Von links nach rechts: Marco Tiede, Mirjam Rosentreter, Stephanie Meer-Walter

Folge 16

„Wie geht Autismus in der Schule?“

Mit Stephanie Meer-Walter, Autorin, Autistin und ehemalige Schulleiterin

Erscheinungstermin: 15.04.2025, Autorin: Mirjam Rosentreter

Vorweg ein paar Hinweise:

In unserem Podcast reden wir über Dinge, die vielleicht bei euch etwas anstoßen.

Bitte beachtet:

1.) Unsere Gespräche geben persönliche Erfahrungen wieder und erfüllen keinen wissenschaftlichen Anspruch. Das Hören oder Lesen unseres Podcasts ersetzt keinen Besuch in einer Praxis oder Beratungsstelle. Fühlt euch ermutigt, offen auf Menschen in eurem Umfeld zuzugehen. Oder sprecht Fachleute in eurer Nähe an.

2.) Fragen und Rückmeldungen könnt ihr über hallo@spektrakulaer.de an uns richten. Oder ihr kontaktiert uns auf unserem Instagram-Kanal @spektrakulaer_podcast. Gerne versuchen wir auf Themen einzugehen, die Euch interessieren. Persönliche Fragen zu Diagnostik oder Therapie können wir leider nicht beantworten.

3.) Im folgenden Abschnitt haben wir für euch unsere Sprachaufnahme transkribiert, also verschriftlicht. Als Text aufgeschrieben ist gesprochene Sprache nicht immer ganz korrekt und eindeutig verständlich. Das Manuskript entspricht auch nicht einem journalistisch überarbeiteten Interview.

4.) Dieser Podcast ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Wenn ihr uns oder unsere Gäste irgendwo zitieren wollt, bleibt fair: Achtet auf den Gesamtzusammenhang und denkt bitte immer an die Quellenangabe.

Im Zweifel gilt die schöne alte Regel: Lieber einmal mehr nachfragen.

Vielen Dank für eure Neugier und euer Verständnis!

Mirjam & Marco

Transkript zu Podcast Folge 16, erschienen am 15.04.2025

„Wie geht Autismus in der Schule?“

Autorin: Mirjam Rosentreter

Hinweis: Der Text wurde behutsam redaktionell überarbeitet. Ziel ist es, das spontane Gespräch möglichst natürlich wiederzugeben. Deshalb dürfen sprachliche Ungenauigkeiten bleiben. Damit sich der Text leichter lesen lässt, ist die Zeichensetzung angepasst. Sie berücksichtigt die Sinneinheiten und Pausen, wie sie im Mündlichen typisch sind. Das heißt: Statt langer Bandwurmsätze gibt es öfter mal einen Punkt. Oder auch drei, wenn jemand kurz nachdenkt oder nach den richtigen Worten sucht. Dann kann ein angefangener Satz auch mal einfach ab… Und nun, viel Freude beim Lesen!

0:00:00

(O-Ton Live-Podcast)

Stimme im Hintergrund:

Ich glaube, Frau Meer-Walter könnte hinten ein bisschen lauter sein.

Mirjam Rosentreter:

Ja, das Mikro muss noch dichter an dich heran.

Marco Tiede:

So, ihr erlebt jetzt hier live nochmal einen Soundcheck, ne?

Stephanie Meer-Walter:

Ja, ich fühle mich so leicht bedroht. (Publikum lacht) Aber gut. Alles gut.

Marco Tiede:

Das Mikro bleibt in der Regel stillstehen, es springt nicht rum.

Stephanie Meer-Walter:

Gut, also anders als Menschen, okay.

Marco Tiede:

Hm.

0:00:24

Stephanie Meer-Walter:

Ja und ich möchte jetzt noch eben anmerken zu dem Blickkontakt: Studien zeigen nämlich auch, dass nicht-autistische Menschen oder die sogenannten neurotypischen Menschen immer meinen, sie könnten so wahnsinnig viel aus den Gesichtern lesen. Tun sie aber gar nicht. Sie glauben das nur. Also, ganz so wichtig ist das offensichtlich für die Interpretation nicht, aber für das wohlige Gefühl offensichtlich dann doch.

Marco Tiede:

Weil ja auch nicht nur autistische Menschen maskieren müssen.

Stephanie Meer-Walter:

Richtig. Aber es werden eben autistische Menschen deshalb auch von nicht-autistischen Menschen nicht als sympathisch wahrgenommen.

Marco Tiede:

Wobei der Blickkontakt einfach nur viel zu viele Informationen beinhaltet richtig?

Stephanie Meer-Walter:

Für den autistischen Menschen? Ob der zu viele Informationen beinhaltet, weiß ich gar nicht. Ich finde es einfach nur… Mir wird dann schwindelig, und ich kann dem Gespräch nicht mehr folgen.

0:01:16

Mirjam Rosentreter:

Cut! Ich glaube, wir gönnen uns jetzt einfach allen eine kurze meditative Pause, weil wir sonst zu tief ins Gespräch einsteigen. Das möchte ich ja gerne alles mitnehmen..

Marco Tiede:

(flüstert) Willst du den Jingle noch abspielen?

Mirjam Rosentreter:

Gleich geht’s los. Also, wir zeichnen jetzt unseren Podcast auf. Der beginnt mit einem Jingle. So. Es geht los.

0:01:39

(Jingle startet)

Sprecher:

Spektrakulär.

Sprecherin:

Heute mit Stephanie Meer-Walter.

Jingle-Sprecher:

Eltern erkunden Autismus.

(Jingle bricht ab, Trenner)

(Studioaufnahme)

0:01:47

Mirjam Rosentreter:

Ihr wisst ja gar nicht, wie oft ich jetzt schon angesetzt habe, das zu erklären. (schnmunzelt) Unser Einstieg ist heute etwas unorthodox, etwas anders als sonst. Ihr merkt es: Der Jingle ist abgebrochen. Wir hatten technische Schwierigkeiten. Marco, erklär du mal kurz, damit ich mich jetzt nicht wieder verrenne.

0:02:07

Marco Tiede:

(kichert)Ja, so wie ich das mitbekommen habe, gab es aufgrund vieler Faktoren, eine Routine, die wir noch nicht haben für die ganzen mobilen Aufnahmegelegenheiten. Und dann die Technik zueinander zu bringen. Führten dazu, dass also jetzt ein Teil des Gesprächs fehlt. Den wir jetzt eben moderativ ein bisschen aufbereiten. Und danach können wir dann noch, könnt ihr den Teil hören, der tatsächlich erhalten geblieben ist.

Mirjam Rosentreter:

Mir ist es ja mittendrin aufgefallen! Und ich habe versucht, darüber wegzuspielen, also habe ich einfach gemacht. Denn ich habe gedacht, Entweder ich sage jetzt allen: Oh, tut mir leid, wir müssen noch mal von vorne anfangen. Oder wir machen jetzt einfach weiter und wir haben zusammen hier im Saal einen schönen Abend. Und ich wusste: Irgendwie rette ich das für uns. Und das machen wir jetzt, indem wir ein bisschen vorher euch erzählen, was das für eine Veranstaltung war, zu der wir zusammen eingeladen haben mit Autismus Bremen, mit unserem Martins-Club und mit der Stadtbibliothek Bremen. Und unser gemeinsamer Gast war Stephanie Meer-Walther, Autorin, Autistin und ehemalige Schulleiterin.

Wir versuchen jetzt für euch, den ersten Teil des Podcasts so halbwegs moderativ zusammenzufassen. Und dann werden wir an der Stelle, wo die Aufnahme dann wieder gestartet wurde – von meinem Finger – dann einfach einsteigen. Und dann könnt ihr unser Gespräch weiterhören, wie es dann bis zum Schluss zum Glück durchgelaufen ist. Und wer es noch nicht gemerkt hat: Die Lesung von Stephanie aus ihrem Buch „Autistisch kann ich fließend“. Diese Lesung haben wir als Extrapod veröffentlicht. Könnt ihr euch, wenn ihr jetzt auf Stop drückt, eben anhören und danach wieder einsteigen. Oder eben hinterher, wie ihr es wollt.

