„Ich dachte, vielleicht nimmt man mich als Ergotherapeutin nicht mehr ernst“
Mit Mareke Tews, Ergotherapeutin, Autistin mit ADHS
Erscheinungstermin: 19.11.2024, Autorin: Mirjam Rosentreter
Vorweg ein paar Hinweise:
In unserem Podcast reden wir über Dinge, die vielleicht bei euch etwas anstoßen.
Bitte beachtet:
1.) Unsere Gespräche geben persönliche Erfahrungen wieder und erfüllen keinen wissenschaftlichen Anspruch. Das Hören oder Lesen unseres Podcasts ersetzt keinen Besuch in einer Praxis oder Beratungsstelle. Fühlt euch ermutigt, offen auf Menschen in eurem Umfeld zuzugehen. Oder sprecht Fachleute in eurer Nähe an.
2.) Fragen und Rückmeldungen könnt ihr über hallo@spektrakulaer.de an uns richten. Oder ihr kontaktiert uns auf unserem Instagram-Kanal @spektrakulaer_podcast. Gerne versuchen wir auf Themen einzugehen, die Euch interessieren. Persönliche Fragen zu Diagnostik oder Therapie können wir leider nicht beantworten.
3.) Im folgenden Abschnitt haben wir für euch unsere Sprachaufnahme transkribiert, also verschriftlicht. Als Text aufgeschrieben ist gesprochene Sprache nicht immer ganz korrekt und eindeutig verständlich. Das Manuskript entspricht auch nicht einem journalistisch überarbeiteten Interview.
4.) Dieser Podcast ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Wenn ihr uns oder unsere Gäste irgendwo zitieren wollt, bleibt fair: Achtet auf den Gesamtzusammenhang und denkt bitte immer an die Quellenangabe.
Im Zweifel gilt die schöne alte Regel: Lieber einmal mehr nachfragen.
Vielen Dank für eure Neugier und euer Verständnis!
Mirjam & Marco
…
Transkript:
Intro
Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)
Sprecher: Spektrakulär – Eltern erkunden Autismus.
Mirjam Rosentreter: (Moderatorin/Host): Hallo. Mein Name ist Mirjam Rosentreter. Ich bin Journalistin, Mutter eines Sohnes im Autismus Spektrum, und ich mach das hier nicht alleine: Bei mir ist Marco Tiede.
Marco Tiede: (Co-Moderator/Co-Host): Ja, Moin! Ich bin auch Vater eines Jungen im Spektrum, und ich arbeite Therapeut und auch als Berater.
Mirjam: Es gibt zu dieser Langversion unseres Podcasts auch eine kurze, den Kurzpod. Ein Manuskript zu dieser Folge findet ihr auf unserer Seite spektrakulaer.de.
Intro-Ende: Musik + Geräuscheffekt (Klapper)
Sprecherin: Heute mit Mareke Tews, Ergotherapeutin, Mutter eines Kindes im Spektrum, Autistin mit ADHS.
0:00:48.000
Mirjam: Herzlich willkommen, liebe Mareke! Hallo Marco, hallo liebe Rosa, die hier Aufnahmen macht – man muss ja auch mal das Team miterwähnen, ganz leises Stimmchen aus dem Hintergrund – und hallo liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! An dieser Stelle wollte ich endlich mal sagen: Danke für eure lieben Zuschriften, für die interessanten Zuschriften, manchmal sehr berührend. Wir freuen uns immer, wenn ihr an hallo@spektrakulaer Mails schickt.
Und warum ich das gerade heute einmal sagen wollte, liegt daran, dass wir einen besonderen Gast heute haben. Denn Mareke war eine unserer ersten Rückmeldungen, also von ihr kam eine Mail, wir kannten uns vorher nicht, als wir erst gerade am Start waren. Wir haben ja am 19. Dezember unsere erste Folge rausgebracht, und am 8. Januar kam von dir eine Mail, ich habe nochmal geguckt. Und da hast du damals geschrieben: „Liebe Mirjam, lieber Marco, ich möchte euch zu dem sehr gelungenen Auftakt eures Podcasts gratulieren. Es war mir eine große Freude zuzuhören, es wirkte alles sehr klar und ruhig, sehr angenehm.“ Warum hast du dich getraut, heute herzukommen?
Mareke: Erstmal vielen Dank für die Einladung und ein liebes Hallo. Warum habe ich mich getraut? Das ist eine gute Frage. Es war wirklich ein Trauen, ja, genau. Denn ich nehme ja verschiedene Rollen ein. Und zum einen ist da ja die Rolle als Ergotherapeutin. Dann bin ich Mutter eines Kindes im Spektrum. Dann bin ich selber eben Autistin und mit ADHS tatsächlich auch. Und ja Fortbildungsreferentin und leite Kinder- und Jugendgruppen für Kinder, Jugendliche im Spektrum. Das heißt, ich mache ja schon eine ganze Menge. Und da habe ich mir damals – du hattest mich damals schon darauf angesprochen ob ich nicht Gast in der Sendung sein möchte – und da hatte ich dann erstmal ein bisschen Bauchschmerzen damit. Weil ich nicht wusste, ob ich mich traue, eben auch die Autistin zu sein damals. Weil ich zum einen ja eben so diese professionelle Rolle der Ergotherapeutin auch vertrete, die mir auch sehr wichtig ist, und die auch sehr viel Raum in meinem Leben einnimmt. Und dann ist da die Rolle der Autistin. Und damals, das ist ja jetzt, wie lange ist es her? So lange ist es ja eigentlich noch gar nicht her.
Marco: Heute ist November, zehn Monate.
Mareke: Ja, 10 Monate.
Marco: Seitdem du uns geschrieben hast, ne?
0:03:14
Mareke: Genau, und da zeigt sich auch, was man selber auch als Mensch, als Autist für eine Entwicklung durchmacht. Also damals habe ich Bedenken gehabt, dass wenn ich eben vielleicht auch mal etwas erzähle aus meinem Leben als Autistin, wo ich ja auch Einschränkungen habe, wo ich mich auch ja manchmal mit bestimmten Dingen vielleicht auch nicht gut und unzulänglich fühle, auch meine Schwächen eben habe als Autistin in dieser Gesellschaft. Und da hatte ich damals Bedenken: Mensch, dann vielleicht nimmt man mich als Ergotherapeutin nicht mehr ernst. Und das würde ich heute, heute habe ich die Angst nicht mehr und deswegen bin ich heute hier.
Mirjam: Wie kommt das?
Mareke: Also genau dieses damals, diese Anfrage von dir, die hat das so bei mir nochmal ins Rollen gebracht, diesen Stein. Dass ich mir dachte: Mensch, aber das kann ja nicht sein! Denn als Ergotherapeutin vertrete ich ja ganz klar auch den Ansatz der Akzeptanz, der bedingungslosen Akzeptanz.
Also ich kläre ja ganz viel Eltern auf. Und es geht ganz viel um Wissen, sich anzueignen über das Spektrum. Und mit diesem Wissen kann ich eben ganz viel akzeptieren. Dass eben dieses andere Denken, das andere Fühlen, das andere Verhalten, alles, das kann ich ja viel besser sehen und akzeptieren und mehr Verständnis dafür haben und dann dadurch ja eben auch einen besseren Umgang und Unterstützung zuteil werden lassen.
Mirjam: Dadurch, dass du dich einfühlen kannst in die Situation deiner jungen Patientinnen und Patienten?
Marke: Genau. Und eben die Eltern dann eben auch. Also das ist ja ganz oft ein Prozess, den ich auch dann mit meinen Klienten, mit den Eltern durchlaufe, dass wir ganz oft das Autismus-Spektrum entdecken. Also da kommen oft Familien und Kinder zu mir, die Schwierigkeiten erst mal ganz grob im sozial-emotionalen Bereich haben.
Wo wir dann oft – nicht immer, aber oft – zusammen herausfinden: Mensch, das könnte in Richtung Autismus-Spektrum gehen. Und das macht ja ganz viel mit den Familien und mit dem Prozess. Und das ist diese, um darauf zurückzukommen, diese bedingungslose Akzeptanz, die ich immer vertrete, auch den Eltern gegenüber. Es gibt ein anderes Fühlen, ein anderes Wahrnehmen, ein anderes Denken und vielleicht eben auch andere Verhaltensweisen, die uns oft in der Gesellschaft oder auch als Eltern irritieren.
00:05:30.000
Die wir aber, die eben mit dem Autismus-Spektrum einhergehen, die wir akzeptieren müssen. Und diese bedingungslose Akzeptanz, die ich als Ergotherapeutin so voll und ganz vertrete. Was auch die Kinder fühlen. Also die fühlen sich immer sehr wohl bei mir, die kommen zu mir und die sind einfach bedingungslos angenommen, egal wie und wo und was. Und das beißt sich natürlich so ein bisschen mit dem Gedanken: Mensch, jetzt bin ich da in der Rolle als Ergotherapeutin, aber auch Autistin und habe vielleicht auch meine Schwierigkeiten hier und da.
Und… und kann das für mich nicht richtig annehmen? Und das beißt sich ja schon. Und ich kann ja trotzdem eben eine kompetente Ergotherapeutin sein und meinen Klienten, Familien und Kindern helfen und unterstützen. Auf der anderen Seite kann ich aber eben auch Autistin sein und mit gewissen Dingen Schwierigkeiten haben.
00:06:23.000
Mirjam: Wir versuchen heute mal deine verschiedenen Rollen, Haltungen, die du da einnimmst, so Schritt für Schritt nochmal in so kleinen Blöcken abzugehen. Weil das so interessant ist, jemanden mit so vielen Perspektiven auf einmal hier zu Gast zu haben. Du hast schon in deiner allerersten Mail gesagt, wenn ich mich mal traue zu kommen, dann würde ich gerne darüber sprechen, warum eine Diagnose unheimlich wichtig ist, also eine frühzeitige Diagnose. Du hast gesagt, mit Blick auf dein eigenes Kind, wo ihr die Diagnose bekommen habt, als es fünf Jahre alt war, auf deine eigene Diagnose, die du dann bekommen hast, kurz danach, meintest du, also da warst du 36.Ich würde aber noch einmal kurz nochmal nachfragen: Also, du hast auch durch das Hören von anderen Stimmen in unserem Podcast von Autistinnen und Autisten diesen Mut gefasst?
Mareke: Das auch, ja. Weil ich einfach gesehen habe oder auch gehört habe, dass das eben durchaus, so diese Akzeptanz, die ich ja nach außen vertrete, dass ich die eben auch bei mir so annehmen kann. Das ist wirklich ein Prozess und da bin ich als Therapeutin schon viel weiter. Ich als Privatperson habe da eben manchmal noch Schwierigkeiten. liegt aber auch daran, dass ich ja eben, wie du sagst, ich habe es erst mit 36 erfahren, dass ich so viele Jahre lang das ja gar nicht wusste.
