Porträt von Stephanie Meer-Walter vor vollem Saal.

Extrapod 4

Autistisch? Kann ich fließend! (Auszüge)

MHinweis:

Wir haben für euch den Mitschnitt der Lesung von Stephanie Meer-Walter transkribiert, also verschriftlicht. Sie hat am 2. April 2025 vor unserer Podcast-Aufzeichnung Auszüge aus ihrem Buch „Autistisch? Kann ich fließend!“ vorgelesen. Die Veröffentlichung der Hör- und Leseprobe auf unserer Seite und als Podcast wurde uns vom Beltz-Verlag freundlicherweise vorab genehmigt.

Der nachfolgende Text entspricht nicht dem professionell lektorierten Ursprungstext. Der Podcast ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt.

Intro

Sprecher:

Spektrakulär.

O-Ton: Applaus (Gäste im Wallsaal der Stadt-Bibliothek Bremen)

O-Ton: Lesung Stephanie Meer-Walter

Lesung Stephanie Meer-Walter, am 2. April 2025

0:00:20

Ja, vielen Dank für die nette Einleitung und für die Einladung, dass ich heute hier sein darf und aus meinem Buch lesen darf und mit Ihnen ins Gespräch nachher komme über das wahrscheinlich nicht ganz so erfreuliche Thema Schule und autistische SchülerInnen.

0:00:41

Vorab möchte ich sagen, dass ich nicht für alle AutistInnen sprechen kann. Es ist mein subjektives Erleben und Empfinden, für das ich in der wissenschaftlichen Literatur nach Erklärung, Rechtfertigung und auch Bestätigung gesucht habe. Meine Wahrnehmung ist darüber hinaus durch meine späte Diagnose dadurch geprägt, dass ich mich wahrscheinlich mehr als die Hälfte meines Lebens als autistische Nicht-Autistin durch das Leben kämpfen musste. Auch, dass ich eine Frau bin, spielt eine Rolle. Ist doch der klinische Blick nach wie vor ein am männlichen Autisten orientierter.

Trotzdem versuche ich, Stimmen anderer AutistInnen zu integrieren. Aber ich kann nicht für sie sprechen. Es bleibt mein persönlicher Blickwinkel. Und ich möchte jetzt in vier Abschnitten mit Ihnen einige, wie ich finde, die wesentlichen Aspekte erstmal beleuchten. Ein Leben im Reizgewitter.

0:01:44

Was kann man hören, wenn man genauer hinhört? Vielleicht Autos, die vorbeifahren, Gespräche im Hintergrund. An der Haustür klingelt es, der Nachbarshund bellt. Ein Krankenwagen fährt vorbei und im Sommer wird oft draußen der Rasen gemeldet. Schritte sind zu hören, auf dem Hausflur oder im Zimmer nebenan. Ein Telefon klingelt. Und außerdem befindet sich im Raum auch noch eine tickende Uhr. Diese Geräusche sind natürlich unterschiedlich laut.

Jetzt stellen Sie sich bitte vor, dass Sie die einzelnen Geräusche gleich laut wahrnehmen, dass sie also kaum noch voneinander zu unterscheiden sind. Hui, ein ganz schöner Geräuschebrei entsteht da. Stellen Sie sich weiter vor, dass diese Geräuschkulisse Sie fast permanent begleitet, dass Sie sie nicht filtern können, also die Geräusche nicht irgendwann im Hintergrund verschwinden können. Anstrengend, oder? Die Konzentration lässt dann ziemlich schnell nach. Wenn die Geräusche nicht ausgeblendet werden können, geraten sie schnell unter Stress und irgendwann wird es zu viel.

0:02:50

Sie sind überfordert und stürzen ins Chaos. Es ist nahezu unmöglich, sich dabei auf die Gespräche mit anderen zu konzentrieren oder auf die Arbeit, weil einerseits schon rein akustisch ihr Gegenüber nicht zu verstehen ist und andererseits auch schlicht die Energie irgendwann dazu fehlt.