0:03:59

Marco Tiede:

Bevor wir auf Stopp drücken, kannst du ja Stephanie noch mal vorstellen.

Mirjam Rosentreter:

Also, Stephanie Meer-Walter – kurz zusammengefasst – hat, bis sie Mitte 40 war, als Lehrerin gearbeitet. Hat dann sehr spät eine Autismusdiagnose erhalten und war dann noch kurz im Schuldienst. Und danach hat sie abgebrochen. War dann einige Jahre damit beschäftigt, zu lernen, was Autismus eigentlich ist. Hat alles gelesen, was man dazu lesen kann. Merkt man auch, wenn man ihr Buch hat, eine tolle Literaturliste, super Querverweise, lohnt sich sehr, kriegt man wirklich einen tiefen Einstieg ins Thema, wenn man ihr Buch liest. Und sie hat dann uns und die ganze Welt daran teilhaben lassen, was sie so alles über sich selber gelernt hat, mit ihrem eigenen Blog. „Mit meinem ganzen Sein autistisch“ heißt die Internetseite. Und vor allem ihrem Podcast „Autismus braucht Aufklärung“. Über 70 Folgen sind da erschienen. Die sind auch alle noch online zugänglich. Lohnt sich sehr, die zu hören. Auch zum Thema Schule, die hast du auch in Vorbereitung auf unser Gespräch mit ihr gehört.

0:05:07

Marco Tiede:

Sie gibt mehrere Leseauszüge aus Ihren verschiedenen Büchern in einer Folge und da gibt es einen sehr eindrucksvollen Vortrag oder eine Vorlesung aus Ihrem Buch „Schüler im Autismus Spektrum verstehen“. Und zwar, wie sich ein Meltdown aus Sicht eines Schülers anfühlt. Stephanie hat das ja auch selbst noch mal betont. Ich spreche hier nicht für alle AutistInnen, sondern ich spreche aus meiner persönlichen Perspektive und das tun ja alle anderen AutistInnen auch. Das haben ja verschiedene unserer Gäste ja auch immer wieder betont und das ist, glaube ich, auch noch mal wichtig festzuhalten.

0:05:49

Mirjam Rosentreter:

Da bietet Stephanie in dem Teil, den sie auch eingelesen hat, einen schönen Einstieg in ihre Art der Wahrnehmung. Hört es euch einfach an.

0:05:57

Stephanie Meer-Walter:

Jetzt stellen Sie sich bitte vor, dass Sie die einzelnen Geräusche gleich laut wahrnehmen, dass sie also kaum noch voneinander zu unterscheiden sind. Hui, ein ganz schöner Geräuschebrei entsteht da. Stellen Sie sich weiter vor, dass diese Geräuschkulisse Sie fast permanent begleitet, dass Sie sie nicht filtern können, also die Geräusche nicht irgendwann im Hintergrund verschwinden können. Anstrengend, oder? Die Konzentration lässt dann ziemlich schnell nach. Wenn die Geräusche nicht ausgeblendet werden können, geraten sie schnell unter Stress und irgendwann wird es zu viel. Sie sind überfordert und stürzen ins Chaos. Es ist nahezu unmöglich, sich dabei auf die Gespräche mit anderen zu konzentrieren oder auf die Arbeit, weil einerseits schon rein akustisch ihr Gegenüber nicht zu verstehen ist und andererseits auch schlicht die Energie irgendwann dazu fehlt.

Es kommen aber noch grelle Lichter, flackernde Lichtquellen und intensive bunte Farben hinzu. Es wird nicht besser, es wird noch schlimmer. Dazu gesellen sich verschiedene Gerüche. Ihr Nachbar hat vielleicht gekocht. Die Essensgerüche ziehen durch den Flur in Ihre Wohnung, wenn Sie die Tür öffnen. Die Verkäuferin hat ein aufdringliches Parfum aufgelegt. Im Supermarkt kommt Ihnen ein Mensch mit Schweißgeruch entgegen und im Bus werden Sie von hinten ohne Vorwarnung an der Schulter berührt, weil jemand aussteigen möchte. Diese verschiedenen Reize wirken nicht einzeln, sondern akkumulieren sich. Es braut sich ein Reizgewitter zusammen.

So einem Reizgewitter über längere Zeit ausgesetzt zu sein, erzeugt Stress. Stress, der zu Erschöpfung und schneller Erschöpfbarkeit führt. Für eine gewisse Zeit kann der Stress kompensiert werden. Ganz verhindern lässt sich die Überforderung durch die grellen Reize jedoch meist nicht. Wenn ich keinen Ausweg aus der Reizüberflutung finde, verliere ich die Kontrolle und bin nicht mehr ansprechbar.

0:07:50

Mirjam Rosentreter:

Im ersten Teil unseres Gesprächs, der verloren gegangen ist, haben wir mit Stephanie über ihre Diagnose gesprochen. Die hat sie mit 47 Jahren bekommen. Damals war sie noch Lehrerin. Und ich habe sie gefragt, was sie eigentlich dazu gebracht hat, mit Mitte 40 in eine Diagnostik sich zu begeben. Und darauf hat sie etwas geantwortet. Und diese Antwort ist auch erhalten, weil sie im Video mitgeschnitten wurde. Ich spiele die jetzt kurz rein. Achtung, die Tonqualität ist nicht gut, weil ich es stark lauter stellen muss. Das war eben aus der Distanz mit dem Handy aufgenommen als Video. Aber das wollte ich euch eben im Original geben.

0:08:30

(O-Ton)

Stephanie Meer-Walter:

Das ist Zufall gewesen, Gott sei Dank. Wenn ich die Diagnose nicht erhalten hätte, dann würde ich heute hier nicht sitzen. Dann hätte ich mein Leben selbst beendet. Rückblickend würde ich sagen, ich war spätestens seit meiner Jugend immer depressiv. Und dann auch, als ich Schulleiterin wurde und die sozialen Anforderungen und auch in der Kommunikation immer größer wurden, war es so schlimm, dass ich dachte: Ich fahr jetzt gegen den nächsten Baum. Und die dritte Therapeutin, und das war jetzt mein Glück, die sagte relativ schnell: Ich glaube, Sie könnten autistisch sein. Dann hat sie mir einen Aufsatz gegeben, das sollte ich mal durchlesen. Und dann habe ich zu ihr gesagt: Da finde ich mich total wieder. Und dann ist auch die Diagnostik innerhalb von drei Monaten in Dortmund gemacht worden. Und so bin ich da hingekommen.

0:09:26

Marco Tiede:

Ja, und das zeigt dann ja auch, dass diese Phänomene im neurodivergenten Bereich, also hier im speziellen Autismus, gerade dann im Erwachsenenalter, sich zunehmend überlagern mit anderen Phänomenen. Wie in Stephanies Fall mit der Depression, die sie da sehr stark begleitet hat. Dass die Kompetenzen der Psychotherapeutinnen noch viel mehr vertieft werden dürfen, um dann eben auch diese dahinterliegenden Schwierigkeiten oder die dahinterliegenden Strukturen zu erkennen. Weil, die Depression ist ja dann schon ein ausgewachsener Zustand, der dann lebensbedrohlich ist.

Stephanie sagte ja selber, ohne diese klug handelnde Psychotherapeutin wäre sie nicht mehr am Leben. Und ihr erstes Buch hieß ja auch „Den inneren Suizid besiegen“. Wo sie ja auch viel über diese schwere Zeit schrieb. Und wenn zum Beispiel eben Psychotherapeutinnen dann also Menschen begegnen, die da mit einer Depressivität kommen und vielleicht schildern: Da gibt es diese oder jene Schwierigkeiten im sozialen Miteinander oder auch mit Handlungsplanung etc. Und was das für ein Stress ist in der Reizverarbeitung. Dann müssten da, wenn man dann informiert wäre, schon die Antennen angehen.