00:07:46.000
Und wenn man das nicht weiß, also dieses, auch was Sie ja andere schon beschrieben haben: Dieses sich immer anders fühlen und so ein bisschen wie auf einem anderen Planeten sich fühlen. Oft vielleicht hier und da auch mal anzuecken. Oder Irritationen mit Mitmenschen, eine andere Wahrnehmung, nicht ernst genommen werden mit seiner Wahrnehmung oder seinen Gefühlen, seinen Empfindungen. Das habe ich ja 36 Jahre lang erlebt und habe mich immer anders gefühlt. Und das ist, jetzt habe ich tatsächlich ein bisschen den Faden verloren, das passiert öfter mal. Also ich habe ein neurodiverses Gehirn, das ist auch das ADS. Ich verliere öfter mal den Faden, helfe mir dann gerne wieder zurück.
00:08:27.000
Marco: Du bist da in guter Gesellschaft. Also das passiert mir schon auch, dass ich den Faden verliere. Was mir vielleicht noch dazu einfiel, als du sagtest, ob du dann eigentlich noch, ich glaube du hast gesagt, ernst genommen wirst als Ergotherapeutin, wenn du dich als Autistin preisgibst oder offenbarst. Und ich glaube ja eher, dass ja das Gegenteil passiert. Wie du ja auch schon angedeutet hast, beißt es sich ja dann, wenn du einerseits diese bedingungslose Akzeptanz dort vermittelst und bei dir dann das noch nicht ganz ausgeprägt zu sein schien zu dem Zeitpunkt.
Mareke: Ja.
Marco: Und jetzt ist es ja dann ein weiteres Qualitätsmerkmal deiner Arbeit.
Mirjam: Das stimmt.
Marco: Dass du ja auch dich selbst, ich würde dann sagen, radikal annimmst, ne? Also in deinem Innersten. Und ich weiß auch, dass es vielen Menschen im Spektrum gut damit ginge, wenn sie wüssten, es gäbe mehr TherapeutInnen, die im Spektrum sind, weil sie dann wissen, ich muss nicht so viel erklären.
Also das müssen sie zum Glück auch nicht mehr so viel, wenn sie zu nicht-autistischen Therapeuten kommen. Also auch bei uns im Autismuszentrum, wo ich arbeite, höre ich immer mal wieder Bemerkungen von Klienten, die zu uns kommen, dass sie so erleichtert sind, nicht mal alles nochmal erklären zu müssen, sondern einfach loszulegen und zu sagen, was ist und sich dann dabei auch angenommen zu fühlen und akzeptiert zu fühlen.
Mareke: Ja, das ist richtig. Das erlebe ich auch so. Also das ist, finde ich, eben auch dann einer meiner großen Stärken. Eben doch eben das Autismus-Spektrum. Denn ich habe sehr viele Klienten in dem Bereich bei mir in der Praxis. Und es sagte mir jetzt erst vor zwei Tagen noch eine Mutter, die im Erstgespräch da war, zu mir: Mensch, das ist irgendwie so toll, da direkt verstanden zu werden in den Sorgen und Nöten, die sie gerade mit ihrem Kind hat. Und sich nicht erst aus irgendwelchen Schubladen rauskämpfen muss und sich erklären muss. Und das ist natürlich ein Vorteil. Und da bin ich dann auch sehr empathisch. Weil ich eben, und das ist auch wieder der Vorteil, ich habe viel mitgemacht, auch als Autistin und als Mensch, auch in meiner Kindheit und Jugend tatsächlich. Und es gibt nicht so viel, was mir die Familien – Eltern und Kinder – erzählen können, was ich nicht selber schon erlebt habe, muss ich ganz ehrlich sagen und das ist natürlich etwas, wo ich dann, ja, wo ich sie dann auch abholen kann, wo ich sie gut verstehen kann und das ist ein ganz, ganz großer Vorteil. Ich bin in einem Netzwerk, das ist ganz spannend, da kam es neulich auch zur Sprache. Das ist ein E-Mail-Verteiler zum Autismus und ADHS von, ich glaube, ich bin die einzige Ergotherapeutin. Da sind Psychiater und Psychologen, Psychotherapeuten in diesem Netzwerk. Und da kam eine Psychologin in der Gruppe auf uns zu und sagte: Mensch, ich habe hier eine Auszubildende, die jetzt gerade eben eine Ausbildung macht oder ein Studium macht zur, ich glaube, psychologischen Psychotherapeutin, die für sich selber jetzt entdeckt hat, dass sie im Autismus-Spektrum ist. Und die dann eben die Bedenken geäußert hat und wohl erstmal ganz verzweifelt war, dass sie jetzt keine Therapeutin mehr sein kann und nicht werden kann.
Marco: Das finde ich tragisch. Ich glaube, das braucht es dann auch im Sinne der bedingungslosen oder auch radikalen Akzeptanz, für sich in Anspruch zu nehmen: Mein Sein als Autistin ist ein weiteres Qualitätsmerkmal. Also klar, das stellt nicht in Abrede, dass wir auch die einen oder anderen Schwächen haben. Aber ich habe ja als Autistin dann nochmal einen ganz besonderen Blick, den andere dann nicht haben. Und das kann sich ja gut ergänzen.
00:12:34.000
Mareke: Genau, ja. Und dazu habe ich dann auch ermutigt und habe ihr dann auch eine E-Mail geschrieben und sie hat auch viele andere Rückmeldungen bekommen. Und ich finde das auch, man kann ja eben diese Stärken, die man hat im Autismus-Spektrum, und das ist ja alleine schon, dass man versteht, was das Spektrum ist. Was ja in unserer Gesellschaft, oft auch bei diagnostizierenden Personen, da verzweifle ich ja regelmäßig.
00:13:00.000
Viele sind sich ja gar nicht bewusst, wie breit das Spektrum überhaupt ist. Wie ein Autismus-Spektrum aussieht, wenn es vielleicht eher am Rande ist oder wenn es gut maskiert ist. Und wie oft wird das Autismus-Spektrum übersehen? Und das ist natürlich auch der Vorteil, den es mit sich bringt, selbst im Spektrum zu sein. Denn wir sehen einen Autismus, wenn er vor uns steht (lacht). Nicht direkt immer und klar, aber wir sind da schon mal in der Lage, das zu sehen. Und alleine das, also zu sehen und zu erkennen und Familien in die Diagnostik zu begleiten oder vielleicht diese psychologische Psychotherapeutin selber auch Diagnostik anzubieten, alleine das ist ja schon ein großes Geschenk. Und das, muss ich sagen, empfinde ich auch als ein wahnsinnig großes Geschenk, was ich habe. Auch was eben das Autismus-Spektrum mir gibt, dass ich jetzt diese vielen Kinder und Familien, ich arbeite auch mit Erwachsenen, hauptsächlich aber im Kinder- und Jugendbereich, dass ich eben das erkennen kann. Und dass wir dann zusammen uns auf die Reise begeben mit den Familien und überhaupt erst mal das Autismus-Spektrum als Idee in Betracht ziehen.
Und das Sehen und dass dieser Verdacht aufkommt. Und das ist für mich ein ganz, ganz großes Geschenk, dass ich da eben in der Lage bin, die Familien so zu begleiten. Und weil ich eben auch weiß, das macht ganz viel. Und wenn ich diese Gespräche habe, also ich habe oft im Erstgespräch, merke ich schon, aha, okay, ich muss mal in diese Richtung schauen. Manchmal wird mir im Erstgespräch ja schon ganz klassisch ein Kind im Autismus-Spektrum beschrieben. Da ist es mir manchmal, ist es mir schon relativ schnell klar. Aber natürlich, man muss da vorsichtig sein. Ich will auch nicht zu schnell irgendwo in irgendeine Schublade das dann stecken und zu schnell urteilen.
Und dann sehe ich die Kinder. Manchmal führe ich dann noch Lehrergespräche oder gehe in die Kitas tatsächlich. Also Kindergartenkinder schaue ich mir auch ganz oft in der Kita selber an. Wie erleben sie ihre Welt? Wie nehmen sie wahr? Wie ist so die Reizfilterung? Also man kann ganz viel, auch in der sozialen Interaktion natürlich, aber alleine nur, wie sie die Welt so erleben und aufnehmen. Man kann da ganz viel beobachten. Und dann gehen wir weiter. Und dann kommt irgendwann, das dauert oft gar nicht so lange, kommt dann das Gespräch mit den Eltern, indem ich diesen Verdacht äußere. Und ich bin mir da bewusst, dass ich natürlich mache das immer vorsichtig und schaue. Ich selber freue mich auf diese Gespräche. Ja, die Eltern natürlich erst mal nicht.
Die Eltern reagieren ganz unterschiedlich. Einige sind sehr betroffen und andere haben insgeheim schon immer so ein bisschen gedacht, ja Mensch, irgendwie so eine große Überraschung ist das nicht. Und ich weiß, dass ich da ganz vorsichtig sein muss. Aber ich weiß ja auch, was dieses Wissen darum, und da kommen wir wieder zu dem Punkt, warum Diagnostik so wichtig ist, was du gerade angesprochen hast.
Was dieses Wissen darum einfach ausmacht. Und was das für eine, und es ist einfach dann eine ganz, ganz wunderbare Reise, auf die ich die Eltern oder die Familien dann schicken kann. Und deswegen freue ich mich immer sehr auf die Stunden, auch wenn die Eltern das wahrscheinlich dann in dem Moment erst mal nicht bestätigen würden. Aber es ist einfach ein ganz großes Geschenk, wenn man weiß, dass man im Spektrum ist.
00:16:29.000
Marco: Zumal es ja dann auch erst überhaupt bestimmte Hilfen ermöglicht, wenn dann die Diagnostik vorliegt. Und da setzt dann auch wieder das Dilemma an, was du ja auch schon angedeutet hast. Dass es unter den Diagnostikern da noch relativ spärlich verstreutes Wissen über das Autismusspektrum gibt und eben über diese Weite dieses Spektrums, weil wir immer noch mit Mutmaßungen konfrontiert werden als Eltern, dass wir vielleicht unser Kind nicht richtig erziehen oder sonst was. Also, dass es irgendwie eine Bindungsstörung innerhalb der Familie ist. Da sind wir dann nicht mehr ganz weit weg von der vermeintlichen Kühlschrankmutter oder Kühlschrankvater.
Mirjam: Uns hat eine Zuschrift auch erreicht von einer Mutter – jetzt vor ein paar Tagen – bei deren siebenjähriger Tochter die Diagnose Autismus so im Raum steht. Und die hat uns geschrieben: Was, wenn das die falsche Diagnose ist? Also das ist einmal so, dass Eltern manchmal auch die Angst mitbringen, sie würden ihr Kind gerade dadurch in eine Schublade packen, wo es nicht wieder rauskommt. Wie gehst du damit um? Und dann gibt es noch einen anderen Aspekt, aber ich will nicht zwei Fragen auf einmal stellen (lacht).
Mareke: Das wäre schwierig (lacht) Mit der Angst, das Kind frühzeitig oder in eine Schublade zu stecken. Ja, das erkläre ich den Eltern auch. Das ist eigentlich in jedem Elterngespräch dann ein Thema, ganz oft. Also erstmal ist ja eine Diagnose auch nie wirklich so eine Wahrheit. Eine Diagnose, ist für mich immer so ein hinreichend abgesicherter Verdacht.