0:03:06

Es kommen aber noch grelle Lichter, flackernde Lichtquellen und intensive bunte Farben hinzu. Es wird nicht besser, es wird noch schlimmer. Dazu gesellen sich verschiedene Gerüche, Ihr Nachbar hat vielleicht gekocht, die Essensgerüche ziehen durch den Flur in Ihre Wohnung, wenn Sie die Tür öffnen. Die Verkäuferin hat ein aufdringliches Parfum aufgelegt, im Supermarkt kommt Ihnen ein Mensch mit Schweißgeruch entgegen und im Bus werden Sie von hinten ohne Vorwarnung an der Schulter berührt, weil jemand aussteigen möchte.

0:03:36

Diese verschiedenen Reize wirken nicht einzeln, sondern akkumulieren sich. Es braut sich ein Reizgewitter zusammen. Das lässt sich gut mit einem Schützenfestumzug oder ähnlichen Umzügen vergleichen. Da marschieren verschiedene Gruppen durch die Straßen und präsentieren sich den ZuschauerInnen am Straßenrand. Die Musikkapellen Trompeten und Trommeln, die Sportvereine lassen laute Musik vom Band laufen und stellen ihre Sportart in schnellen Bewegungen vor. Und die AbiturientInnen, die haben die lauteste Musik plus eine Nebelmaschine und rufen ihre jeweiligen Kampfparolen gegen das andere Gymnasium. So ist das bei uns im Sauerland.

0:04:14

Und nun stellen Sie sich vor, dass diese verschiedenen Gruppen nicht nacheinander an Ihnen vorbeiziehen, sondern alle auf einmal, zugleich, mit enormer Lautstärke. Dann befinden Sie sich in einem Reizgewitter, in das ich schon gerate, wenn ich meine Wohnung verlasse und zum Beispiel im Supermarkt einkaufe, in die Stadt gehe oder mit dem Zug fahre. Da braucht es gar keinen Schützenfestumzug.

0:04:39

So einem Reizgewitter über längere Zeit ausgesetzt zu sein, erzeugt Stress. Stress, der zu Erschöpfung und schneller Erschöpfbarkeit führt. Für eine gewisse Zeit kann der Stress kompensiert werden. Ganz verhindern lässt sich die Überforderung durch die grellen Reize jedoch meist nicht. Wenn ich keinen Ausweg aus der Reizüberflutung finde, verliere ich die Kontrolle und bin nicht mehr ansprechbar.

0:05:02

Die Besonderheiten in der sensorischen Wahrnehmung, die vor allem in Überempfindlichkeit bestehen, greifen tief in das Leben autistischer Menschen ein. Sie erleben die Welt anders, intensiver, lauter, schneller, flimmernd, grell, kurz als sehr chaotisch. Alles um uns herum flackert, rauscht, während nicht-autistische Menschen mit Reizfiltern davon nichts mitbekommen.

0:05:26

Unsere andere Wahrnehmung aber ist real, sie ist keine Anstellerei. Wir machen nicht mutwillig aus einer Mücke einen Elefanten. Ganz oft herrschen im autistischen Kopf einfach nur Chaos, Überforderung, Orientierungslosigkeit. Das hat sehr viel mit der anderen sensorischen Wahrnehmung zu tun, auch wenn es noch andere Aspekte gibt.

0:05:45

Autistische Menschen reagieren auf sensorische Reize nicht nur extrem empfindlich, sie können für diese umgekehrt auch unterempfindlich sein. Die Reizverarbeitung ist bei jedem autistischen Menschen anders, es gibt da kein festes Schema. Darüber hinaus können auch die einzelnen Reize ganz unterschiedlich wirken. Es ist nicht festgeschrieben, dass AutistInnen entweder über- oder unterempfindlich sind, es ist vielmehr ein Sowohl-als-auch.