0:10:43

Mirjam Rosentreter:

Wir haben dann mit ihr über ihre eigene Schulzeit ein bisschen gesprochen im weiteren Gesprächsverlauf. Ich habe sie gefragt, wie es für sie war, als Kind die Schule zu betreten morgens. Und da hat sie erzählt, das sei gar nicht so ein Riesenthema gewesen, weil sie einfach super gerne zur Schule gegangen sei. Sie hat sehr gerne gelernt, war wohl auch eine fleißige Schülerin. Und das ist ja oft zu hören in den Biografien von autistischen Frauen, dass das in der Kindheit lange nicht richtig auffiel, was für eine Kraft es sie kostet, dass sie so gut in der Schule sind. Was sie dafür auch ausblenden, um so gut die Leistungen dann noch abzurufen, die sie dann erbringen.

0:11:22

Marco Tiede:

Und weil sie eben gern in die Schule ging, war sehr wissbegierig, hat alles aufgesogen. Und dass da vielleicht auch diese sozialen Anforderungen an sie noch nicht so stark waren, so heftig waren.

Mirjam Rosentreter:

Wie In der Pubertät zum Beispiel.

Marco Tiede:

Da kippt es dann oft. Oder dann eben, wie in ihrem Fall, dann im Erwachsenenalter. Wo sie merkt: Warum ist das alles so anstrengend hier? Ich bin immer nur alle und erschöpft.

0:11:48

Mirjam Rosentreter:

Wir sind dann mit Stephanie in die Schule von heute eingestiegen. Also jetzt nähern wir uns langsam unserer Originalaufnahme, mit der es dann einfach gleich weitergeht. Da habe ich noch ein paar Zahlen reingegeben, dass nämlich Überblickstudien aus den USA inzwischen zeigen, dass annähernd drei bis vier Prozent der achtjährigen Kinder eine Autismusdiagnose heute haben.

Ich habe dann Stephanie auch gefragt, wie denn ihre eigene Erfahrung als Lehrerin war, als sie zum ersten Mal ein autistisches Kind in einer Klasse setzen hatte, und das hat sie darauf geantwortet.

(Ab hier wiederLive-Podcast-Aufnahme)

0:12:23

Stephanie Meer-Walter:

Da saß ein Junge, der guckte immer nur nach draußen. Und die Lehrerin hatte mir vorher gesagt: Du musst da nichts machen. Die haben ihren Wochenplan. Die arbeiten, du kannst dich vorne hinsetzen und kannst selbst was machen. Und die Kinder haben auch alle gearbeitet. Nur dieser Junge saß da und guckte immer nach draußen. Das hat mich natürlich wahnsinnig verunsichert.

Also bin ich dann irgendwann zu ihm hingegangen und hab gesagt: Was ist los? Fang an zu arbeiten. Der hat mich nicht angeguckt. Hat überhaupt nicht reagiert. Dann hab‘ ich es nochmal versucht. Nee, gut. Dann bin ich wieder zurück. Und dann hab‘ ich gedacht: Nee. Da fühlte ich mich wie so eine Versagerin. Wieso kriege ich den denn jetzt nicht ans Arbeiten? Also wieder zu ihm hin: Komm, was ist das Problem? Warum fängst du nicht an zu arbeiten? Keine Reaktion. Und dann sagten die MitschülerInnen irgendwann: Das ist immer so, der macht nie was. – Okay, dachte ich, wenn das immer so ist, liegt es nicht an mir. Dann kann ich ja jetzt ganz beruhigt wieder zurückgehen.

Ich habe dann mit der Klassenlehrerin gesprochen und die sagte mir dann: Ja, der ist autistisch. Und wenn dann Vertretungsunterricht kommt – und mich hatte die Klasse vorher noch nicht erlebt – dann ist der überfordert. – Ich sage: Ja und warum hast du mir das nicht vorher gesagt? – Ja, es darf ja keiner wissen. Die Eltern möchten nicht, dass die Lehrkräfte wissen, dass er autistisch ist. Weil sie eben Angst vor Nachteilen haben.

Da ich aber da schon in der Schulleitung war, hat sie es mir eben dann doch gesagt. Ja und ich habe nur gedacht: Oh nein! Da saß… Also das muss eine echt absurde Situation gewesen sein, insofern der Junge völlig überfordert und ich völlig überfordert. Zwei Autisten, die sich da gegenüberstehen und mit der Situation überhaupt nicht klargekommen sind. Also das war… Und danach, aber dann habe ich später autistische Schüler gehabt, da hatte ich meine Diagnose selbst. Und ich bin da immer offen sofort mit umgegangen. Und das hat den Schülern unheimlich gutgetan, dass da endlich mal eine Lehrerin war, die auch autistisch ist, die sie verstanden hat. Ja, also da habe ich dann den autistischen Schüler besser verstanden.

00:14:36

Mirjam Rosentreter:

Ich habe mal geguckt unter der Frage, „als Lehrerin Autistin“ sein oder „autistisch sein als Lehrkraft“. Einfach mal recherchiert: Gibt es da irgendwas zu? Und da findet man wenig Texte dazu. Also, es gibt kaum Forschung oder es gibt kaum auch Selbsterfahrungsberichte, auch noch nicht so viele. Aber es wird eifrig diskutiert in Foren. Also diese Frage hat letztes Jahr mal einer in dem großen Forum Aspies e.V. gestellt: „Kann ich mir zutrauen, Lehrer zu werden? Ich hätte eigentlich Lust, ich habe aber eine Autismusdiagnose.“ Und das wurde dann das ganze Jahr über weiter diskutiert. Also man kann über mehrere Seiten, das ist ein sehr interessanter, spannender Dialog. Da werden unter anderem auch deine Folgen empfohlen, dass er sich die doch auch mal zu Gemüte führen soll, also Stephanies Podcast-Folgen, um eine Entscheidung zu treffen.

Unter welchen Voraussetzungen würdest du denn einem angehenden Lehrer oder einer angehenden Lehrerin sagen, die weiß, dass er oder sie Autistin ist, versuch‘s doch?

00:15:41

Stephanie Meer-Walter:

Vorab würde ich sagen: Man kann davon ausgehen, dass in jeder größeren Schule, wo so an die 100 KollegInnen sind, eine Lehrkraft autistisch ist. Denn autistische Lehrkräfte kommen viel häufiger vor, als wir denken. Vielleicht unter anderem auch deshalb, weil: Schule kennen wir. Und das ist was Gewohntes. Und ich werde auch von vielen autistischen Lehrkräften angeschrieben. Eben auch genau mit der Frage: Soll ich das weitermachen oder soll ich in die Schulleitung gehen? Was kann ich machen? Klar ist: Schule ist ein Ort – ich weiß nicht, ob es noch einen anderen Ort gibt, an dem so viele soziale Kontakte stattfinden. Ich bin da ja nie allein praktisch. Ich bin ständig in Interaktion mit anderen Menschen. Darüber muss ich mir im Klaren sein, dass das Herausforderungen sind. Und natürlich auch die Geräuschkulisse. Die Schulgebäude sind meist nicht so schallgedämmt, wie sie sein sollten. Die Klassenräume sind oft eng, also da ist ganz viel Nähe auch.

Dann ist natürlich die Frage: Lege ich das offen oder nicht? Die Gefahr besteht, dann eben als Lehrkraft nicht mehr ernst genommen zu werden. Das habe ich auch in Ansätzen bei mir gespürt. Es ist anstrengend, es ist kräftezehrend. Es ist ein, ich finde, ein ganz toller Beruf, weil ja eben gerade das Zusammensein mit den Schülern das Schöne ist und das wird auch Kraft geben. Auf der anderen Seite wird aber alles andere drumherum sehr, sehr viel Energie kosten.

00:17:27

Marco Tiede:

Ich würde gerne noch mal kurz ein paar Sätze zurückgehen. Als du die Situation beschrieben hast, du hattest die Diagnose noch nicht und hattest deinen ersten autistischen Schüler. Und hattest so diese Versagensängste, so von wegen: Der reagiert nicht, und was soll das denn jetzt?