Und ich glaube, dass… ja, was ich mit den Eltern oft mache, ist, dass ich denen erst mal das Autismus-Spektrum selber erkläre. Das heißt, wir machen so eine Stunde zur Psycho-Edukation, also Aufklärung über das Bild. Und ich sage bewusst nicht Störungsbild. Und dann schauen wir uns das einmal zusammen an. Und dann habe ich, da habe ich dann so eine Präsentation. Und da ist dann erst mal ganz viel Theorie drin. Also auch eben diese „Symptomatik“, viel besser, wie Stefanie Meer-Walther sagt: „Kennzeichen des autistischen Seins“. Klingt auch besser als „Symptome“. Und die schauen wir uns dann an. Und dann erzähle ich auch eben praktische Beispiele von den Kindern oder auch aus meinem Leben tatsächlich, dass man einmal das Autismus-Spektrum ein bisschen greifbarer macht.
00:19:03.000
Und das finde ich erst mal ganz wichtig, dass die Eltern sich auch selbst damit auseinandersetzen und vielleicht so ein Gefühl dafür bekommen: Mensch, das passt oder passt nicht. Und wenn ich dann auf einen Diagnostiker treffe, der die Bandbreite des Spektrums nicht überblickt, der vielleicht sagt – und das ist tatsächlich das, was mir Eltern zurückmelden, also die kommen wieder und die kommen zu mir und die sagen: Nee, nee. Also dort wurde uns gesagt: „Ihr Kind schaut mir doch in die Augen!“ Oder: „Ihr Kind kommt doch ganz offen hier rein, der kann doch kein Autist sein! Ihr Kind redet ja ganz normal mit mir, der kann kein Autist sein! Wir testen erst gar nicht.“
Das sind ja Dinge, die ich von Eltern höre. Jetzt. Heutzutage. Von den Diagnostikern. Und ich finde das so gruselig! Und dann frage ich mich auch, wie kommen wir da hin? Wie können wir – und das sehe ich so ein bisschen auch als meine Aufgabe, aber ich finde das so schwierig, weil ich, ich sage mal in Anführungsstrichen, ja „nur“ Ergotherapeutin bin. Wie schaffe ich es – und das wäre mir so ein großes Anliegen – vielleicht auch das diagnostizierende Fachpersonal, Ärzte, Kinder- und Jugendpsychiater aufzuklären? Das müssen sie auch annehmen. Und wenn ich eben ein Bild habe und denke, was Autismus, was das Autismus-Spektrum ist, und mich in diesem Bild erst mal so ganz wohl fühle und jahrelang eben dieses Bild vom Spektrum habe, und jetzt kommt da die Ergotherapeutin Frau Tews (lacht) und möchte mir erzählen, was das Spektrum ist. Da fühle ich mich tatsächlich so ein bisschen verloren und arbeite da im Moment gerade noch an Ideen,
00:20:36.000
wie ich eben auch dieses Bild, diesen Spektrumsbegriff und das erweitern kann oder welche Rolle ich einfach dazu beitragen kann. Weil mir das so ein großes Anliegen ist. Und um auf deine Frage zurückzukommen, diese Angst, in eine Schublade gesteckt zu werden, die sehe ich eher als gering. Es gibt da ja Studien und es wird ja auch gesagt, es gibt eben da auch falsche Positivdiagnosen. Ich glaube aber, dass das Risiko relativ gering ist. Umgekehrt, wir haben einfach viel zu viele undiagnostizierte Personen.
Mirjam: Ich wollte jetzt noch einmal diesen anderen Aspekt, den ich gesagt hatte, mit der Diagnose, warum das manche dann kritisch sehen. Das sind dann eher die z.B. Entwicklungspsychologinnen und Psychologen, die dann sagen: Moment, da kann sich ja noch so viel entwickeln! Und man muss aufpassen, wenn man eine Diagnose hat, dass man dann nicht starr an diesem Muster festhält und alles damit erklärt. Sondern dass sie das nutzen, die Diagnose als Anschub, um Entwicklung dann doch auch voranzubringen.
00:21:45.000
Mareke: Ja, es gibt sicherlich so grundsätzlich da auch ein Für und Wider, auch ein Für und Wider Diagnose, ja, das stimmt. Was ich nicht glaube, ist, dass sich jemand auf einer Diagnose – das ist auch die Angst von Eltern auch, auch beim ADHS ja – dass sich jemand auf der Diagnose ausruht und sagt: Nee, ich bin ein Autist, das mache ich nicht! Es ist ja so, dass wir in unserer Gesellschaft und auch alleine ja schon durch das Schulsystem schon sehr in eine Norm gepresst werden und viel mehr machen müssen, als unsere Komfortzone als Mensch im Spektrum eigentlich zulässt. Und wir müssen ja ganz oft sowieso schon aus unserer Komfortzone raus, müssen uns Dinge zumuten oder zutrauen, die für uns vielleicht schwierig sind.
00:22:31.000
Das ist, ich bin mit den öffentlichen Verkehrsmitteln heute hier.
Marco: Was ja an sich schon eine Herausforderung ist!
Mareke: Das ist für mich, ja, genau, wahrscheinlich für alle. Und jetzt ist es, glaube ich, schon auch wichtig, dass wir unseren Kindern dann nicht beibringen: Okay, ich bin Autist und mache das dann nicht.
Das ist ein Drahtseilakt. Das heißt, auf der einen Seite finde ich es wichtig, dass man eben weiß, dass man im Spektrum ist und dass einem einige Dinge schwerfallen und dass man vielleicht auch zu einigen Nein sagen darf, dass man sagen darf: Das ist jetzt so eine Herausforderung für mich, ich mache das jetzt nicht! Und dass das auch sein darf und dass das auch okay ist, das finde ich sehr wichtig. Auf der anderen Seite natürlich auch, dass man auch Herausforderungen trotzdem lernt anzunehmen. Und das ist jetzt auch gerade, das trifft mich in meiner Rolle als Mutter auch. Das ist auch ein Drahtseilakt, auf dem wir uns jetzt gerade als Familie befinden.
00:23:32.000
Wo kann ich jetzt einfach mal das nicht machen, wo kann ich mich schonen, wo kann ich Kräfte sammeln, wo muss ich jetzt durch? Und ich glaube nicht, dass also wirkliche Gefahr ist, dass sich jemand auf einer Diagnose ausruht. Im Vergleich dazu, was uns diese Diagnose oder eine Diagnostik – vielleicht nicht unbedingt eine Diagnose, vielleicht auch einfach nur das Wissen: Aha, mein Kind ist im Spektrum! Wir machen jetzt gar keine Diagnostik, aber wir erkennen es als solches an. Und das bringt so viele Chancen und Unterstützungsmöglichkeiten mit sich.
00:24:04.000
Wenn ich das dann abwiege – Für und Wider einer Diagnose – dann bin ich ganz klar immer für die Diagnose. Aber es können natürlich auch noch andere Sachen gegen eine Diagnose sprechen. Dass man, ich glaube eine Berufsunfähigkeitsversicherung oder ähnliches, dann wird es schwer damit. Also das muss man sich natürlich gut überlegen. Ich finde es aber auch toll, wenn Familien sagen: Nö, wir brauchen die Diagnose nicht. Da habe ich auch eine Familie, dort wird es wirklich so angenommen, wie es ist. Und die sagen: Wir brauchen keine Diagnose. Wir wissen das um das Spektrum, wir können uns dementsprechend verhalten und das Kind unterstützen, die Schule zieht da mit und deswegen brauchen wir aktuell keine Diagnose.
Mirjam: Wie war das denn für dich, als vor sechs Jahren bei deinem Kind die Diagnose gestellt wurde? Was hat sich dadurch für dich verändert?
Mareke: Das ist eine gute Frage. Das hat natürlich auch ganz viel, also das hat einen Riesenprozess in Gang gesetzt. Bei uns und bei uns als Familie, aber auch bei meinem Sohn tatsächlich. Er war damals fünf Jahre. Und wir haben es, am Anfang haben wir ihm das erst mal nicht erzählt. Und dann war er, glaube ich, ja, war er noch fünf oder sechs Jahre. Da haben wir uns damals,
00:25:25.000
ich bin mir nicht sicher, ob das sogar eine Reportage über den Jason war, der auch schon bei euch zu Gast war. Und da haben wir uns am Abendbrottisch darüber unterhalten, über diese Dokumentation. Und da hat er sich selber wiedererkannt und hat gefragt: „Mama, bin ich Autist?“ Mir ist das Herz in dem Moment in die Hose gerutscht, weil er sehr, sehr…
Mirjam: Mit fünf?
Mareke: Ja genau, so fünf, sechs Jahre war er da. Hat sich selbst wiedererkannt. Und dann ist mir das Herz in die Hose gerutscht und hab ihm gesagt: „Ja, das bist du.“ Das war für ihn sofort fein. Das ist auch immer die Angst, die die Eltern haben. Aber für ihn war das total in Ordnung. Den Jungen in dem Film, den fand er ja ganz toll und ganz cool und dann war er fein damit. Und das Erste, was er sagte: „Ach Mama, deswegen laufe ich immer mit zugehaltenen Ohren vor der Klospülung weg!“ Und hatte so für sich eine Erklärung. Und hatte so auf einmal so eine sofort, also postwendend so eine Akzeptanz so für sich. Und das fand ich ganz, ganz beeindruckend. Und das hat es eben auch mit uns gemacht.
Also ganz viele Dinge, die wir uns erklären konnten. Und alleine nur diese Akzeptanz! Also das sage ich heute ganz oft, aber das finde ich so wichtig, wenn auch basal, aber eigentlich das allerallerwichtigste. Und das hat es mit uns gemacht. Und dann natürlich, mein Sohn ist eine ganz gute Kopie von mir, muss man sagen. Natürlich war mir dann auch sehr schnell klar, dass ich selbst im Spektrum bin. Und das ist natürlich auch nochmal etwas Spannendes, sich selbst dann als Erwachsenen sein Leben nochmal rückwärts zu erklären. Als Mensch im Spektrum. Und das ist natürlich etwas, was einen Prozess in Gang setzt, den ich so gar nicht jetzt irgendwie in Worte fassen kann, weil das ganz, ganz viel mit einem macht, ja.
Mirjam: Vielleicht können wir da mal so ein bisschen eintauchen, wie das bei dir war als Kind. Also wenn du dich jetzt, wenn du sagst, das ist eine Kopie von mir, wie warst du als Fünfjährige?