0:06:14

So anstrengend eine Reizüberflutung ist, so schön kann es aber auch sein, die Umwelt ganz intensiv wahrnehmen zu können. Denn die schönen Reize, die, die angenehm sind, die mich warm durchfluten, die mich beglücken, die gibt es ja auch. Und die erlebe ich eben auch sehr intensiv. Das Leben sinnlich so intensiv spüren und fühlen zu dürfen, ist ein Geschenk. Meine Achtsamkeit ganz bewusst auch darauf zu lenken, Nicht nur auf die bedrohliche Reizüberflutung habe ich im Entspannungskurs gelernt, mich den Schönheiten öffnen zu können, sie nicht aus Angst vor dem Zuviel zu meiden. Dafür bin ich sehr dankbar.

0:06:52

Aus der in dieser Art verstandenen, sinnlichen Wahrnehmung können AutistInnen, kann ich, Glück empfinden, die von außen vielleicht ganz sonderbar, bizarr oder unmöglich erscheinen mag. So zum Beispiel, wenn ich bestimmte Oberflächen berühre, immer wieder über sie streichle, weil sie sich einfach schön anfühlen. Oder wenn ich mich an Details, Farben, Bildern nicht satt sehen kann. Gerade weil wir die Dinge anders wahrnehmen, können wir Schönheiten entdecken, die den, in Anführungszeichen, normal Wahrnehmenden oft verborgen bleiben.

0:07:26

Seh‘ ertönte Klänge, hör‘ sanfte Wonne, welch bunte Gesänge, fasst der Autist Jason seine Sinneswahrnehmung in poetischen Worten zusammen.

0:07:38

Was aber passiert, wenn es doch zu einer Überlastung durch die Reize kommt? Dann geraten wir in einen Overload, Shutdown oder Meltdown. Mit diesen Begriffen – Overload, also Überlastung, Überladung; Shutdown, Schließung, Stilllegung und Meltdown, Zusammenbruch, Durchbrennen – werden mentale Zustände beschrieben, in die AutistInnen geraten, wenn ihre Energie nicht mehr reicht, um Sinnesreize, soziale Anforderungen, unbekannte Situationen, Ängste oder intensives Wahrnehmen der Schwingungen anderer zu kompensieren. Mithilfe einer Metapher will ich versuchen, mein Erleben eines Overloads, eines Shutdowns und eines Meltdowns so zu beschreiben, dass Sie eine Ahnung davon bekommen, wie es sich anfühlt. Ich finde dafür das Bild einer Welle sehr passend.

0:08:31

Diese spezifische Welle entsteht durch sensorische Reize, soziale Situation, Unbekanntes und oder das intensive Fühlen der Schwingung anderer Menschen. Die Intensität meiner Wahrnehmung, die wiederum von meinem Energielevel abhängt, entscheidet über die Höhe der Welle. Wenn ich über viel Energie verfüge, dann kann ich die genannten Belastungen halbwegs aushalten, sodass nur kleine Wellen entstehen, die leicht über meine Füße schwappen. Und ich bin zudem in der Lage, über sie hinwegzuspringen. Ist mein Energielevel jedoch niedrig, werden die Wellen größer und sie schwappen über mich hinweg, sie schlagen über mir zusammen. So entsteht dann der Overload. Ich werde überflutet von den Reizen und der Situation.

Es kündigt sich ein Sturm an, in dem ich unterzugehen drohe. Ich versuche also, aus den Wellen herauszukommen, das rettende Ufer zu erreichen. Das heißt, ich muss mich den Reizen entziehen, die Situation verlassen, mich zurückziehen. Wenn ich den Strand erreicht habe, bin ich erschöpft, denn die Wellen haben eine große Kraft. Und es kostet sehr viel Anstrengung, nicht von ihnen mitgezogen zu werden. Ich benötige danach unter Umständen eine Stunde oder sogar Tage, um mich zu regenerieren.