Und das ist ja das, was ich auch häufig bei Kolleginnen erlebt hatte, als ich in der Schulbegleitung gearbeitet habe. Dass sie immer in diesem Dilemma sind, dass sie natürlich unsicher waren: Wie gehe ich jetzt auf die Bedürfnisse dieses autistischen Schülers ein? Und wie, ja, man müsste fast sagen, rechtfertige ich das vor dem Rest der Klasse? Weil ja oft immer so ein vermeintliches Ungerechtigkeitsempfinden aufkommt. Dann kommt man schnell mit dieser sogenannten Extrawurst um die Ecke. Und wenn man dann schon in diesen fleischlichen Metaphern denkt, habe ich dann immer, wenn es dann – Thema Extrawurst ist ja ein Nachteilsausgleich – gesagt: Naja. Nee, das ist keine Extrawurst. Das ist nur die Wurst, die sonst vorher in der Dose fehlt, die man dann bekommt, was aussieht wie Extrabehandlung. Und sich da eben auch als Lehrkraft selbstbewusst zu positionieren, zu sagen: Ich entscheide das so zugunsten dieses Schülers und kann das aber auch vor den anderen SchülerInnen vertreten.

Und das Schwierige ist, das hast du ja auch im Podcast ja schon dargestellt, dass diese Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs nahezu unendlich sind. Und es wird eine weite, große Wiese aufgemacht. Wie hier das Bremer Blockland, Bremer wissen das, oder andere weite Landschaften. Und man hat überhaupt keinen Anhaltspunkt: Wo kann ich denn jetzt ansetzen? Und das macht dann so eine große Verunsicherung aus, wo es dann wiederum ein paar Handhaben braucht.

00:19:21

Stephanie Meer-Walter:

Ja, das stimmt. Also meine Idealvorstellung ist, dass überhaupt kein Geheimnis mehr aus Autismus gemacht wird. Dass wir da offen in der Schule mit umgehen können und auch offen in der Klasse damit umgehen können. Denn das ist die Erfahrung, die ich als Lehrerin gemacht habe.

Ich hatte das Glück, praktische Philosophie unterrichten zu dürfen. Und habe dann in Klasse 5 mit den Schülern immer erstmal so ausverhandelt: Wie wollen wir miteinander umgehen? Ich habe auch ein Klassenhandbuch erstellen lassen, in dem die Schüler dann geschrieben haben, wie sie miteinander umgehen wollen. Was man machen sollte, um nett zu sein. Und was man doch besser unterlassen sollte. Das waren erstmal ganz konkrete Hinweise. Für alle war das gut.

Und da kam dann auch irgendwann mal auf, als ich fragte: Ja wir sind ja alle unterschiedlich, was kennt ihr denn? Und dann sagte irgendwann mal jemand: Behinderte oder Behindert. Und das war negativ gemeint. Und die Schülerinnen mit einem Förderschwerpunkt Lernen zuckten auch gleich zusammen. Und dann habe ich danach gefragt: Was verstehst du denn da drunter? Und dann habe ich gesagt: Ich bin auch behindert. Ich bin sogar schwerbehindert. – Sie? Nein, nie im Leben! Dann habe ich meinen Schwerbehindertenausweis rausgeholt und habe gesagt: Steht da. – Oh, hm. – Okay, kann also nicht das sein, was du dir darunter vorgestellt hast. – Nein.

Und dann haben wir eben darüber gesprochen und was das für mich auch bedeutet. Und die Mädchen sind richtig aufgeblüht. Und da können Kinder mit umgehen. Wir müssen einfach nur offen damit umgehen, dass wir tatsächlich unterschiedlich sind und dass natürlich auch die Bedürfnisse der anderen Kinder berücksichtigt werden. Also, da sehe ich überhaupt gar kein Problem drin. Es erfordert nur eben Offenheit. Und das erfordert sicherlich auch Mut. Es erfordert auch Sensibilität.

Jetzt mal einfach so in die Klasse zu gehen und zu sagen XY ist autistisch und das heißt dieses oder jenes, das geht gar nicht. Aber der einfachste Weg, und da möchte ich alle Lehrkräfte ermutigen, ist mit den Kindern selbst zu sprechen. Zu fragen, was ihnen schwerfällt oder was sie beeinträchtigt, wo Barrieren sind. Und wenn Sie das wissen, dann finden Sie auch eine Lösung. Sie haben ja auch Erziehungswissenschaften, Pädagogik studiert. Sie sind ja Fachleute. Sie werden die Lösung finden. Sie müssen nur erst verstehen, warum da eine Barriere ist. Und das können sie nur herausfinden, indem sie die Kinder direkt, selbst mit ihnen sprechen, mit den Eltern.

Und was ganz hilfreich wäre, eben auch für autistische Kinder, ist, dass ihnen die neurotypische Welt erklärt wird. Ich lerne sie jetzt erst kennen. Ich habe immer gedacht, ich war jetzt so lange im Schuldienst, ich weiß, wie die neurotypische Welt funktioniert. Und ich merke – ich schreibe mit einer Psychologin zusammen ein Buch, wo wir uns gegenseitig die Welt erklären – was ich alles gar nicht wusste. Und Sie müssen sich vorstellen, als nicht-autistische Menschen: Sie müssen alles explizit sagen. Sie können nie davon ausgehen, das wird er oder sie schon wissen, das ist doch klar. Nee, da ist gar nichts klar! Also lieber etwas mehr erklären und sagen, als zu denken: Naja, das wird er schon verstehen oder sie.

00:22:52

Mirjam Rosentreter:

Also da brauchen wir jetzt ein aktuelles Beispiel. Also was wusstest du nicht, wo dann deine Korrespondentin gesagt hat: Wie, das wusstest du nicht?

Stephanie Meer-Walter:

Ja, bei mir ist es ja immer noch so, der Umgang mit anderen Menschen. Und ich habe dann gesagt: Boah, mich irritiert das total, wenn mich andere Menschen immer mal wieder angucken. Ich frage mich immer, was soll das dann? Und dann sagte sie: Ja du, die wollen mit dir Kontakt aufnehmen. Wenn dich jemand anschaut, dann möchte er mit dir in Kontakt treten. Und ich sagte: Wie? Nee, das kann nicht sein.

Und dann haben wir eben darüber weitergesprochen. Und das waren so Dinge, das war mir überhaupt nicht klar. Ich habe das als unangenehm empfunden und gar nicht gemerkt, dass der Mensch vielleicht einfach mit mir sprechen wollte oder in Kontakt kommen wollte. Und ich dachte nur: Was soll das denn immer? Oder aber auch mit dem Smalltalk beispielsweise.

Wenn ich meine Wohnung verlassen habe, ich wohne im Mehrfamilienhaus, habe ich erstmal gelauscht: Sind die Nachbarn auf dem Flur? (Lachen im Publikum) Dann wartest du, bis die weg sind. Und dann habe ich auch mit ihr darüber gesprochen und gesagt: Was macht das denn für einen Sinn, wenn wir uns dann auf dem Flur begegnen und meine Nachbarin sagt: Oh, heute ist auch wieder so kalt. Und das weiß ich doch, dass es kalt ist. Oder sie fragt mich: Haben Sie ein neues Auto? Ja, hat sie doch schon längst festgestellt! Warum fragt sie mich? Und dann kommt die nächste Vermutung, Ja wahrscheinlich, weil ihr Fahrrad dann in den Kofferraum passt. Passt nicht in den Kofferraum. War auch nicht der Grund. Es musste einfach günstiger sein. (Lachen im Publikum). Aber ich habe dann einfach genickt. Und dann hat sie mir gesagt: Ja, aber Smalltalk bedeutet nicht, dass man wirklich über das Wetter redet, sondern dass man miteinander in Beziehungen tritt. Dass man mal so abtastet: Wie geht es dem anderen? Ist das Freund, Feind? Sind wir einander wohlgesonnen? Dass man so eine gemeinsame Ebene findet. Und dann habe ich gedacht: Ja, das macht durchaus Sinn.