Mareke: Also als Fünfjährige war ich, war ich glaube ich erst mal ganz ruhig und schüchtern. Dann später kam das mit der Auflehnung, ja (lacht). Aber da war ich erst mal ganz ruhig und schüchtern. Ich muss aber auch dazu sagen, dass ich mich an meine Kindheit sehr schlecht erinnere. Ob das jetzt ads-bedingt ist oder ob das vielleicht auch trauma-bedingt ist, kann ich gar nicht sagen. Aber ich erinnere tatsächlich sehr, sehr wenig aus meiner Kindheit. Aber so grundsätzlich ist es schon so gewesen, dass ich eben, jetzt rückwirkend ja zu sagen, als Autistin und ADSlerin in meiner Kindheit… es ging mir nie wirklich gut und auch in der Jugend nicht. Und es ging mir, und da hatte ich sehr zu kämpfen und war auch so ein bisschen allein auf weiter Flur und habe eben alles auch mit mir so alleine ausmachen müssen. Und das ist natürlich auch so ein bisschen mein innerer Antrieb und mein Motor, warum ich vielleicht auch mich so sehr für Kinder und Jugendliche im Spektrum einsetze. Muss ich auch ganz klar sagen. Weil ich möchte, dass das eben bei den Kindern anders ist und eben anders läuft, als es eben bei mir damals der Fall war.
Mirjam: Kannst du dich an einen Moment erinnern mit deinem Kind, der sehr herausfordernd war, wo du so regelrecht geswitcht bist? Also wo du dann aus deiner Muttersicht in seine Innensicht gewechselt bist und dir das erklärt hast: Das sollte ich jetzt tun, weil das gerade ihn eigentlich beschäftigt?
Mareke: Das finde ich ganz schwer, da jetzt ein Beispiel zu finden. Grundsätzlich ist es aber so, dass ich ganz schnell, manchmal, nicht immer, ganz schnell bei Dingen, die ich nachvollziehen kann, die ich selber kenne aus meiner Kindheit, bin ich ganz schnell auch in seiner Sicht und kann ihn verstehen. Das ist eben auch ein Vorteil als Mutter im Spektrum – es kann auch eben Nachteile haben – dass ich seine Sicht der Dinge oft ganz gut nachvollziehen kann.
Mirjam: Und was machst du dann? Stellst du dann Fragen oder hilfst du wortlos?
Mareke: Das ist ganz unterschiedlich, je nachdem, was er gerade braucht. Manchmal ist es für ihn schwer, Umarmungen anzunehmen. Also dann möchte ich eigentlich als Mutter dieses Kind, was gerade so verzweifelt ist, einfach nur umarmen und damit trösten. Das ist für ihn aber schwierig oft, das ist dann wiederum für mich schwierig. Dann braucht er was anderes. Und da bin ich auch manchmal als Mutter überfragt. Manchmal ist er wirklich auch tief verzweifelt und ich weiß gar nicht so richtig, wie kann ich ihm da helfen? Und da merke ich dann auch schon wieder, da sind wir dann vielleicht auch nicht gleich. Also ich glaube, als Kind hätte ich die Umarmung irgendwie vorgezogen. Und für ihn ist das dann manchmal schwierig. Und das macht es mir auch schwer.
Marco: Ja, das kann ja auch tatsächlich unterschiedlich sein, innerhalb eines Tages, dass ein Kind gerade sensorisch überempfindlich ist und dann gerade gar keine Berührung abkann. Und zwei Stunden später kann es vielleicht sein, dass es dann gerade genau die Umarmung braucht, weil es dann sensorischen Input braucht. Und das ist ja auch etwas, was dann – um nochmal auf die Diagnostik zurückzukommen – wieder so verkannt wird, dass es so heterogen ist im Profil innerhalb eines Tages, aber als auch im ganzen Spektrum, also diese ganzen Fähigkeiten.
Also, was weiß ich, bei diesem überstrapazierten Beispiel von Rainman hat man gesehen, er hatte eine mathematische Hochbegabung, aber war halt tagespraktisch nicht in der Lage, Dinge für sich selbst in Gang zu bringen. Oder ich sag mal, jemand kann die Zahl Pi bis zu 20.000 Stellen hinterm Komma aufsagen, aber kann sich die Schuhe nicht zubinden. Dass das eine dieselbe Person ist. Und viele kommen sich dann immer ein bisschen veräppelt vor, wenn sie denken: Du kannst doch, aber du bist doch immer so klug, warum kannst du das denn nicht? Das kann in ein und derselben Personen stecken und dann eben auch je nach Tagesform auch im Tagesverlauf wechseln. Weswegen es ja dann so spannend ist, wenn man sich dann nochmal zurückerinnert an die Folge mit Ludger Tebartz van Elst, an dieses Modell der Struktur und der Zustände und der Probleme, und dass wir natürlich in der Therapie jetzt nichts an der Struktur herumdoktern. Struktur ist in dem Fall das autistische Spektrum, die Neurodiversität.
Das ist ein Teil der Persönlichkeit und daraus erwachsen zuweilen bestimmte Probleme und bestimmte Zustände, an denen können wir arbeiten, die Zustände haben ja auch meistens ein Anfang, ein Ende, die Struktur bleibt, die ist fest. Und die Probleme haben ja eben auch bestimmte Ursachen, die vielleicht aus Zuständen herausrühren. Und daran können wir arbeiten, um zu gucken, wie können wir einen guten Umgang damit finden. Und das wechselt ja auch über den Tag und über das Leben.
Mareke: Und das ist auch so wichtig, eben auch gerade dann in der Therapie oder auch als Ergotherapeut darüber Bescheid zu wissen. Auch diese Idee zu haben, dass es könnte ein Autismus-Spektrum sein. Denn ganz oft wünschen sich ja Eltern Dinge, Zielsetzungen für ihr Kind in der Ergotherapie, die aber eigentlich diesem Bereich der Struktur zuzuordnen sind.
Und die Heizung macht gerade Geräusche.
Marco: Ach, das ist die Heizung und ich dachte mal es wäre die Kanne.
Mirjam: Falls ihr das auch schon gehört habt: Es war die Heizung. Und vorhin flog mal sehr brummig ein dickes Flugzeug vorbei.
Marco: Die gluckert halt.
Mirjam: Ich mach sie jetzt einfach wieder niedrig..
Mareke: Ja, und ganz oft kommen eben Familien mit Zielen für ihre Kinder, die mit dieser Struktur zu tun haben. Und die dann damit zu tun haben, in der Theorie ganz überspitzt, dass man so dieses Sein der Kinder dann eben auch ändert. Und wo man eigentlich, wenn man das nicht weiß und sich Ziele setzt, also dieses klassische Ziel, was ich in ganz vielen auch ergotherapeutischen Berichten manchmal lese, das Kind lernt Blickkontakt und das ist so wichtig und das ist ja das oberste Ziel, wenn ich mir sage: Nee, also das muss es bei mir nicht! Also das ist schon ein doofes Ziel eigentlich.
Und aus meiner Sicht, gibt auch andere Rückmeldungen und Meinungen bestimmt. Aber so, und wenn ich dann eben bestimmte Ziele habe – und das sind dann ja auch oft ganz hohe Anspruchshaltungen, mit denen die Kinder dann konfrontiert sind, die ich dann aber ja, wenn ich um das Spektrum weiß, dann auch wieder relativieren kann und mir die Ziele ganz anders setze. Das heißt, ganz oft ist es auch so, dass die Eltern zu mir in die Ergotherapie mit Zielen kommen, wir vielleicht herausfinden: Mensch, diese Wahrscheinlichkeit, Autismusspektrum besteht. Und dann passen wir die Ziele auch nochmal an und relativieren die. Weil die Kinder, die sind ja toll! Und die sind gut so, genau wie sie sind. Und wir müssen die Kinder ja nicht ändern! Das, was wir oft ändern müssen, sind die äußeren Strukturen und die Umwelt und die Unterstützungsangebote, aber eben nicht diesen strukturellen Bereich.
Marco: Und das Verständnis zu schaffen im Umfeld. Weil, das würde ja dann auch dazu führen, dass eben nicht mehr alle Welt auf diesen furchtbar für wichtig gehaltenen Blickkontakt besteht. Weil, der Blickkontakt gibt viel zu viel Information, der schon geradewegs in Reizüberflutung führen kann. Nicht muss, aber kann. Und da sind ja die Menschen auch sehr unterschiedlich.
00:35:08.000
Und wenn dann das Umfeld weiß: Ja, ich kann besser damit umgehen, wenn ich irgendwo in die andere Richtung gucke und dabei mich fokussiert äußern. Dann können sie das auch besser so annehmen. Also auch da braucht es ja dann eine radikale Akzeptanz. Und das ist ja das, was ich auch als Schulbegleiter oft erlebt habe, dass die Lehrkräfte dann nicht annehmen konnten, dass ein Kind auch zuhören kann, wenn es nebenbei was auf dem Block kritzelt oder irgendwas anderes nebenbei macht. Wenn man sagt: Guck nach vorne und höre zu! Nee, lass ihm den Block, lass ihn da zeichnen. Deswegen kann er gerade zuhören!
Mirjam: Du hast dich selber als schüchtern beschrieben, also dass du als Kind ruhig und schüchtern warst. Was hast du denn dabei erlebt und gedacht?
Mareke: Oh, da fragst du mich Sachen! Das kann ich gar nicht mehr so richtig, das kann ich nicht mehr sagen. Also ich weiß, dass ich zurückhaltend, schüchtern, ängstlich war. Im Kindergarten war ich mit meiner Schwester, die zehn Monate jünger ist nur als ich, in einer Gruppe. Und da weiß ich so aus heutiger Sicht, das war das gut, dass sie mit in dieser Kindergartengruppe war. Da war ich doch alleine sehr, sehr verloren. Es hat sich aber dann relativ schnell gewandelt eigentlich. Und dann ging das dann später auch mal in eine andere Richtung. Aber was ich da genau gedacht und gefühlt habe, dazu habe ich leider keinen Zugang mehr.
Mirjam: Ich meine es eher so auf so einer ganz tiefen Ebene. Weil das oft das Klischee auch ein bisschen ist, dass Mädchen im Spektrum eher schüchtern und ruhig sind und Jungs fallen auf durch unangepasstes Verhalten, also dass sie dann eher anecken. Das wird immer wieder so erzählt. Und wir sind ja auch dabei, das ein bisschen zu klären, wie so der weibliche Autismus, der männliche Autismus, allein durch unsere Gespräche mit den weiblichen Gästen. Ich möchte nur manchmal verstehen, was in einem Kind vorgeht, das so ganz ruhig ist und beobachtet, was genau da beobachtet wird, also was die Kinder wirklich in dem Moment dann da tun. Stellen sie sich Fragen, was machen die da komische Sachen? Warum schreien die jetzt so? Oder beobachten sie was ganz anderes, irgendwelche Strukturen, Muster? Darauf wollte ich hinaus.