Nicht immer aber gelingt es mir, die Macht der Wellen richtig einzuschätzen und das Meer rechtzeitig zu verlassen. Manchmal kommen sie auch so plötzlich, dass ich gar keine Chance mehr dazu habe oder aber ich bin schon zu weit ins Meer abgedriftet, als dass die Kraft noch reichte.

Je größer und mächtiger die Wellen werden, desto heftiger schlage ich um mich, strample, um nicht in ihnen unterzugehen. Wie eine Ertrinkende versuche ich, über Wasser zu bleiben. Ich verliere die Kontrolle und reagiere immer heftiger. Ich habe Angst, ich bin in Panik, ich kann nicht mehr klar denken, verliere gänzlich die Orientierung und den Überblick, ich habe Todesangst. Es ist ein Überlebenskampf. Die Wellen werden immer heftiger, ich kann ihnen nicht ausweichen, sie rollen auf mich zu, reißen mich mit. So fühlt sich für mich ein Meltdown an. Wenn die Wellen dann wieder abflachen, tritt ein extremer Erschöpfungszustand ein. Ich kann nur noch atmen, mehr nicht.

0:10:38

Glücklicherweise gerate ich selten in einen Meltdown. Auch zeigt er sich bei mir eher in einer lavierten Form. Das heißt, er spielt sich in meinem Inneren ab, solange ich mit anderen Menschen zusammen bin. Äußerlich versteinere ich, während ich innerlich tobe. Erst wenn ich allein bin, kommt es zum Ausbruch. Ich verletze mich selbst. Ich denke, das liegt auch an meiner Erziehung als Mädchen. Denn Mädchen und Frauen wird auffälliges Verhalten nicht gestattet. Sie haben Sicherheit, sozial anzupassen. Bei Jungen und Männern ist die Gesellschaft in der Hinsicht deutlich toleranter.

0:11:12

Im Shutdown kämpfe ich nicht mehr gegen die Wellen an, gegen das Ertrinken an. Mein Gehirn schaltet in den Not-Modus, mein System wird heruntergefahren. Ich kaure mich zusammen, kann nicht mehr handeln, spreche nicht mehr. Ich sinke sozusagen wie ein Stein auf den Meeresgrund und breche so den Kontakt zur Außenwelt ab. Wenn der Sturm vorüber ist, die Wellen abflachen, bin ich irgendwann wieder in der Lage aufzutauchen. Auch dieser Zustand ist ein sehr anstrengender.

0:11:45

Eine andere Art wahrzunehmen und zu denken, das ist wahrscheinlich ein Aspekt, der eher zu kurz kommt, wenn man über einen Autismus denkt und der auch gerade im Bereich Schule nicht gebührend beachtet wird.

Ich möchte Sie mitnehmen auf die Reise unseres autistischen Denkens. Temple Grandin, die berühmte Tierwissenschaftlerin und Autismus-Aktivistin, die entscheidend zu einem Veränderung Blick auf Autismus beitrug, bezeichnet sich selbst als Bilderdenkerin. Ich zitiere sie. Ich denke in Bildern. Worte sind für mich so etwas wie eine Zweitsprache. Ich übersetze sowohl gesprochene als auch geschriebene Worte in vertonte, farbige Kinofilme, die in meinem Kopf wie ein Video ablaufen. Wenn jemand mit mir spricht, werden seine Worte augenblicklich in Bilder umgewandelt. Sprachlich denkenden Menschen fällt es oft schwer, dieses Phänomen zu verstehen.

0:12:44

Übersetzen auch Sie Worte in Bilder und umgekehrt Bilder in Worte? Oder hören Sie davon an dieser Stelle zum ersten Mal? Ich hatte mir bis dahin noch nie Gedanken über meine Art des Denkens gemacht. Mein Denken war ja für mich völlig normal. Ich denke nicht so extrem in Bildern wie Grandin. In meinem Kopf läuft kein Kinofilm, sondern es entstehen einzelne Bilder mit unter auch Filmsequenzen. Grandin ist erst im Erwachsenenalter bewusst geworden, dass sie anders denkt als die meisten ihrer Mitmenschen.