Und seitdem begegne ich meinen NachbarInnen auch offener und weiß jetzt, welchen Sinn das hat. Und ich finde es ja auch schön, wenn wir uns in der Hausgemeinschaft miteinander auch verstehen und irgendwo eine Beziehung zueinander haben. Aber das war mir vorher nicht klar. Ich fand das immer total bescheuert.

00:25:02

Mirjam Rosentreter:

Und ich habe als neurotypischer Mensch die Erfahrung gemacht, ich mag Smalltalk auch nicht gerne. Ich finde das ziemlich unangenehm, wenn es so oberflächlich ist, also das kenne ich auch. Andererseits, diese Beziehungsebene ist eben da. Wenn ich jetzt in Situationen, gerade zum Beispiel auch im Podcast, die Smalltalk sind, dann wird es bei einem Gespräch mit einem autistischen Menschen sehr schnell tiefgründig. Und das gefällt mir so unheimlich gut. Deswegen kann ich gar nicht verstehen, warum du denkst, dass so viele neurotypische Menschen autistische Menschen unsympathisch finden. Denn ich habe in letzter Zeit, vielleicht liegt es auch an unserer Bubble, eigentlich immer das Gegenteil gehört: Dass ganz viele Menschen, die selbst nicht autistisch sind, sagen, sie finden autistische Menschen total angenehm. Weil sie ehrlich sind. Und weil es eben nicht so oberflächlich ist. Weil man sich darauf verlassen kann, dass da eine Tiefe ist. Wenn dieser Mensch mit mir redet, dann möchte dieser Mensch auch wirklich mit mir reden.

Stephanie Meer-Walter:

Ja, das kann so sein. Ich weiß nicht, ich habe das jetzt, vielleicht habe ich es auch nie dann so wahrgenommen. Aber da fällt mir ein: Vor zwei Wochen war ich an der Uni Bochum und habe da eine Fortbildung gemacht. Und zuvor haben wir uns über Zoom abgesprochen. Und da sagte die zuständige Frau: Ja, es ist ja noch nicht so weit, und wir brauchen ja jetzt hier keinen Smalltalk zu machen. Zack, war ihr Bildschirm aus! Und ich habe gedacht: Nee! Also, da war ich dann irritiert. Weil eigentlich hätte es mir ja total entgegenkommen müssen. Aber, ich wusste ja da schon, wozu man Smalltalk macht. Und da habe ich gedacht: Was ist das denn? Da fühlte ich mich so ein bisschen vor den Kopf gestoßen. Habe dann aber gedacht: Naja, vielleicht hat sie das gesagt, weil sie weiß, dass ich keinen Smalltalk machen möchte. Ich habe sie dann später darauf angesprochen. Und sie sagte dann auch: Nee, ich mag das auch nicht. Das ist für mich Zeitverschwendung, ich habe doch genug zu tun. Okay, gut. Also scheint das Thema Smalltalk doch für mehr Menschen ein Thema zu sein, als wir denken.

00:27:12

Mirjam Rosentreter:

Als du gerade über die Schule gesprochen hast und wie du das als Lehrerin gemacht hast mit dieser offenen Herangehensweise im Philosophieunterricht. Dass einfach die Kinder lernen, ihre Bedürfnisse zu äußern. Da ist mir die eine Frage hier aus dem Publikum, Dankeschön, wieder eingefallen. Thema Fremdbestimmung. Gerade die Schule ist ja ein Ort, wo ganz viel fremdbestimmt ist oder wo sich die Lehrkräfte vielleicht auch einfach nur fremdbestimmt fühlen, wie sie etwas zu tun haben. Das scheinst du ja aufgebrochen zu haben in deinem Unterricht.

Stephanie Meer-Walter:

Ja, also, ich glaube, so habe ich es auch in der Schule erlebt. Dass viele Lehrkräfte Angst hatten, irgendwas falsch zu machen. Und sie werden ja auch recht schnell an den Pranger gestellt. Wenn irgendwas nicht gut läuft, dann geht das auch gerade heute in den sozialen Medien ganz schnell. Da sehe ich schon eine Gefahr. Und sie werden auch je nachdem von der Schulleitung ermuntert, Wege zu gehen, die ungewöhnlich sind oder eben nicht.

Und mir hat einmal eine Schuldezernentin gesagt: Das Schulgesetz lässt doch alles zu! Machen Sie das doch so. Und da habe ich nur gedacht: Ja, habe ich dann gesagt, ja. Und warum ermutigen Sie dann die Schulleitungen und Lehrkräfte, genau das auch zu tun? Und da ist mir dann klar geworden: Ja, wir können ganz viel machen. Wir sind gar nicht so eng. Das Korsett ist nicht so eng. Wir haben Möglichkeiten.

Aber wenn das an der Schule vielleicht nur eine Lehrkraft ist, ja, dann wird die verbrannt an der Stelle. Das kann nicht gut gehen. Und das Entscheidende, finde ich, in Schule, auch im Verhältnis zu SchülerInnen, ist das: Also, eine Beziehungsgestaltung nach Carl Rogers. Nämlich Empathie, empathisches Verstehen. Das heißt: Ich will verstehen – und das wollte ich immer – warum meine Schüler so sind, wie sie sind. Was sie bewegt, wo Probleme sind oder was gut läuft. Ohne das zu bewerten. Ohne zu sagen: Das ist jetzt gut oder das ist schlecht. Sondern einfach nur verstehen wollen. Und dann die bedingungslose positive Zuwendung. Also, du kriegst von mir Aufmerksamkeit oder positive Zuwendung, wenn du das und das erfüllst: wenn du nicht laut bist, oder wenn du dieses, jenes machst.

Und eben die Kongruenz, also echt sein. Dass auch ich mich ein Stück weit öffne und auch mit mir im Reinen bin. Das führt nämlich dann dazu, dass ich andere Meinungen und Anderssein stehen lassen kann. Dass ich nicht denke: Ich muss mein Sein dem anderen überstülpen. Und das finde ich eben extrem wichtig: Da die Schüler ernst zu nehmen und sie zu sehen. Das wünschen wir uns doch alle.

00:29:59

Mirjam Rosentreter:

Ich möchte mal kurz eine Extremsituation, die hier auf einer Frage geschildert wurde, reingeben. Um zu gucken, wie man denn reagieren kann, wenn gerade wirklich Not herrscht. Also hier ist das Beispiel: Ein Kind möchte den Klassenraum nicht betreten und reagiert auch auf die Begleitpersonen aggressiv, auf die Mutter, auf die Lehrerin. Und selbst im sogenannten Ruheraum geht diese Aggression nicht zurück oder die nach außen hin sich darstellende Aggression. Es gibt Impulsdurchbrüche. Was kann man tun?

Stephanie Meer-Walter:

Ja, das erstmal ernst nehmen. Und das Kind eben nicht dazu zwingen, in den Klassenraum zu gehen, in den Ruheraum zu gehen. Es gibt Gründe, warum das Kind das nicht kann. Das Kind, wenn es könnte, würde es es tun. Und da gilt es herauszufinden, worin die Überforderung besteht. Und es ist eben auch so, dass… Man kann nicht sagen, dass für alle autistische Kinder die Beschulung in der Regelschule oder in einer Förderschule die richtige ist. Da sind wir leider nicht so offen. Alternative Schulformen wie Web-Schulen werden oft erst dann finanziert, wenn das Kind wirklich völlig am Ende ist. Es muss einen sehr langen Leidensweg hinter sich haben. Also, da kann ich nur empfehlen, erstmal das Kind aus der Situation rauszunehmen. Und dann sich heranzutasten: Was löst die Überforderung aus?