Mareke: Das ist eine ganz spannende Frage. Und ich habe wirklich keinen Zugang mehr. Wenn ich jetzt heute die Kinder beobachte und das ist auch so gerade, wenn ich in eine Kita fahre und die Kinder dort beobachte, dann sehe ich ja auch die Beobachterkinder, wie sie beobachten. Vielleicht kann ich mal gucken, ob da nicht der eine oder andere Fünfjährige mal, der ein oder andere ist vielleicht so reflektiert und kann mir das vielleicht sogar mal sagen, wenn ich da mal Anknüpfungspunkte finde. Ich finde das eine spannende Frage. Ich weiß, bei mir war immer einfach so eine tiefe Unsicherheit da. Und ja, als Kind, aber ich mache das ja auch heute noch, dass ich viel beobachte und dass man, so stelle ich mir das vor und vielleicht ist es auch als Kind dann so gewesen, dass man einfach schaut, wie interagieren die anderen? Aber es ist ja unbewusst als Kind. Als Kind denkt man ja nicht: Okay, ich analysiere jetzt mal das Verhalten. Ich glaube, man ist einfach da, man schaut, man träumt vielleicht auch mal so ein bisschen in die Richtung, wie andere Kinder spielen und wundert sich über das eine oder andere, was dort geschieht, erfreut sich vielleicht auch an den Dingen, die da passieren und lernt daraus so nach und nach. So stelle ich mir das vor.
Mirjam: Als dein Sohn noch klein war, also jetzt ist er 10, 11?
Mareke: Der ist ja elf, ja.
Mirjam: Als er noch klein war, wie hast du denn mit ihm gespielt? Hast du da so ein bisschen Kindheit nachgeholt?
Mareke: Also nein, ich würde sagen, ich würde glaube ich sagen, ganz normal, ja. Also ich bin auch heute noch Kind, muss ich sagen. Das ist vielleicht die ADSlerin in mir. Und spiele auch heute noch wahnsinnig gern. Und das machen wir auch viel zu Hause, Gesellschaftsspiele spielen. Nein, das glaube ich nicht. Also ich weiß nicht, ob ich da auch so jetzt Kindheit nachholen musste. Also ich habe ja auch als Kind gespielt. Ich hatte eine Schwester, die zehn Monate jünger war als ich, das heißt ja in einem ganz ähnlichen Alter. Und das ist ja auf jeden Fall, ist es ja auch so, dass ich dort eben gespielt habe. Welche Art und Weise kann ich auch heute gar nicht mehr so richtig sagen. Aber das würde ich glaube ich so nicht sagen.
Marco: Ich hänge noch ein bisschen an dem Begriff des unangepassten Verhaltens von Jungs. Weil, Autismus ist ja auch eigentlich eine Art, auf die Umwelt einzugehen, weil man mit dieser besonderen Art der Wahrnehmungsverarbeitung klarkommen muss. Und das sieht dann von außen unangepasst aus, aber eigentlich ist es ein Versuch, sich mit den Gegebenheiten klarzukriegen und anzupassen. Unangepasst wirkt es dann wieder aus einer normierten Sicht, die dann sagt: Menschen verhalten sich so und so. Und Menschen schreien nicht rum und schmeißen keine Stühle und Tische um, weil das gehört nicht in unser Verhaltensrepertoire. Aber für einen Menschen, der gerade mit einer Reizüberflutung zu tun hat, überfordert ist, der also gerade fast innerlich platzt, für den ist es ein absolut sinnvolles, angepasstes Verhalten, jetzt mal einen Tisch oder einen Stuhl zu schmeißen. Weil es vielleicht hilft, ein Ventil zu geben zu dieser drohenden Reizüberflutung oder gerade dem Meltdown, also diesem autistischen Zusammenbruch. Und deswegen bin ich nochmal darauf zurückgekommen, dieses unangepasste Verhalten, oder auch wenn ich so in Fortbildung gehe und über herausforderndes Verhalten spreche. Über herausforderndes Verhalten sprechen wir immer dann, wenn es die Empfangenden als herausfordernd bezeichnen. Das ist eine Zuschreibung, die von denen ausgeht. Weil, die Absicht der Menschen, die sich so verhalten, liegt nicht darin, uns herauszufordern, sondern die sorgen gerade nur für sich. Sie versuchen, Bewältigungsstrategien auszuagieren, um mit ihrem Problem fertig zu werden.
00:41:35.000
Mareke: Vielleicht kann man unmaskiert sagen oder weniger maskiert.
Marco: Ja.
Mareke: Weil, es gibt ja schon irgendwo einen Unterschied zwischen Mädchen und Jungs, ein wenig zumindest im Mittel immer, also es ist nicht auf das Individuum bezogen. Warum Mädchen eben so wenig erkannt werden oder warum es so schwer ist, besonders schwer ist, Mädchen zu diagnostizieren. Und ich glaube aber, dass das kann sicherlich was mit dem Unterschied zwischen Männern und Frauen, einfach auch mit den Chromosomen so ein bisschen zu tun haben. Aber es ist auch so ein bisschen eine Persönlichkeits- und Charaktereigenschaft vielleicht. Mein Sohn, der war auch immer ganz ruhig und der war so ein Beobachterkind. Und es gibt ja die Kinder, die sich, und er ist eben mein Junge, und er konnte sich auch ganz, ganz toll anpassen, ganz toll maskieren. Ich habe mir damals schon, bevor wir das wussten – also er hat dann immer mit anderen Kindern gespielt, und wenn er mit dem wilden Kind gespielt hat, dann hat er wild gespielt. Wenn er mit dem ruhigen Kind gespielt hat, dann hat er ruhig gespielt. Und er hat sich immer so sehr so angepasst, wie ein Chamäleon, haben wir damals immer gesagt. Und dann haben wir gesagt: Mensch, wir würden uns so sehr wünschen, dass er er selber sein kann. Und das stimmt. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch, da kann man jetzt wieder eine Debatte führen, pro und kontra Masking, maskieren. Aber dann natürlich ist das auch eine Stärke gewesen von ihm. Und bei ihm ist es so, dass er es eben auch als Junge sich immer ganz, ganz viel angepasst hat. Und das ist, glaube ich, dann, wenn man so eine gewisse Zurückhaltung oder eher eine zurückhaltende Persönlichkeit hat, dann kann ich ja auch, wenn ich mich zurückhalte, dann kann ich auch einfach beobachten. Wenn ich aber eher vielleicht dann von meiner Persönlichkeit so ein bisschen, vielleicht ein bisschen draufgängerischer bin oder Ähnliches, dann beobachte ich vielleicht weniger. Und dann führt es vielleicht auch dazu, dass man hier und da etwas eher oder mehr auffällt, wenn ich weniger beobachte, vielleicht weniger aus Beobachtung lerne. Und ja, vielleicht bin ich dann hier und da ein bisschen offensichtlicher erkennbar oder wie man das so sagen kann. Aber ich glaube, das ist so wahnsinnig komplex. Das kann man, glaube ich, gar nicht mit einem Faktor erklären.
Marco: Aber unmaskiert trifft es auch ganz gut und diese Zweischneidigkeit der Maskierung hatten wir auch schon mit Martin besprochen, dass sich ja manche auch bis ins Burnout maskiert haben.
Mareke: Absolut.
Marco: Also das einerseits eine Ressource ist. Weil, natürlich ist es oft einfacher, wenn ich es schaffe irgendwie hier in dieser doch überwiegend neurotypischen Welt klarzukommen und jetzt nicht immer ständig als so ein etwas Besonderes heraussteche. Und gleichzeitig darf ich natürlich immer aufpassen, wie sehr strengt es mich an, wie viel Energie verbrauche ich dabei.
00:44:45.000
Wenn ich zu viel Energie verbrauche, dass ich mir dann auch Inseln schaffe, wo ich dann auch mal unmaskiert meine Selbstregulationsstrategien ausleben kann oder in dem Umfeld klar ist, ich muss ab und zu mal bestimmte Stimmings durchführen, damit ich klarkomme.
Mirjam: Ist dir das auch so gegangen? Also hast du das erlebt, dass du zu sehr deine Bedürfnisse unterdrückt hast und dann das nach hinten losging?
Mareke: Ja, das mache ich heute eigentlich noch. Also ich bin ja sehr aktiv und mache sehr viel in all meinen Rollen, die ich so vertrete und einnehme. Und man muss sagen, dass ich mich auch eigentlich immer chronisch überlaste und auch täglich. Und da sind so diese, ja das kommt glaube ich auch, da sind so diese mehreren Herzen, die auch bei mir in der Brust schlagen. Zum einen ist das ja auch die Autistin, die manchmal einfach mehr Ruhe braucht und die bestimmte Dinge überfordern. Nur die Autistin in mir, die hätte sich heute nicht entschieden hier zu sein. Die hätte gesagt: Nö, lass mal lieber. Auf der anderen Seite habe ich aber noch die ADSlerin oder ADHSlerin und die kognitiv starke Person, sage ich hier mal, in mir, die immer sich Herausforderungen sucht. Und dann aber auch gerne überfordert. Also wenn man mir zehn Wege aufzeigt, ich nehme immer den schwierigsten, ganz merkwürdig. Und das ist natürlich auch so, dass mich das dann auch überfordert. Und da muss man ganz doll aufpassen. Das ist auch das, was ich mit meinen Klienten ganz viel bespreche. Also wir haben dann auch verbildlicht eine Batterie. Und man muss einfach im Autismusspektrum ganz, ganz arg auf seine Batterie achten. Die ist schneller leer und die ist weniger schnell oder langsamer wieder aufzuladen. Und das ist natürlich auch etwas, was, und da ist wieder auch das Wissen um die Diagnose oder um das Vorhandensein des Autismusspektrums so wichtig. Weil ich damit das dann ja auch besser steuern und beeinflussen kann. Damit eben nicht irgendwelche anderen Folgeerkrankungen folgen. Und die können körperlich sein, ich selber habe so ein bisschen Muskel- und Gelenkprobleme, ohne dass da irgendwie ein Rheuma rauszukriegen ist.
Ich habe mit 22 Jahren eine Darmentzündung gehabt, schon über viele Jahre war die vorher mit wirklich Darmverschluss und mehreren Operationen. Da ist mir quasi meine, ich sage immer meine Kindheit und Jugend in Anführungsstrichen „auf den Magen geschlagen“. Und da muss man natürlich aufpassen. Und es gibt auch Klienten, die ich haben, die eben dann psychische Erkrankungen bekommen, Depressionen, Angststörungen, Zwangserkrankungen. Und es gibt ja ganz viel, was oft mit dem Autismusspektrum einhergeht. Ich glaube, dass wir gegen vieles auch nicht viel ausrichten können, wenn es auch mit genetisch mitbedingt ist. Aber natürlich können wir darauf achten und eben unterstützen, dass vielleicht solche komorbiden Erkrankungen dann eben weniger auftreten. Und das ist so, und das finde ich einfach auch so einen ganz, ganz wichtigen Punkt nochmal, gut auf sich acht zu geben.
Mirjam: Ja, du hast ja nicht nur deinen Sohn, du hast auch, das fand ich so niedlich, du hast geschrieben, dein Mann ist ein Neurotyp.
Mareke: (lacht)Vermutlich, ja.
Mirjam: Wie arbeitet ihr so als Team zusammen, du und dein Mann? In Bezug auf deine Bedürfnisse und auf die deines Kindes, eures Kindes?