0:13:15

Ausgangspunkt für diese Erkenntnis war ihre Frage in einer der Sitzungen bei der Arbeit, wie die anderen auf die in ihrem Gedächtnis gespeicherten Informationen zurückgriffen. Bei mir sind es Bilder, die ich aufrufe und öffne. Ich habe im Kopf zum Beispiel die Seite des Buches, auf der sich die gesuchte Information befindet. Ich weiß, wo sie steht, oben oder unten auf der Seite. Wenn ich Informationen bewusst speichern will, muss ich sie erst einmal für mich visualisieren, in Form von Mindmaps, Conceptmaps oder was auch immer, die ich dann eben als Bilder abspeichere. Das ist umständlich, dauert länger, aber es geht nur so. Wie kann man nun aber Abstraktes in Bildern speichern? Gegenstände, Objekte? Das ist einfach, weil es ja dazu Abbildungen gibt. Aber abstrakte Vorstellungen? Dies geschieht über Symbole. Das ist ein Grund, warum ich sehr viel fotografiere. Die Fotografien halten sozusagen meine Gedanken fest.

0:14:15

Grandin schildert eine weitere Besonderheit ihres Denkens: Ihre Gedanken seien stets assoziativ, sprüngen von einem Video in ein anderes und von dort wieder in ein anderes und so weiter. Ich zitiere sie noch einmal. Dieser Assoziationsvorgang ist ein gutes Beispiel dafür, wie mein Geist vom Thema abschweifen kann. Ich bin aber in der Lage, diese Gedanken zu unterbrechen und mich wieder der eigentlichen Aufgabe zuzuwenden. Wenn ich merke, dass meine Gedanken zu weit abschweifen, befehle ich mir einfach, wieder zu dem Problem zurückzukehren.

0:14:47

Das kommt mir nur allzu bekannt vor, nur leider gelingt es mir nicht so gut, wieder zum ursprünglichen Zurückzukehren. Und der letzte Abschnitt für den ersten Teil, ja, das mit den Menschen und so. Hilfe, Alarmstufe rot. Gerade im Kontakt mit anderen Menschen bestehen große Schwierigkeiten und da wirken autistische Menschen oft etwas unbeholfen. Nicht-autistische Menschen scheinen den Herausforderungen zwischenmenschlicher Begegnungen irgendwie intuitiv gewachsen zu sein.

0:15:24

Über welche Fähigkeiten bzw. Kompetenzen muss ich eigentlich verfügen, um soziale Interaktionen und Kommunikation erfolgreich gestalten zu können? Es handelt sich auf jeden Fall um eine sehr komplexe Angelegenheit, deren Mechanismen für diejenigen, die sie nicht beherrschen, nicht mal eben so zu verstehen oder gar zu erlernen sind. Um die Aussagen und das Verhalten einer Person richtig verstehen zu können, müssen wir uns in sie hineinversetzen können und uns vorstellen können, was sie denken oder fühlen mag und welches Verhalten sich daraus ableiten lassen kann.

0:16:00

Die Sprache allein reicht dafür nicht aus, sie ist nur klar und eindeutig, solange sie ohne Kontext und wortwörtlich verstanden werden kann. Das ist in zwischenmenschlichen Begegnungen so gut wie nie der Fall. Wir müssen, und zwar gleichzeitig, das ist die Herausforderung, auf viele Dinge achten, sie miteinander verbinden und ihre Essenz herausfiltern, nämlich wie etwas gesagt wird, also in welchem Tonfall, mit welcher Betonung. Wir müssen uns die Augen unseres Gegenübers anschauen, weil sie seine Gefühle verraten, angeblich. Wir müssen ihren Gesichtsausdruck insgesamt deuten, ob sie lächelt oder die Mundwinkel nach unten hängen lässt. Das ist die Herausforderung.

