“

https://www.genialokal.de/Produkt/Axel-Brauns/Buntschatten-und-Fledermaeuse_lid_2350737.html

Zur von Jakob erwähnten Unempfindlichkeit (Hyposensibilität) seines Körpers

https://autismus-kultur.de/hyposensibilitaet-autismus

Zu Alternativen zur Präsenzbeschulung und rechtlichen Aspekten einer Fernbeschulung:
https://leipzig-und-autismus.de/2024/der-steinige-weg-zur-webschule/

https://www.freie-deutsche-online-schule.com
Startseite
https://www.web-individualschule.de

Buch von Judith Visser „Mein Leben als Sonntagskind“
https://www.genialokal.de/Produkt/Judith-Visser/Mein-Leben-als-Sonntagskind_lid_38412569.html

Zum Für und Wider des Autismus-Outings
https://autismus-kultur.de/autismus-coming-out-studium/

Zur Podcastfolge  5 mit Ludger Tebartz van Elst
„Autistische Menschen zeigen mir, was eigentlich für alle Menschen gilt“

Zum Maskieren/Masking, Coping-Strategien/Masking-Strategien

im neurodivergenten Spektrum

https://ellasblog.de/autismus-und-masking-der-preis-von-anpassung-und-die-realitaet-des-nicht-maskieren-koennens
Masken ab: Über Autismus und das Verstecken des wahren Ich
https://www.zeit.de/zett/2020-07/masking-menschen-im-autismus-spektrum-erzaehlen-vom-stress-sich-im-alltag-anpassen-zu-muessen

Studie aus Wien zu Jakobs Wunsch nach Entschleunigung im Straßenverkehr bzw. zur Verkehrswende

Die vielen Vorteile von Verkehrsberuhigung

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Zur Podcast-Folge 18 mit Chris Lockingen
https://spektrakulaer.podigee.io/40-spektrakular-folge-18-it-und-selbsthilfe-haben-mein-leben-gerettet

Zur Podcast-Folge 3 mit Ella
https://spektrakulaer.podigee.io/7-spektrakular-eltern-erkunden-autismus-folge-3-tulpe-schreibt-man-wie-mans-spricht

Zur Podcast-Folge 7 mit Jason von Juterczenka

https://spektrakulaer.podigee.io/16-spektrakular-folge-7-alle-anderen-sind-auf-dem-falschen-planeten

Zum gemeinsamen Auftreten von Autismus und ADHS (Komorbidität)

Anhaltspunkte für die Differenzialdiagnostik von ASS und ADHS
(auf S.16 der Leseprobe aus dem Kapitel von Andreas Riedel im o.g. Buch)
https://www.mwv-berlin.de/buecher-bestellen-2016/images/product_images/leseproben_images/9783941468801_Leseprobe.pdf

Daniel Schöttle, Benno G. Schimmelmann, Ludger Tebartz van Elst: ADHS und hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen. Komorbidität oder Differenzialdiagnose? Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Diagnostik und Behandlung. Nervenheilkunde 2019, S. 632-642.

https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/a-0959-2034.pdf

Artikel im Deutschen Ärzteblatt:

https://www.aerzteblatt.de/news/autistische-kinder-nehmen-adhs-mit-ins-erwachsenenalter-88509ede-c7b2-4f04-9946-ebfdec61a990

Britische Studie, auf die der Artikel Bezug nimmt:

https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2830118

Daten und Statistiken zu ADHS aus den USA

https://www.cdc.gov/adhd/data/index.html

Zum Autistischen Burnout
https://www.autismus-bremen.de/wp-content/uploads/2018/06/Autistisches-Burnout.pdf

Autistisches Burnout: Entstehung, Wirkung und Bewältigung

Zur autismusfreundlichen Kommunikation und Kommunikationsmodellen
https://mittendrin.family/21-tipps-fuer-ein-gelingendes-gespraech-mit-menschen-im-autismus-spektrum-as/

Neurodiverse Kommunikation 

Eisberg-Modell für autismusfreundliche Kommunikation

https://de.wikipedia.org/wiki/Eisbergmodell#cite_note-2

Anne Häußler, Antje Tuckermann, Markus Kiwitt (2014): Wenn Verhalten zur Herausforderung wird. Kapitel 1: Die Basis: Das Eisberg-Modell (Aus der Reihe: Praxis TEACHH)

Vier-Ohren-Modell von Friedemann Schulz von Thun (auch bekannt als Kommunikationsquadrat oder Vier-Seiten-Modell):

https://www.schulz-von-thun.de/die-modelle/das-kommunikationsquadrat

Dazu gibt es ein Lehrvideo in der Mediathek von ARD alpha: https://www.ardmediathek.de/video/alpha-lernen-oder-deutsch/schulz-von-thun-die-4-seiten-einer-nachricht/ard-alpha/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvL2FjZTVhY2JjLTlmMDgtNDk1ZC1hYTI0LWM2YmUwMjZiNjc3MwBandwurmsätze gibt es öfter mal einen Punkt. Oder auch drei, wenn jemand kurz nachdenkt oder nach den richtigen Worten sucht. Dann kann ein angefangener Satz auch mal einfach ab… Und nun, viel Freude beim Lesen!

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