Mareke: Ja, das ist, das ist gar nicht so einfach. Das ist, wenn man so im Alltag beide arbeiten viel und viel eingebunden ist, dann hilft es natürlich, darüber zu sprechen und das ist bei uns auch ein ganz großes Thema. Für ihn manchmal ist es wirklich schwer, das nachzuvollziehen, bestimmte Dinge und das ist auch heute noch schwer, obwohl er ja schon so lange mit uns zusammenlebt. Und das ist auch ein immer noch fortwährender Prozess, dass er einfach immer mehr versteht, wie wir so ticken und mit den Dingen umgehen kann und unterstützen kann. Ich denke mir auch manchmal als Mutter, das ist ja auch immer so die Frage, bin ich sehr gut, bin ich gut für mein Kind als nicht neurotypische Mutter, sondern als Autistin, ADSlerin? Ich kann ja auch mal impulsiv sein oder, wo ich mir manchmal denke, wäre es vielleicht besser, wäre ich neurotypisch. Auf der anderen Seite kann ich mein Kind einfach auch ganz, ganz gut, ja, ich kann gut mitfühlen und ich kann mein Kind ja nachvollziehen, was es denkt und fühlt. Was dem Neurotypen an sich, wenn ich das mal so sage, natürlich ein bisschen schwerer fällt. Und ich glaube, das ist aber grundsätzlich für Eltern ganz wichtig. Wenn man Eltern ist, von Kindern, die besondere Bedürfnisse haben, dann ist es einfach wichtig, dass man gut im Austausch ist, dass man sich auch Zeit für sich selber nimmt, dass man schaut, dass man eben auch eine Paarzeit hat. Und da werden jetzt ganz viele zuhörende Eltern wahrscheinlich sagen: Ja, woher sollen wir die denn noch nehmen? Das ist ein ganz großes Thema. Aber man muss ja auch sagen, dass das viele, viele Ehen auch zerbrechen, wenn man einfach große Herausforderungen im Alltag hat. Und das ist ganz wichtig, eben auch so diese Paarebene noch mitzubetrachten und die auch zu fördern, sich Zeit und Raum zu nehmen für diese Dinge auch.
Mirjam: Wobei, es wird ja oft immer wieder zitiert und gesagt, dass die Beziehungen, wo ein Partner oder eine Partnerin im Autismus-Spektrum ist, häufiger geschieden werden oder dass die scheitern. Das stimmt gar nicht. Dazu gab es Studien, die Scheidungsrate oder die Trennungsrate bei Paaren, wo ein Partner im Spektrum ist, ist gar nicht höher. Das ist eine These, die sogar von Leo Kanner, soweit ich mich erinnere, mal in den Raum gestellt wurde. Leo Kanner war ja derjenige, der die Frühkindlichen, was man früher frühkindlich nannte, beschrieben hat und mit den non-verbalen Autisten und Autistinnen vor allen Dingen zusammengearbeitet hat. Und das war der, der auch ein bisschen das mit der Kühlschrank-Mutter…
Marco: …Ein Stück weit angeschoben hat und dann Betelheim in die Schuhe geschoben hat.
Mirjam: Genau, Bono Bettelheim. Nur als kleinen Exkurs, dass man den Namen einordnen kann. Aber von früher gibt es noch viele sehr pathologisierende Klischees auch über Eltern. Eben nicht nur, dass sie schuld sind am Autismus ihrer Kinder, aber auch, dass die Diagnose dann wiederum bedeutet, die Ehe ist gefährdet. Und das muss es ja nicht sein. Also wir haben auch bei uns im Elternkreis einige Paare dabei, die wir wirklich als ein Team empfinden.
Mareke: Wichtig ist einfach, dass man zusammenarbeitet und sich als Team versteht, dass man sich austauscht, dass man sich auch die Zeit nimmt, sich auszutauschen. Das finde ich ganz wichtig. Und das erlebe ich auch mit meinen Klienten. Ich habe ja viele Familien bei mir und da muss ich sagen, dass auch – früher war es ja oft ein bisschen anders vielleicht noch – aber, dass ganz oft beide Eltern bei mir sitzen und sich gegenseitig unterstützen. Das ist nicht immer so. Manchmal habe ich das auch, dass eben ein Elternteil, meistens ist es die Mutter, so ein bisschen alleine auf weiter Flur ist. Aber meistens ist es tatsächlich so, dass beide Eltern da sind und sich gleich einbringen und das finde ich ganz, ganz toll und wichtig.
Mirjam: Eine Rolle von dir, die haben wir noch gar nicht besprochen. In deiner Freizeit kümmerst du dich auch um Kinder und Jugendliche und hast da gleich zwei Gruppen gegründet. Also die eine für 7- bis 12-Jährige, glaube ich, und die andere für Jugendliche. Die hat den schönen Titel Uniquely…
Mareke: Unique.
Mirjam: Uniquely Human, kennst du das Buch von Barry Prizant?
Mareke: Leider nicht, nein.
Mirjam: Empfehle ich dir sehr. Also habe ich es schon oft genannt. Das machst du immer sonntags.
Mareke: Also einmal im Monat finden die Gruppen statt. Und die finden beide an dem Sonntag dann statt. Dann habe ich erst die Kindergruppe um 11 Uhr und um 14 Uhr dann die Jugendgruppe. Ja, das war mir so ein Anliegen. Wenn mein Sohn mit anderen Kindern im Spektrum spielt, dann habe ich ihn immer so erlebt, dass er mehr er selbst sein kann. Und das ist so wahnsinnig toll. Also er hat immer dann das Gefühl, sich nicht so doll, wenn wir von diesem Chameleon reden, sich nicht so doll anpassen zu müssen, einfach er selbst zu sein. Und dann habe ich diese Kindergruppe gegründet und bald darauf auch die Jugendgruppe. Bei der Jugendgruppe habe ich so ein bisschen an mich selbst gedacht und hätte gedacht, so Mensch, früher, das hätte ich gebraucht. Und deswegen könnte das eine gute Ergänzung sein. Und man muss sagen, in der Jugendgruppe sind wir erst mit zwei, drei Teilnehmern angefangen. Da hat sich noch nicht so rumgesprochen. Und viele Jugendliche trauen sich auch nicht so recht, muss ich sagen. Also die Kinder, die sind da ein bisschen mutiger. Und die Gruppe ist auch schon jetzt fast voll. Irgendwann müssen wir jetzt mal sagen, wir haben einen Aufnahmestopp.
Marco: Vielleicht auch unbefangener, ne? Nicht zu viel erlebt und sich deshalb zurückhalten, ne?
Mareke: Ja, wirklich. Und die Kinder, das ist so ein tolles Miteinander. Weil ich mir ja auch dann dachte: Mensch, wie wird das, wenn wir dann alle in einer Gruppe sind? Im Moment sind dort auch nur Jungs tatsächlich. Ein, zwei Mädels waren schon mal da, aber jetzt sind wir gerade nur Jungs. Und die haben so ein tolles Miteinander. Es ist so ein ruhiges Miteinander und es ist so ein wertschätzendes Miteinander und ein Miteinander frei von Vorurteilen.
Und diese Vorurteilsfreiheit, das ist ja eine, finde ich, ganz große Stärke im Autismus-Spektrum. Das macht mir auch Gänsehaut gerade. Das ist so toll. Da ist dann ein Junge, der im Kleid dann ankommt und dort ist und nach einer Stunde gefühlt fragt der Erste: Warum hast du denn heute ein Kleid an? Dann sagt er: Weil ich es gerne mag. Okay. Und jeder ist einfach da und so wie er ist. Und der eine, der ist ein bisschen zurückhaltender, ängstlicher, traut sich nicht ins Gemenge und der ist einfach nur nebenbei da und keiner irgendwie guckt komisch, sondern alle sind einfach da und alle sind so angenommen, wie sie sind. Und das ist so ein tolles Beieinander. Und parallel in der Kindergruppe sind die Eltern parallel da und dann haben wir so einen kleinen Stammtisch oder so eine kleine Selbsthilfegruppe. Ist das dann parallel. Ist eine tolle Sache. Es macht mir ganz viel Freude, das zu machen. Natürlich ist es für mich dann nochmal so ein extra Sonntag. Das ist etwas, was ich dann auch noch schaffen, von meinen Kräften her schaffen muss. Aber es gibt ja auch ganz viel. Ich kooperiere mit dem Verein NISA e.V. in Buchholz. Ich hatte damals gedacht, Mensch, mache ich das allein und habe dann diesen Verein gefunden und habe gedacht: Mensch, Netzwerken, das kannst du doch so gut. Lerne ich tatsächlich in den letzten Monaten, Jahren sehr immer mehr (lacht). Und jetzt können wir eben diese Gruppen gerade im Winter im Jugendzentrum bei der Stadt Buchholz anbieten. Und da haben wir jetzt einfach auch einen ganz tollen Raum gefunden. Vorher waren wir in der ehemaligen Schule meines Sohnes. Die Schulleiterin ist da ganz klasse und hat gesagt, Mensch, ihr könnt das hier machen. Und im Sommer schauen wir, da haben wir es jetzt tatsächlich in unserem Garten getroffen. Wir hatten einen Sponsor, der zwei Seifenkisten gesponsert hat. Und dann haben wir Seifenkisten gebaut. Und der ein oder andere Teilnehmer ist ja sehr technikaffin. Und diese Seifenkisten konnten wir dann wiederum an dem inklusiven Sommerfest präsentieren und dort konnten Kinder damit fahren. Und genau, das ist eine tolle Sache.
00:56:57.000
Mirjam: Ist ein bisschen so, du machst dir die Welt, so wie sie dir gefällt, habe ich gerade kurz gedacht.
Mareke: Ja.
Mirjam: Auch durch deinen Beruf der Ergotherapeutin, du hast ja das nicht ursprünglich gemacht, ne? Also das sollten wir vielleicht nochmal erwähnen, du hast ja davor auch schon noch ein Studium gehabt, in eine ganz andere Richtung. Betriebswirtschaft war das? Mein Gott. Also du hast die Wege gefunden, in denen du so wirken kannst auch, wie du willst, habe ich den Eindruck.
Mareke: Ja, ja, das ist so schicksalhaft so ein bisschen. Also auch als Ergotherapeutin habe ich mich sehr schnell auf das ADHS spezialisiert am Anfang, ohne zu wissen, dass ich da selber betroffen bin. Das war so ein bisschen, das ist immer Schicksal, Schicksal glaubt man an Schicksal, aber irgendwie ist das so. Und dann gehe ich so in diesem Weg, aber das ist ja auch der Weg da, in dem ich mich eben gut fühle, wo ich was erreichen kann und ja, da wird es sicherlich noch weitergehen, ich bin ganz gespannt, wohin. Ja, und dazu möchte ich eben auch andere ermutigen, wenn sie sagen: Mensch, das fühlt sich gut an und ich möchte diesen Weg gehen, den dann zu machen und nochmal andere Wege einzuschlagen. Oder wenn jetzt eine Zuhörerin denkt: Mensch, ich finde das toll und das inspiriert mich, ich habe Lust, so eine Gruppe zu leiten, dann ja, immer, immer ran!