0:16:41

Außerdem ist die Körperhaltung der Person wichtig, weil diese uns darüber hinaus noch mehr verrät. Und das müssen wir eben auch noch mit in unsere Überlegungen einbeziehen. Und schließlich auch unser Vorwissen über die beteiligten Personen aktivieren und im Hinterkopf bereit behalten. Und schließlich die Situation und den Kontext, in dem etwas gesagt wird, betrachten, weil das Gesagte ja je nachdem etwas ganz anderes bedeuten kann. Und all diese Aspekte müssen wie ein Puzzle zusammengesetzt werden, damit ich meinen Gesprächspartner oder meine Gesprächspartnerin verstehen kann und das in Sekundenschnelle.

0:17:17

Mit einem rein organischen Hören und semantischen Auffassen der Worte ist das unmöglich, sodass die Botschaft mit sehr großer Wahrscheinlichkeit gar nicht bei mir ankommen wird und die Reaktionen darauf dann auch nicht passen werden. Den anderen mit seinem Verhalten und in seinen Aussagen zu verstehen, das setzt eben eine Sprachpragmatik voraus, die autistische Menschen anscheinend nicht ausreichend beherrschen. Wie schaffen das nicht-autistische Menschen? Tja, sie verfügen über ein Hilfsmittel, das autistischen Menschen fehlt, eine Art sozialer Autopilot, der sie unbemerkt im Hintergrund durch das soziale Dickicht navigiert.

0:17:58

Viele AutistInnen erstellen deshalb Drehbücher für soziale Situationen, die sie auf der Grundlage sehr genau beobachteter und analysierter Interaktion und Kommunikation anderer Menschen schreiben.

Damit versuchen sie, die Klippen der sozialen Interaktion und Kommunikation zu umschiffen, sodass ihnen äußerlich ihre Probleme nicht anzumerken sind, auch weil sie sich darüber hinaus oft sehr gut ausdrücken können. Die Drehbücher sind besonders hilfreich in sogenannten formellen Situationen, die meist nach dem gleichen Schema ablaufen, z.B. ein Verkaufsgespräch beim Brötchen holen vom Bäcker oder in beruflichen Kontexten. Die Rollen sind klar und die einstudierten Sätze passen in der Regel.

0:18:42

Deutlich schwieriger ist das in informellen Situationen, bei privaten Begegnungen, etwa in Kaffeepausen, beim zufälligen Begegnen auf der Straße. Hierfür gibt es keine Anleitung, wer wann was zu sagen hat. Oft sind mehrere Personen beteiligt und dadurch zu viele Informationen zu verarbeiten. Die Themen sind willkürlich und wechseln sprunghaft. Abgespeicherte Floskeln können helfen, auch ein Repertoire an Themen, z.B. sind beliebte Themen.

Das Wetter, wie der Weg zu der Veranstaltung war, oder wie es den Kindern geht, all das sollte gedanklich durchgespielt werden und im Ernstfall abrufbar sein. Damit kann man im Smalltalk halbwegs bestehen. Je komplexer die sowohl formellen als auch informellen Situationen jedoch werden, desto mehr kommen die Drehbücher an ihre Grenzen, desto weniger wird es autistischen Menschen gelingen, ihre Schwierigkeiten zu überspielen, beziehungsweise desto mehr Anstrengung kostet es sie.