Denn der Bo Hejlskov Elvén, der eben auch viel zum unaufgeregten Umgang mit autistischen Kindern geschrieben hat, sagt ganz klar: Kinder wollen sich gut benehmen. Und sie tun das, wenn sie das können. Das geht kein Kind hin und sagt: Ich habe jetzt mal Bock, hier alle zu ärgern, zu nerven und mir richtig Ärger einzuhandeln. Nein, sie können es dann nicht. Und da ist es eben dann unsere Aufgabe als Lehrkräfte, als Erwachsene, da zur Seite zu stehen und die Bedingungen zu schaffen, dass sie es können.

00:32:02

Mirjam Rosentreter:

Du machst ja auch immer wieder Schulaufklärungen, Klassenaufklärungen, Marco. Was ist dann so der entscheidende Punkt, wo du merkst, das ist das, was sie verstehen müssen, damit es besser klappt?

Marco Tiede:

Darf ich gleich noch mal darauf zurückkommen? Ich würde noch mal auf die Situation eingehen, die du gerade vorgelesen hast. Weil gleichzeitig dürfen die Lehrkräfte dann auch mal für sich anerkennen: Nein, ich bin nicht gemeint mit dieser Art von Verweigerung, von dieser Aggressivität. Weil, es kommt dann ganz schnell zustande, dass gesagt wird: Ja, der provoziert was. Der will ja nur Aufmerksamkeit. Und das greift viel zu kurz, das stimmt so nicht. Also dieses nicht persönlich zu nehmen, auch wenn wir manchmal betroffen sind. Aber die Konflikte werden erst dadurch stärker, dass wir sie anfangen zu bewerten und nicht feststellen, da will jemand nicht dahin, da will jemand nicht dorthin.

Es ist eine Verweigerungshaltung, die hat einen Grund, wie du das ja schon sagtest.

Und das versuche ich natürlich dann auch in den Schulaufklärungen nahezubringen, das, wenn die Kinder irritiert sind. Also, da gehe ich ja dann in die Klassen und versuche ein bisschen klarzumachen, was es heißt, mit einer autistischen Wahrnehmung in der Schule unterwegs zu sein. Das hattest du ja schon eindrucksvoll geschildert. Und so ein bisschen auch von dieser Stigmatisierung von Begriffen wie Behinderung und Autismus zurückzugehen. Und ein AHA-Erlebnis kommt dann zustande, wenn ich dann ein Kind auffordere und sage: Komm doch mal nach vorn, schreib mal deinen Namen an die Tafel. Und ich stelle mich dem Kind in den Weg. Ich sage: Wieso gehst du nicht nach vorn und schreibst den Namen an die Tafel? – Ja, weil du stehst mir im Weg. – Ja, weil du behindert bist! Ich stehe dir im Weg und hindere dich, da vorzugehen. Also das ist dann erst mal so eine etwas plakative Darstellung von Behinderung, die von außen kommt. Aber die kommt natürlich auch zuweilen aus einem Selbst heraus. Meine Hauptüberschrift bei Schulaufklärungen ist dann immer: Jeder ist anders. Und ich kann dann mal mit meinen anderen halben Ohren anfangen und sagen: Auch ich habe eine Behinderung und ohne Hörgeräte würde ich hier nur Bahnhof verstehen.

Das ist, glaube ich, so ein Knackpunkt: Also von diesen wertenden Betitelungen, Bezeichnungen wegzukommen. Weil, da tun sich ja selbst die autistischen Schüler oft schwer, sich zu outen, weil sie wissen, das wird eigentlich auf dem Schulhof überall als Schimpfwort benutzt. Und dann: Nee, ich bin nicht autistisch, hab ich nichts mit zu tun! Aber dann doch wieder zu ermutigen, zu sagen: Doch, autistisch sein kann okay sein. Das bringt einige Probleme und Schwierigkeiten mit sich, aber das eigentliche autistische Sein ist nicht das Problem.

00:34:48

Mirjam Rosentreter:

Stephanie, du hast in deinem Buch geschrieben, dass für dich als Autistin besonders bitter immer war, das Gefühl zu haben, dir wird nicht geglaubt. Als Schülerin schon, aber auch als Lehrerin. Du hast vorhin auch im Nebensatz erwähnt, dass auch deine Kolleginnen und Kollegen nicht sehr sensibel darauf reagiert haben, als sie wussten, dass du Autistin bist.

Stephanie Meer-Walter:

Ja, also nicht sensibel, weil sie einfach nicht wussten, was es heißt, autistisch zu sein. Dass dann zum Beispiel gesagt wurde, als ich mich verabschiedet habe, als klar war, dass ich den Schuldienst verlasse: Ja dann komm doch mal wieder, wenn wir Kollegiums-Grillen haben! (Publikum lacht) So in ganz entspannter Atmosphäre!

Marco Tiede: Jay!

Stephanie Meer-Walter:

Und ich habe gedacht: Nee! Ich dachte, ich hätte das jetzt gerade eben schon erklärt. Aber das war damals, da hatte ich die Diagnose mal gerade ein Jahr, da habe ich das mit Sicherheit auch nicht in der Form erklärt, wie ich es heute tun würde. Ja, dieses, also es ist ja schon… Schon als Kind in meiner eigenen Ursprungsfamilie immer: Stelle dich nicht so an! Das ist nicht so! Das muss man wegstecken! Jeder hat mal schlechte Momente! Und so zog sich das durch mein Leben. Überall, wenn ich dann sagte, was ich wahrgenommen habe oder wo ich auch die Schwingungen von anderen spürte: Du wieder! Du bist zu sensibel! Nun wird‘ doch mal ein bisschen härter! Und so weiter und so fort. Und da fängt man irgendwann… Also, das macht mit dem Selbstwert ganz viel. Und da habe ich echt überlegt: Irgendwas stimmt nicht. Also, ich komme damit nicht klar. Und alle sind anders. Da habe ich jeglichen Halt verloren. Und deshalb war das das Schöne in der Psychotherapie, dass die Therapeutin mir dann sagt: Ich glaube ihnen. Das ist irre. Und jetzt stellen wir uns mal vor, in der Schule sagt eine Lehrerin zu dem autistischen Kind: Ich glaube dir. Und was können wir machen, damit es besser wird? Das ist ja irre.

00:36:59

Marco Tiede:

Und dieses Stell-Dich-Nicht-So-An, das ist ja auch eins deiner, ich sag mal, Top Ten im Bullshit-Bingo. Und einer meiner Klienten hat ja auch mal gesagt, der das ja auch ständig zu hören bekam: Ja, jetzt stell dich nicht so an. Und da sagt er: Das würde man zum Rollstuhlfahrer nicht sagen. Zu sagen: Ey, jetzt steh mal auf, stell dich nicht so an. Weil: Das ist sichtbar. Und dann auch in den Top Ten des Bullshit-Bingos: Wie, du bist autistisch? Das sieht man dir gar nicht an! Du guckst mich doch an! Du kannst doch nicht autistisch sein! Du sprichst doch, du bist doch klug. Und so weiter, ne?

Stephanie Meer-Walter:

Ich vergleiche das dann immer mit: Ich hatte mal als Kind – bin ich mit dem Fahrrad gestürzt und hatte dann die Kniescheibe angebrochen und ein Gips von oben bis unten damals noch. Und wenn man dann jemandem sagt: So, stell dich nicht so an. Der Fahrstuhl wird jetzt geschlossen. Du kannst schließlich die Treppen selbst hochlaufen. Dann werde ich das können mit dem Gipsbein. Ja, ich kriege das hin. Aber es ist ein wahnsinns Kraftakt. Das Bein wird dadurch noch schlechter. Und irgendwann wird es gar nicht mehr gehen. Und so ist das eben auch mit dem autistischen Sein. Wenn die autistischen Bedürfnisse negiert werden und gesagt wird: Das ist nicht so, und nun pass dich mal an. Dann kommt eben irgendwann der Zusammenbruch.