00:58:20.000
Marco: Oder wir kriegen über den Weg jetzt einen Hinweis, übrigens, hier gibt es eine Gruppe. Ja, wäre auch toll. Und wir wüssten davon noch nicht. Ich frage mich gerade noch, weil du das ja vorhin nur so angedeutet hast, dass es dann auch die einen oder anderen Schwierigkeiten gab, mit welchen Schwierigkeiten du denn vor dem Hintergrund der ganzen Sachen, die gut gelaufen sind, zu kämpfen hattest. Weil das ist ja immer etwas, was man natürlich nicht so sehr hervorkehren will, aber ich glaube, es gehört ja auch immer dazu, um auch die Akzeptanz zu fördern, dass man sagt, das kann nebeneinander bestehen, die Schwierigkeiten, die ich habe, wie auch das, was ich alles schon geschafft habe und zustande bekommen habe.
Mareke: Du meinst ganz allgemein im Leben?
Marco: Ja.
Mareke: Die man haben kann.
Marco: Speziell auch auf die Eigenheiten als Autistin, als ADHS-Lehrerin bezogen.
Mareke: Ja, naja, also das sind auch bei mir so die ganz Klassischen eigentlich. Also soziale Interaktion, das habe ich eben gelernt. Und das ist ja auch der Unterschied zwischen einem Menschen im Autismus Spektrum und einem in Neurotypen, dass das Ganze über den Kopf läuft und das ist es bei mir auch. Und das führt natürlich auch immer mal und gerade, ich sage mal so dieses Impulsive des ADHS, das habe ich jetzt mehr unter Kontrolle, aber ich war auch schon mal in meiner Jugend oder im jungen Erwachsenenalter auch impulsiver. Und wenn man dann natürlich hier und da mal was raushaut, was man nicht sagen möchte oder, also es gibt ja schon immer Irritationen auch mit anderen in der sozialen Interaktion und im Sozialkontakt. Und die habe ich auch ganz viel gehabt. Und das ist tatsächlich auch was, wofür ich mich lange ganz, ganz doll geschämt habe. Das ist für mich so der größte Punkt, wo ich mich schäme und wo ich auch heute noch nicht, also worüber ich noch nicht ganz drüber hinweg bin. Es gibt immer noch Situationen in meinem Leben, wo ich dann so eine tiefe Scham irgendwie fühle. Das ist ein ganz doofes Gefühl Scham tatsächlich.
Marco: Und das ist ja auch etwas, was viele abhält, von Dingen in die Welt zu geben, die Scham.
Mareke: Naja, und mittlerweile ist es ja so, dass ich auch, wenn ich mit Eltern spreche oder wir eben diese Psycho-Edukation durchführen und ich das Autismus-Spektrum erkläre, dann nutze ich auch mal meine Beispiele, dass sie mal Beispiele aus dem Erwachsenenalter hören. Also es sind dann solche Sachen wie, naja, es gibt bei uns in Buchholz eine Gruppe für weibliche Unternehmerinnen. Die treffen sich, das finde ich toll, so Frauenpower und man könnte sich treffen. Aber wenn ich da hingehe, und das merkt man mir dann ja so erstmal im Kontakt, auch als Therapeutin gar nicht an, aber wenn ich in eine Gruppensituation muss, da bin ich ganz überfordert.
Also da stehe ich wie Pik 7 und weiß gar nicht. Und alle unterhalten sich so ganz automatisch, als wäre es nix. Und ich frage mich nur: Wie machen die denn das? Und kann das nicht. Und ich kann da hingehen, aber es kostet mich ganz viel Anstrengung. Und in diesem Fall zum Beispiel habe ich für mich entschieden: Ich gehe da nicht mehr hin, weil das so anstrengend für mich ist. Das muss jetzt nicht noch on the top sein an Anstrengung, solche Dinge, die mir schwerfallen.
Und das andere ist einfach wirklich, und das ist natürlich auch ein ganz großes Thema, und eigentlich ist es auch ein Thema, worüber nicht viel gesprochen wird, dass es mir einfach in meiner Jugend auch ganz, ganz schlecht ging. Also immer so, dieses Leben ist keines für mich, also dieses Leben, also nicht so das Leben grundsätzlich, aber dieses Leben. Weil man irgendwie ja so nicht so reinpasst. Und das habe ich als Jugendliche viele Jahre gehabt, aber man hat es mir nie angemerkt. Also ich weiß noch heute, dass in der Abi-Zeitschrift tatsächlich stand – da standen eben so ein, zwei Sätze über Personen – und bei mir stand „arrogant“. Und das hat mich so tief getroffen, dass – ich habe diese Zeitschrift weggeschmissen. Und scheinbar bin ich so rübergekommen. Und ich war so unsicher in dieser – das ist ja dann auch die Zeit der Pubertät – also in der Oberstufe. Ich war so unsicher und hatte so große Probleme, die man mir scheinbar nicht angemerkt hat. Was ich dann so gut maskiert habe, dass ich dann eben arrogant wirkte. Das ist ganz spannend und eben aber auch so traurig. Und da muss man auch gerade sagen, so dieses Thema Suizidalität, es gibt da Studien. Ich habe in meiner Fortbildung, ich gebe Fortbildungen für Ergotherapeutinnen, da habe ich eine Studie mit reingenommen. Ich weiß leider die Zahlen nicht mehr genau, aber die ist eben auch im Autismus-Spektrum deutlich erhöht. Und umso wichtiger, dass wir das Ganze ernst nehmen, dass wir es wissen, dass wir es – und auch das macht die Diagnostik jetzt noch mal wieder wichtiger.
Und das ist ja auch etwas, worüber ich jetzt mit als Ergotherapeutin mit meinen Klienten ja nicht spreche, weil ich einfach ja da den Teufel nicht an die Wand malen möchte. Aber letztendlich ist das eben auch etwas, was wir ernst nehmen müssen. Dass man sich manchmal und gerade vielleicht auch Jugendliche, dass sie sich wirklich so falsch in dieser Welt fühlen, dass sie das ganz schwer aushalten können.
Marco: Unbedingt, ja. Das ist ja auch wichtig, da genau hinzuhören und dann eben auch so frappierend zu hören, dass du dann also in der Unsicherheit irgendwie eine Rückgezogenheit, eine Abgegrenztheit ausgestrahlt hast, die dann fälschlicherweise als arrogant interpretiert wurde.
Mirjam: Vielleicht auch wegen deiner Intelligenz. Also das kommt dann ja manchmal noch zusammen. Also gute Leistungen oder analytisch sein. Und wir haben das auch immer wieder im Elternkreis, dass – Eltern spüren das dann eben doch sehr und verzweifeln daran, dass sie erkennen, dass ihr Kind das Selbstwertgefühl abhanden kommt, und sie wissen dann nicht: Was können sie tun, um ihrem Kind zu vermitteln, du bist wertvoll. Ich bin für dich da.
01:04:18.000
Marco: Und das ist dann ja auch erst mal für mich oft ein wichtiger Angang in der Therapie, dass ich erst mal überhaupt wieder Beziehungsarbeit schaffe und versuche, Selbstwert wieder wachzurufen im Menschen, der mir da gegenüber sitzt. Weil, ich habe auch da manchmal Menschen in der Therapie, die sind so verzweifelt, die sagen, ich weiß gar nicht mehr, was ich noch machen soll. Ich komme mal irgendwo hin, beispielsweise in die Schule und da ist nur Krieg, nur Krieg und ich weiß überhaupt nicht, wie ich da rauskomme.
Der hat vielleicht noch nicht von Suizidalität gesprochen, aber ich würde das dann schon manchmal befürchten, dass das im Hintergrund steht. Wenn er gar keine Auswege mehr sieht, weil er von aller Welt auch missinterpretiert wird mit sogenannt „unangepassten Verhalten“ und er ist ja immer schuld, dass es überall Stress gibt. Und dann denke ich: Bitte vorsichtig! Bitte versucht erst mal wieder anzuknüpfen an Dinge, wo das Kind merkt: Oh, das tut mir gut, das mache ich ja gern, hier bin ich bei mir. Sei es darum, dass wir anfangen zu kneten. Ich komme ja auch aus der Kunsttherapie, wo ich merke, dass Plastizieren oder Sichausdrücken in Bildern sehr viel Selbstwert hervorrufen kann. Oder einfach mal, was ich auch mit manchen Klienten mache, in die Kletterhalle gehen. Und die merken: Wow, ich habe hier eine Selbstwirksamkeit, ich hänge hier in der Kletterwand und weiß, wie ich hoch und runter komme. Das können so kleine Dinge sein. Aber ich finde es auch noch mal gut und wichtig, dass du das auch noch mal angesprochen hast, dass das immer noch mitschwingen kann, die Frage der Suizidalität.
Mirjam: Und allen Zuhörerinnen und Zuhörern, die bei diesem Thema jetzt sehr angefasst sind: Ich möchte euch sagen, dass es immer Möglichkeiten gibt, sich sofort auch Hilfe zu suchen. Also es gibt ja die Sorgentelefone, es gibt die sozialpsychiatrischen Notdienste in jeder Stadt.
Marco: Geben wir dann auch nochmal in den Shownotes.
Mirjam: Schreiben wir in die Shownotes, ja. Also, wenn ihr bei euch selber oder bei euren Kindern solche Tendenzen erkennt, suizidale Tendenzen und wirklich große Not, dann zögert nicht, euch sofort Hilfe zu suchen und darüber zu sprechen!
Marco: Und gleichzeitig macht diese Offenheit, würde ich sagen, ja auch wieder stark, weil wir dann auch wieder in der bedingungslosen Akzeptanz sind, zu sagen: Das ist so und ich möchte damit einen Umgang finden.
Mareke: Ja, und manchmal gehört es irgendwie dazu und manchmal ist es so. Und es ist eben wichtig, dass wir das auch sehen und dass wir es ernst nehmen, aber dass man da eben auch wieder rauskommt. Dass es eben dann schwierige Phasen gibt vielleicht auch im Leben, aber dass man dann eben trotzdem das eben auch ganz gut schafft, wieder rauszukommen und eben seinen Weg findet. Und da bin ich mir ganz sicher, dass da eben jeder seinen Weg findet. Und besonders, wenn er sich selber eben auch sieht und sich selbst akzeptieren lernt und seine eigenen Stärken und Bedürfnisse kennenlernt. Wo wir dann ja auch wiederum bei der Bedeutung der Diagnostik wieder sind. Weil das natürlich, also wir sind ja nicht nur Autisten, aber es ist ja ein großer Teil auch von uns, und wenn wir diesen Teil sehen und ihn dort mit einkalkulieren, dann ist das eben wichtig. Und ich hatte auf der Bahnfahrt noch darüber nachgedacht, man sagt ja immer Autismus wird ja oft als so ein anderes Betriebssystem auch verstanden, so das Gehirn, was ein bisschen anders funktioniert.