0:19:44

Sie sehen also, dass das mit den anderen Menschen und so eine echte Challenge ist. Sie zu meistern, ist aber keine einseitige Herausforderung. Für das gegenseitige Verstehen, wie auch für das gegenseitige Nicht-Verstehen, sind alle Beteiligten verantwortlich. Den meisten nicht-autistischen Menschen fehlen, genauso wie den meisten autistischen Menschen, die Augen des anderen. Nicht-autistischen Menschen fällt es sehr schwer, autistische Menschen in sozialer Interaktion und Kommunikation zu verstehen. Sie haben ebenso Defizite. Nur fallen sie nicht auf, weil eben 98 bis 99 Prozent aller Menschen nicht-autistisch sind. Wenn also AutistInnen fehlendes Einfühlungsvermögen nachgesagt oder vorgeworfen wird, trifft dies umgekehrt genauso und in gleicher Weise auf nicht-autistische Menschen zu. Sie können sich nicht in autistische Menschen einfühlen, weil sie nicht wissen, wie diese ticken. Der soziale Autopilot nicht-autistischer Menschen ist zudem darauf angewiesen, nonverbale Zeichen zu erhalten.

0:20:45

AutistInnen senden diese aber höchstens spärlich, sodass es eben nichts zu dekodieren gibt. Tja, und jetzt? Was passiert? Jetzt werden Vermutungen angestellt, wird zwischen den Zeilen vergebens nach Hinweisen gesucht, die es gar nicht gibt und die deshalb der autistischen Person angedichtet werden. Es wird etwas in ihre Aussagen hineininterpretiert, es werden ihnen Absichten unterstellt, die sie gar nicht haben, statt einfach wörtlich zu nehmen, was sie tatsächlich gesagt haben.

0:21:14

Und es gibt noch weitere Risiken in der sozialen Beziehung zwischen nicht-autistischen und autistischen Menschen, die den sozialen Autopiloten in Alarmbereitschaft versetzen, zum Beispiel die berühmt-berüchtigte Ehrlichkeit autistischer Menschen. Diese führt oftmals dazu, dass ihre Kommunikation sehr direkt ist, was sich auch in ihrer Sprache widerspiegelt. Aussagen, die inhaltlich genauso gemeint sind, werden ohne abmildernde Phrasen getätigt und auch nicht in umschreibende nette Worte verpackt, sodass sie den Gesprächspartner verletzen können. Wer möchte schließlich schon gerne hören, dass die neue Frisur scheußlich ist und das aufgelegte Parfüm stinkt?

Soziale Notlügen werden in diesen Fällen gar nicht erst in Betracht gezogen. Warum ist denn jetzt der andere sauer? Ich habe doch nur die Wahrheit gesagt. Ich habe mich doch gefragt, wie ich die neue Frisur finde.

0:22:04

Die Journalistin Johanna Adorjan beschreibt in einem Buch, wie Ehrlichkeit ankommen kann. Ich zitiere sie. Ich frage mich immer, was es mit dieser Sitte auf sich hat, einfach alles, was man denkt, ungefiltert weiterzugeben. Ist das Stummfalt? Oder wird es von Ihnen selbst als unheimlich aufrichtig empfunden? Glauben Sie, man werde Ihnen für Ihre Ehrlichkeit dankbar sein? Oder soll es sein, wonach es klingt, eine hübsche kleine Beleidigung? Passiv-aggressiv als Anteilnahme getarnt?

0:22:37

Und was soll man eigentlich darauf antworten? Wäre es nicht viel netter, etwas Nettes zu sagen? Irgendetwas wird einem doch schon einfallen, wenn man nur danach sucht. Und wenn nicht, wie schlimm wäre Schweigen? Zitat Ende. Ja, so, und woher weiß ich nun, wann es angebracht ist, nicht ehrlich zu sein, sondern etwas Nettes zu sagen oder zu schweigen? Tja, das hängt von der Situation ab, vom Kontext. Ja, schon klar. Den erfasse ich ja leider selten. Okay, das war der erste Teil.

Applaus

Outro

Sprecher:

Das war Spektrakulär. Der Podcast aus dem Martinsclub Bremen.

Musikende mit Akzent

Sprecher:

Gefördert durch die Heidehof-Stiftung, die Waldemar-Koch-Stiftung und die Aktion Mensch.

Sprecherin:

Produziert in Zusammenarbeit mit Selbstverständlich, der Agentur für barrierefreie Kommunikation.

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