00:38:18

Mirjam Rosentreter:

Was auch nicht vergessen werden darf, ist, glaube ich, dass wir heute noch über Mobbing ein bisschen sprechen. Es ist Fakt, dass autistische Schülerinnen und Schüler fast alle gemobbt werden. Da habe ich Studien dazu gefunden. Die Zahlen sind zwischen 74 und 95 Prozent. Also autistische Kinder sind in der Schule diejenigen, die am häufigsten von Mobbing betroffen sind. Was glaubst du, können Schulen tun, um diese Quote zu senken?

Stephanie Meer-Walter:

Ja, erstmal ist es wenig überraschend. Weil die Menschen… Offensichtlich sind wir so, dass wenn andere Menschen anders sind als die Mehrheit, dass wir anfangen auszugrenzen. Und da sind natürlich autistische Menschen prädestiniert, Kinder, weil die nun mal anders sind. Was können wir machen? Also, erstmal ist das ernst zu nehmen. Und jede Schule sollte aktiv gegen Mobbing vorgehen und das nicht nur im Schulprogramm stehen haben. Und da wirklich ganz klar sein. Das ist viel Arbeit, weil es an jeder Schule Mobbing gibt, wenn nicht sogar in jeder Klasse. Und da müssen autistische Kinder auch geschützt werden. Und da muss auch da wieder ihnen geglaubt werden. Wie oft habe ich schon von autistischen Kindern und ihren Eltern gehört, dass denen nicht geglaubt wurde, was so alles passiert. Weil diejenigen, die die Kinder mobben oder schlecht, mies behandeln, die machen das ja im Versteckten, im Verborgenen. Die machen das ja nicht offen vor der Lehrkraft oder vor anderen. Und da hilft nur wirklich, dass wir das tun. Da ein Programm zu haben und da aber auch immer wieder dem nachzugehen. Also nicht zu sagen: Wir haben jetzt mal einmal eine Schulwoche zu Mobbing gehabt. Und wir hatten vielleicht Leute, Trainer von außen da, die so das soziale Miteinander geübt haben. Und dann sind wir mit dem Thema durch. Und dann wird es wieder… gerät des schnell in Vergessenheit. Sondern wirklich auf das Miteinander zu achten, selbst Vorbild zu sein und das immer wieder einzufordern und zu trainieren. Wenn wir das nicht trainieren… Und es darf eben auch nicht dazu führen, dass gesagt wird: Naja, du bist aber auch, mit deinem Verhalten provozierst du das ja auch. Du bist ja selbst schuld, so Victim Blaming, auch das darf nicht passieren. Und es müssen diejenigen, die sich da falsch verhalten, die sogenannten Mobber, die müssen bestraft werden und nicht das Kind, dem da Böses angetan wird.

00:41:02

Mirjam Rosentreter:

Ich finde dein eigenes Erlebnis, was du in deinem Buch »Autistisch kann ich fließen« schilderst, sehr bezeichnend, um mal zu zeigen, wie subtil Mobbing sein kann. Du hattest in der Schule eine Lieblingstasse, schreibst du da?

Stephanie Meer-Walter:

Ja. Nein, das ist nur ein Beispiel. Also ich habe meine Lieblingstasse, die habe ich ja immer schön bei mir am Platz gehabt und nicht in der Teeküche eines Lehrerzimmers. Denn gut, Teeküchen im Lehrerzimmer sehen selten wirklich schön aus (Publikum lacht und Marco). Da wollte ich meine Tasse nicht haben. Das war ein Beispiel, wie es sein kann, wenn man so Dinge hat, an die man sich gewöhnt hat. So Tasse oder auch Stifte. Dann fällt es wahnsinnig schwer, wenn die nicht da sind. Wenn andere die genommen haben. Wo andere sagen würden: Ja und? Nimmst du halt die nächste Tasse oder den anderen Kugelschreiber – ist das für mich ein Drama. Da breche ich emotional innerlich zusammen und kann dann an dem Tag eigentlich gar nicht mehr so richtig handeln und überlegt handeln. Das muss nicht unbedingt was mit Mobbing zu tun haben. Sondern einfach so, dass es anderen nicht bewusst ist, dass mir das so wichtig ist, dass ich diese eine Tasse kriege.

00:42:21

Mirjam Rosentreter:

Hast du denn, weil wir jetzt langsam zum Ende kommen, noch einen Rat an Eltern, was sie tun können, damit sie zwischen ihren Kindern und der nicht verstehenden Welt, wenn sie ihnen in der Schule begegnet, vermitteln können?

Stephanie Meer-Walter:

Ja, Botschafter für neurokulturelle Kompetenz (Raunen im Publikum) zu werden. Das ist so für mich letztlich das, wo ich erkannt habe, daran fehlt es uns. Neurokulturelle Kompetenz auf beiden Seiten. Dass wir wissen, dass es verschiedene Wahrnehmungen gibt und dass wir uns gegenseitig verstehen müssen. Und wenn die Eltern… Wenn sie als Eltern nicht autistisch sind, dann hilft es ihren Kindern sehr, wenn sie ihren Kindern erstmal glauben. Davon gehe ich aus. Und sie unterstützen und auch auf ihre Bedürfnisse eingehen. Aber auch ihren Kindern die neurotypische Welt erklären. Damit sie verstehen, warum Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Oder warum die Dinge so laufen. Damit das Ganze einen Sinn erhält. Dann ist es leichter einzuordnen. Und sie werden leider immer wieder kämpfen müssen. Aus diesem Kampf, ich glaube, da kann ich wenig Hoffnung machen, werden sie nicht herauskommen. Es gibt auch Eltern, die auf sehr verständnisvolle Schulen und Lehrkräfte treffen, wo das alles gut läuft.

Aber seien Sie sozusagen Anwälte Ihrer Kinder und Übersetzer für Ihre Kinder und vermitteln Sie. Versuchen Sie also den nicht autistischen Lehrkräften, Pädagogen oder Menschen, die mit ihren Kindern zu tun haben, das autistische Sein zu erklären und ihren Kindern das neurotypische Sein. Sodass ein Aufeinanderzugehen möglich wird.

00:44:07

Marco Tiede:

Ich glaube, was ich heute am prägnantesten finde, ist, dass Kind oder die Menschen im Spektrum, aber eigentlich alle Menschen, ernst nehmen. Es geht um ernst nehmen und verstehen wollen. Deswegen finde ich auch den Titel deines Buchs, „Schüler/innen im Autismusspektrum verstehen“, so treffend. Weil ich auch diesen Verstehensaspekt immer wieder viel wichtiger finde als die ganzen vielen Lösungen. Die natürlich irgendwann auch nötig sind, aber das Verstehenwollen und Ernstnehmen.

Stephanie Meer-Walter:

Ja, dann ist Verhalten oder sind Verhaltensweisen oder was mir gesagt wird… Wenn ich verstehe, warum das so ist, dann gehe ich da doch ganz anders mit um. Dann ist das nicht mehr negativ. Dann fühle ich mich nicht mehr vielleicht persönlich angegriffen. Und das ist vielleicht etwas, was gerade in der heutigen Zeit uns Menschen fehlt. Wie oft höre ich eben genau, was du gerade sagtest: Das würde allen guttun. Ja, das stimmt, es würde allen guttun. Und was hält uns davon ab?

00:45:18

Mirjam Rosentreter:

Vielen Dank, Stephanie, dass du heute uns hier vor diesem großen Publikum unsere Fragen beantwortet hast. Und jetzt kommt ihr auch noch mal in den Genuss einer kurzen Lesung, denn zum Schluss unseres Gesprächs, zum Ausklang, wolltest du noch mal ein paar Zeilen aus deinem Buch vorlesen. Und vorher sagen wir euch schon mal Tschüss hier.

Marco Tiede:

Ich danke auch für diese intensiven, eindrücklichen Einblicke.

Mirjam Rosentreter:

Vielen Dank euch fürs Zuhören und viel Spaß jetzt noch oder einfach Genuss beim Zuhören.

00:45:58

Stephanie Meer-Walter:

Ja, also keine Sorge, das sind jetzt noch fünf Minuten. Also zum Abschluss. Und auch am Ende positiv natürlich.