Und das ist eben so, dass wenn man eben ja nicht weiß, dass man im Spektrum ist – und ich nehme jetzt einfach mal, die meisten Computer sind vielleicht Windows-Computer, und wenn ich denke, dass ich ein Windows-Computer bin oder vor einem Windows-Computer sitze, aber irgendwie funktioniert hier gerade alles nicht, ich komme hier an meine Grenzen, aber eigentlich sitze ich ja vor einem Apple-PC! Und der ist ja einfach nur ein anderes Betriebssystem. Und natürlich muss ich mich dann anders darauf einstellen und muss vielleicht anders damit umgehen, aber dieser Computer oder dieses, das ist ja nicht schlechter, das ist einfach anders. Und wenn ich natürlich das nicht weiß über diese Andersartigkeit, dann komme ich vielleicht auch schlechter aus solchen Themen wieder raus. Und das finde ich da auch nochmal ganz, ganz wichtig zu sagen.
Marco: Ja, was war denn bei dir letztlich der Punkt, wie kam es plötzlich zu der Erkenntnis, vielleicht bin ich gar nicht verkehrt, sondern nur anders?
Mareke: Ach, das kam gar nicht, das kam da ja noch gar nicht. Also das war tatsächlich so, dass diese Gedanken, die ich dann in meiner Jugend und damals hatte, irgendwann hat das eben aufgehört. Und also ich bin einfach so eine, ich bin einfach eine Kämpfernatur und habe mich irgendwie immer irgendwie rausgekämpft. Und es war auch bei mir jetzt nicht so, dass ich wirklich, dass ich Dinge in die Tat umgesetzt habe. Aber so dieser Grundtonus: Mensch, irgendwie ist dieses Leben keines für mich, es ist alles so schwierig und es ist so wahnsinnig anstrengend. Und es ist es ja auch, also dieses auch zu akzeptieren, ja, es ist anstrengend manchmal als Mensch im Autismus-Spektrum in dieser Gesellschaft gut zurechtzukommen. Manchmal ist es das einfach. Und es darf auch anstrengend sein.
Mirjam: Und wann ist es das nicht? Wir schaffen mal kurz ein Schlaraffenland, wo es nicht anstrengend ist, was hast du da für ein Bild im Kopf?
Mareke: Oh ja, das habe ich. Weniger anstrengend ist es. Ich kann so Beispiele nennen. Ich habe neulich mit einer Ärztin, die selbst im Spektrum ist, die sich nochmal so ein bisschen das bei mein ADHS angucken wollte, und da waren wir in einer Videokonferenz. Und ich habe einfach, ich habe nicht einmal dort hoch geguckt zu ihr irgendwie in die Kamera und ins Bild, und ich habe einfach so vor mich hingemalt – wenn ich male, kann ich ihr besser zuhören. Und ich weiß ganz genau, dass ich mich nicht erklären muss, weil sie das weiß. Ich habe jetzt einen sehr guten Freund gewonnen in Buchholz, der auch im Spektrum ist und der – wir verstehen uns einfach blind. Und ich weiß ganz genau: Ich muss mich nicht so anpassen und nicht maskieren. Und das ist dann, das ist einfach viel, viel weniger anstrengend.
Ein kleines bisschen habe ich jetzt den Faden verloren, wenn du deine Frage nochmal eher…
Mirjam: Also das ist der eine Weg, dass du dir gleichgesinnte sozusagen oder sogar gleichgestrickte Menschen sozusagen suchst, wo du sein kannst, wie du möchtest. Das andere ist, was kann die Gesellschaft tun? Also wie kann sie Räume schaffen, um es Menschen zu ermöglichen, so zu sein, wie sie möchten, wie sie sind?
Mareke: Also insgesamt finde ich, dass wir einfach weniger Vorurteile haben sollten, allgemein. Dass wir die Menschen viel mehr so sein lassen, wie sie sind. Das finde ich ganz wichtig, allgemein als Gesellschaft, nicht nur in Bezug auf das Autismus-Spektrum. Und da können wir Autisten oder die Autisten im Allgemeinen Vorbilder sein. Wenn ich an unsere Kindergruppe denke, wie vorurteilsfrei die Kinder miteinander umgehen. Da ist diese Gruppe und diese Jungs, die haben da jetzt eine ganz große Vorbildfunktion eigentlich. Und wenn wir da weniger Vorurteile haben, wenn wir andere Menschen viel mehr akzeptieren, wie sie sind. Wenn wir ein offeneres Mindset entwickeln für Menschen, die einfach anders sind, die mal anders fühlen oder anders denken. Ja, also, dass wir auch verstehen, dass da so unsichtbare Neurodivergenzen oder auch Behinderungen, psychische Erkrankungen da sein können, die auch Unterstützung benötigen, auch wenn sie für einen schwer greifbar sind. Und das ist das ja auch. Also ich kenne das eben jetzt eben ja von den, von manchmal von den Lehrkräften – wir haben ganz viel Glück mit unseren Lehrkräften in der Schule meines Sohnes – aber der ein oder andere kann es dann eben doch manchmal nicht greifen, was meinem Sohn da gerade schwer fällt. Weil es ihm nicht anzusehen ist. Und dass man eben auch akzeptiert, dass es eben mal gerade nicht gut geht oder dass jemand gerade etwas nicht möchte, auch wenn man das selber nicht nachvollziehen kann. Dass man dem anderen glaubt in dem, was er gerade fühlt und das auch ernst nimmt, das finde ich ganz, ganz wichtig. Und ich habe mir hier tatsächlich dazu Notizen gemacht, genau. Ja, und einfach auch so an die Bezugsperson, wenn es einem Kind nicht gut zu gehen scheint, dann braucht es Unterstützung. Egal ob man das jetzt als Außenstehender nachvollziehen kann, ob man das gerade selber fühlen kann. Dass man wirklich die Menschen ernst nimmt mit ihren Notlagen oder Bedürfnissen und einfach dann da ist. Und dass man auch insgesamt weniger Vorwürfe hat für bestimmte Dinge. Ich glaube, das ist etwas, was uns in der Gesellschaft allgemein, aber natürlich auch im Umgang mit Menschen im Autismus-Spektrum ganz viel weiterhelfen würde.
Mirjam: Vielen Dank, Mareke, dass du das heute alles mit uns geteilt hast und uns einen tiefen Einblick gegeben hast. Ich hätte gerne mit dir noch ein bisschen darüber gesprochen, was Ergotherapeutinnen eigentlich so machen. Da arbeitet man ja mit Ton und mit Holz. Also ein bisschen habe ich mal einen Einblick bekommen, weil wir auch mit Ergotherapeutinnen schon Kontakt hatten. Aber das wäre vielleicht…
Marco: Das würde den Rahmen…
Mareke: Ich würde den Rahmen sprengen. Aber eine Sache, wenn ich die sagen darf noch: Ich finde, ich würde gerne noch einmal die Rolle der Ergotherapeuten und -therapeutinnen betonen, die wir auch in Bezug auf das Autismusspektrum haben. Auch dort ist es ja so, dass viele sich mit dem Thema noch nicht auseinandergesetzt haben oder vielleicht auch das Spektrum noch weniger breit sehen, als es wirklich ist. Und das fände ich toll: Also wenn Ergotherapeuten zuhören, setzt euch damit auseinander. Ich gebe Fortbildungen für Ergotherapeuten, aber die gibt es ja auch woanders, ganz tolle Fortbildungen, denn unsere Rolle ist ja das, was ich mache, also dass man das erkennt. Viele Kinder im Autismusspektrum kommen ja erst mal vielleicht gar nicht deswegen in die Therapie. Es gibt viele, die eben mit sozialemotionalen Schwierigkeiten kommen oder einfach nur mit feinmotorischen oder motorischen Problemen, denn das ist ja ganz häufig auch im Autismusspektrum der Fall. Und wenn man dann eben diese Zielsetzung, meinetwegen Feinmotorik-Stifthaltung hat, aber auch in diese andere Richtung mal hört und vielleicht erkennt: Mensch, da könnte noch mehr dahinter stecken. Sich dann zuzutrauen, das mit den Eltern zu besprechen und einen Verdacht zu äußern. Weil das einfach so enorm weiterhilft. Und da möchte ich einfach die Ergotherapeutin nochmal ermutigen, den Blick auch nochmal in diese Richtung zu geben.
Mirjam: Und wir können auch von den Eltern, die wir so im Elternkreis immer hören, bestätigen, dass viele Eltern Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten als wichtige Möglichkeit gefunden haben, um auch Wartezeit zu überbrücken. Also ihr seid keine Lückenfüller, aber es ist einfach auch so, die Plätze für Autismustherapien sind da. Manchmal warten Eltern jahrelang, um überhaupt einen Termin für eine Diagnostik zu bekommen. Da gibt es auch Wartezeit, bis zu einem halben Jahr, ein Jahr sogar, je nachdem in welchem Bundesland ihr lebt.
Marco: Ich würde sagen, sogar Ergotherapeutinnen sind gleichwertige Fachkräfte, was das betrifft. Ja, absolut. Nicht umsonst haben wir auch einige Ergotherapeutinnen bei uns in den Autismuszentren. Da ist das ja immer sehr breit aufgestellt, Ergotherapeutinnen, Logopädinnen etc., Psychologen. Insofern ist das, glaube ich, eine sehr willkommene Ergänzung oder Parallelität, dass Ergotherapeutinnen eben auch mit Kindern gut im Spektrum arbeiten können und da eben gute Möglichkeiten schaffen können, sich wieder in einer Wirksamkeit zu erleben, sich wieder besser zu fühlen, sei es in der Motorik, in der Sensorik, also bis hin, wenn man in die sensorische Integrationstherapie geht. Aber das wäre natürlich auch nochmal ein eigenes Fachthema.
Mirjam: Das ist schön, weil ihr könnt ja Marco nicht sehen, wenn er hier jetzt mit uns spricht, aber immer wenn Marco zu diesem Punkt kommt, wo es um Selbstwirksamkeit geht, dann drückt das dein ganzer Körper aus, ne?
Marco: Ja, stimmt, ja.
Mirjam: Also dieses zum inneren Kern, also sich spüren, zu wissen, was steckt da in mir? Das finde ich immer sehr schön, deine Körpersprache. Also ihr beiden, ich danke euch sehr für das schöne Gespräch und ich danke euch fürs Zuhören, schreibt uns gerne fleißig weiter E-Mails. Und es freut uns besonders, wenn wir dadurch so tolle Gäste finden. Dankeschön!
Marco: Ja, schön, dass du da bist.
Mareke: Schön, dass ich da sein durfte.
Mirjam: Tschüss.
01:17:38.000
Outro
Sprecher: Das war Spektrakulär – Eltern erkunden Autismus.
Mirjam: Unsere Kontaktdaten und alle Infos zu unseren Folgen findest du in den Shownotes auf unserer Seite spektrakulaer.de.
Sprecher: Der Podcast aus dem Martinsclub Bremen. Gefördert durch die Heidehof-Stiftung, die Waldemar-Koch-Stiftung und die Aktion Mensch.
Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)