Ja, Othering, zum Anderen gemacht. Es fällt schwer, sich nicht im Vergleich zur nichtautistischen Norm zu bewerten. Wenn man nicht um sein autistisches Sein weiß, wird man sich fragen, warum vieles so anstrengend ist und nicht gelingen will. Liegt eine Diagnose vor, ist sie in Abgrenzung zum nichtautistischen Sein gestellt worden. Das Anderssein wird von der nichtautistischen Mehrheit definiert und zwar nicht als solches, sondern im Vergleich zu sich selbst. Die autistischen Menschen sind nicht die Anderen, sie werden zu den Anderen gemacht. Diesen Prozess nennt man Othering. Nichtautistisch ist der Goldstandard, der von allen anzustreben ist. Autistisch ist lediglich ein Subtyp menschlichen Seins. „Und dieser Realität kann niemand entrinnen, dessen Identität nicht selbstverständlich ist, dessen Bedürfnisse und Perspektive normalerweise vergessen werden, und der daran gewöhnt ist, gegen eine Welt anzukämpfen, die nicht nach den eigenen Bedürfnissen geformt wurde.“ Dieses Zitat bezieht sich auf das Fehlen der weiblichen Perspektive, auch noch im Jahr 2025, in einer als selbstverständlich männlich betrachteten Welt. Um wie viel mehr trifft die Aussage auf autistische Menschen zu? Sie werden nicht nur gar nicht erst mitgedacht, sondern schlicht negiert.

Der Selbstwert erschöpft sich nicht allein aus dem Wert, den ich mir selbst zuschreibe. Er ist immer auch aus dem Stigma Autismus, das sich an den Defiziten ausrichtet, und mir damit sagt, ich bin nicht genug. Erst ein Individuationsprozess im Sinne des Schweizer Psychiaters Carl Gustav Jung, Begründer der analytischen Psychologie, ermöglicht mir, mich selbst anzunehmen, in der dialogischen Auseinandersetzung meines Bewussten mit meinem Unbewussten und in der Ablösung von den Erwartungen meines Umfelds, den nichtautistischen Maßstäben, den Normen und Werten der nichtautistischen Gesellschaft.

00:48:03

Damit lege ich meine Scham, meine Selbstverurteilung, meine Angst ab und kann die Blickrichtung wechseln hin zum Einfordern eines So-sein-Dürfens, wie ich bin. Ähnlich wie ich mir als Individuum einen Wert gebe, erhalten auch die verschiedenen Gruppen meiner Gesellschaft einen Wert. Die dominierten, unterdrückten und oder benachteiligten Minderheiten ermächtigen sich selbst, indem sie die ihnen aufgezogene Passivität durchbrechen. Sie beginnen, für sich selbst zu sprechen, während zuvor andere für sie gesprochen haben.

Indem sie diesen das Wort entreißen, verändern sie auch die Machtverhältnisse, entlarven die gesellschaftliche Unterscheidung von normal und anders, gleich abnormal, als von Menschen geschaffenes Konstrukt. Diesen Prozess kann man gegenwärtig sehr gut in der autistischen Community beobachten, die weit davon entfernt ist, eine homogene Gruppe zu sein. Aber sie ist im Begriff, sich von der nicht-autistischen Beurteilung und Einordnung zu emanzipieren, selbst zu sprechen, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Zuweisungen und Beschränkungen durch nicht-autistische sogenannte Autismus-ExpertInnen werden zurückgewiesen. Was die Stimmen eint, sie wollen nicht länger von Nicht-AutistInnen vorgeschrieben bekommen, wie sie zu sein, was sie zu leisten, was sie zu können oder was sie zu dürfen haben und wozu sie imstande oder nicht imstande sein können.

00:49:32

Dennoch braucht es so etwas wie eine Normalität in Anführungszeichen als Referenz, um eben anders sein und die daraus resultierenden anderen Anforderungen beschreiben und Zugang zu den nötigen Hilfen und Unterstützung schaffen zu können. Nun ist aber die gegenwärtige konstruierte Normalität mit Macht und Privilegien verbunden. Diese müssen ihr genommen werden und dafür braucht es einen machtkritischen Diskurs. Nach wie vor werden Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder eben ihres autistischen Seins ausgegrenzt und benachteiligt.

Es sind strukturelle und institutionelle Machtmechanismen, die Chancengleichheit, Gleichberechtigung und Inklusion verhindern. Diese müssen erst ausgehebelt werden, um so dann eine neue Normalität installieren zu können. Eine Post-Normalität, in der jedes Sein gleichberechtigt ist, ganz real, nicht nur nach dem Grundgesetz auf dem Papier, in der anders sein eben kein Stigma und Ausschluss von Machtteilhabe bedeutet. Der Begriff der Inklusion würde dabei nicht verloren gehen oder überflüssig werden, es ginge weiterhin darum, Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit herzustellen, Beeinträchtigungen auszugleichen, verstanden aber als selbstverständlicher gesellschaftlicher Auftrag für alle Menschen.

00:50:45

Das bekannte Normal als Goldstandard hätte damit ausgedient. Quo vadis? Wohin wird die Reise für autistische Menschen gehen? Werden sie dauerhaft und vor allem nachhaltig eine Stimme erhalten? Eine eigene Stimme, die gehört wird, der geglaubt wird, die ein Echo findet? Diversität ist zu dem Modewort unserer Zeit verkommen. Es suggeriert eine offene und empathische Gesellschaft, die Anderssein begrüßt. Die Realität sieht allerdings anders aus. Diversität, Inklusion, Teilhabe, zu oft noch sind dies schlicht Euphemismen.

Das eigene oder fremde Anderssein auszuhalten, ist vielleicht die größte Herausforderung in unserem Leben.

Wenn wir aber das jeweilige Anderssein wie eine Fremdsprache lernen, in die andere Welt eintauchen, dann können wir das eigene oder fremde Anderssein verstehen und damit auch wertschätzen. Ja, wie geht autistisch? Nicht ohne Vertrauen in und Begleitung von lieben Menschen, bei denen ich sein darf, sein darf so wie ich bin. Menschen, die mir Sicherheit, Halt und Wärme geben. Menschen, die mir helfen, mich selbst anzunehmen und wertzuschätzen, weil sie mich annehmen und wertschätzen. Die Psychoanalytikerin und Literaturtheoretikerin Julia Kristeva fragt in einem Buch, können wir die anderen Leben erleben ohne Ächtung, aber auch ohne Nivellierung? Ja, das können wir. Und dann geht auch autistisch.

(Studioaufnahme)

0:52:35

Mirjam Rosentreter:

So, jetzt sind wir noch mal im Hier und Jetzt: Marco und ich bei mir in meinem kleinen Heimstudio unter dem Bremer grauen Himmel heute. Vielen Dank, dass ihr bis hierhin zugehört habt. Wie gesagt, wer es noch nicht gemacht hat: Hört euch noch die Lesung an von Stephanie, die wir als Extrapod veröffentlicht haben. Es lohnt sich sehr. Wir freuen uns, wenn ihr auch beim nächsten Mal wieder mit dabei seid und es fleißig weitererzählt, dass ihr unseren Podcast gefunden habt. Und ihr dürft uns auch gerne schreiben an hallo@spektrakulaer.de.

Marco Tiede:

Ja, bis dann.

Mirjam Rosentreter:

Tschüss.

Marco Tiede:

Und frohes Weiterhören. Tschüss.

0:53:13

(Outro)

Sprecher:

Das war Spektrakulär. Eltern erkunden Autismus.

Mirjam Rosentreter:

Unsere Kontaktdaten und alle Infos zu unseren Folgen findest du in den Shownotes auf unserer Seite spektrakulär.de.

Sprecher:

Der Podcast aus dem Martinsclub Bremen. Gefördert durch die Heidehof-Stiftung, die Waldemar-Koch-Stiftung und die Aktion Mensch.

Sprecherin:

Produziert in Zusammenarbeit mit Selbstverständlich, der Agentur für barrierefreie Kommunikation.

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