„Ich will jetzt mehr eins werden, nicht mehr so verstreut und zerflossen.“
Mit Jennifer Fromm, Physiklaborantin, Tischlerin, Autistin mit ADHS
Erscheinungstermin: 15.10.2024, Autorin: Mirjam Rosentreter
Vorweg ein paar Hinweise:
In unserem Podcast reden wir über Dinge, die vielleicht bei euch etwas anstoßen.
Bitte beachtet:
1.) Unsere Gespräche geben persönliche Erfahrungen wieder und erfüllen keinen wissenschaftlichen Anspruch. Das Hören oder Lesen unseres Podcasts ersetzt keinen Besuch in einer Praxis oder Beratungsstelle. Fühlt euch ermutigt, offen auf Menschen in eurem Umfeld zuzugehen. Oder sprecht Fachleute in eurer Nähe an.
2.) Fragen und Rückmeldungen könnt ihr über hallo@spektrakulaer.de an uns richten. Oder ihr kontaktiert uns auf unserem Instagram-Kanal @spektrakulaer_podcast. Gerne versuchen wir auf Themen einzugehen, die Euch interessieren. Persönliche Fragen zu Diagnostik oder Therapie können wir leider nicht beantworten.
3.) Im folgenden Abschnitt haben wir für euch unsere Sprachaufnahme transkribiert, also verschriftlicht. Als Text aufgeschrieben ist gesprochene Sprache nicht immer ganz korrekt und eindeutig verständlich. Das Manuskript entspricht auch nicht einem journalistisch überarbeiteten Interview.
4.) Dieser Podcast ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Wenn ihr uns oder unsere Gäste irgendwo zitieren wollt, bleibt fair: Achtet auf den Gesamtzusammenhang und denkt bitte immer an die Quellenangabe.
Im Zweifel gilt die schöne alte Regel: Lieber einmal mehr nachfragen.
Vielen Dank für eure Neugier und euer Verständnis!
Mirjam & Marco
…
Transkript:
Intro
Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)
Sprecher: Spektrakulär – Eltern erkunden Autismus.
Mirjam Rosentreter: (Moderatorin/Host): Hallo. Mein Name ist Mirjam Rosentreter. Ich bin Journalistin, Mutter eines Sohnes im Autismus Spektrum, und ich mach das hier nicht alleine: Bei mir ist Marco Tiede.
Marco Tiede: (Co-Moderator/Co-Host): Ja, Moin! Ich bin auch Vater eines Jungen im Spektrum, und ich arbeite Therapeut und auch als Berater.
Mirjam: Es gibt zu dieser Langversion unseres Podcasts auch eine kurze, den Kurzpod. Ein Manuskript zu dieser Folge findet ihr auf unserer Seite spektrakulaer.de.
Intro-Ende: Musik + Geräuscheffekt (Klapper)
Sprecherin: Heute mit Jennifer Fromm, Physiklaborantin, Tischlerin, Autistin mit ADHS
Mirjam: Herzlich willkommen, Jennifer. Hallo, Marco. Und hallo, ihr da draußen, die ihr uns zuhört.
Marco: Moin.
Jennifer: (leise) Hallo.
Mirjam: (leise) Hallo.
Jennifer: Falls jemand das kürzer mag, dann mag ich statt Jenny lieber Jenna – in den Niederlanden, werde ich so genannt, Jenna. Und: Juna. Also es ist einfach kürzer und klingt auch schön, finde ich.
Marco: Das klingt schön.
Jennifer: Bin auch im Juni geboren…
Marco: Mhm, Juna ist auch nicht weit weg von Luna, ne, vom Mond, und ja.
Jennifer: Und una, eins. Ich will jetzt mehr eins werden. Nicht mehr so verstreut und zerflossen.
Mirjam: Oh, ist das schön!
Ich habe dich das erste Mal live erlebt als Keynote-Speakerin, nennt man das, also als Eröffnungsreden-Halterin bei der Bundestagung, die im März hier in Bremen stattgefunden hat. Und wer unsere Podcast-Folgen rund um die Bundestagung kennt, da ist auch ein kleiner Ausschnitt daraus zu hören. Und auch unser kleines Gespräch, unser Interview in so einer Tür-Nische, wo die ganze Zeit Geschirrwagen vorbeigerollt wurden. Und die Diagnose hattest du zu dem Zeitpunkt erst seit wenigen Monaten. Was hat dich dazu gebracht, diesen Mut zu fassen, auf so ein Podium zu treten?
Jennifer: Also, in der Gruppe, wo ich bin, also von der Freundin, die mir auch geraten hat, endlich mal eine Diagnostik zu durchlaufen und eine Therapie zu machen – dafür bin ich ihr sehr dankbar – also mit denen habe ich schon ein bisschen rumgesponnen, dass das Thema einfach mehr Öffentlichkeit braucht. Also damit sich mehr fräuliche Personen auch wiederfinden können in so Rollenbildern und vielleicht eher den Mut aufbringen, mal eine Therapie oder eine Diagnostik zu durchlaufen, um dann endlich besser zu verstehen, was sie von anderen so stark unterscheidet und warum sie so mit ihrem Leben strugglen vielleicht. Also das ist ja schon eine ganz schön krasse, eine deutlich andere Wahrnehmung der Welt. Also Autisten sehen nun mal fast nur Details, während NTs, also neurotypische Menschen, eher abstrakt sehen, also so allgemein und auch verallgemeinern. Und dann hatten wir überlegt, vielleicht eine Grafiknovell oder ein Buch zu machen. Und aber eigentlich auch vielleicht so kurze Videos oder so, weil das ja nun mal mittlerweile schneller und eher ankommt übers Internet. Und dann bot sich die Gelegenheit über den Psychologen, bei dem ich die Diagnostik gemacht habe. Der schrieb mich an und fragte, ob ich das machen wollte. Also erst mit den Radiointerviews bei Radio Bremen und dann bekam ich halt die Anfrage für diesen Kongress. Und ich schreibe eh gern und dachte, ja, das kriege ich wohl hin und habe dann zugesagt.
Mirjam: Wir haben dich jetzt heute eingeladen, weil wir die Gelegenheit nutzen wollen, diese frischen Eindrücke von dir mitzubekommen. Ein Jahr, das wahrscheinlich für dich ja vollkommen…
Marco: (unterbricht) Du hast deinen Strumpf noch drauf.
Mirjam: Liebe Leute, ich nehme jetzt die Socke vom Mikrofon und fortan ist meine Stimme klarer. Vielen Dank, Marco. Ich habe hier so einen Staubschutz über dem Mikrofon. Also: Hallo Welt! Jetzt wieder den Faden finden…
Marco: Die frischen Eindrücke.
Mirjam: Die frischen Eindrücke so. Also, um dir aber so ein bisschen das zu erleichtern, da tiefer einzusteigen, würde ich gerne das eine aufgreifen, was du gerade gesagt hast, dass du Details wahrnimmst. Denn mir ist aufgefallen, als ich dich gerade unten begrüßt habe bei uns an der Tür – das Studio ist ganz oben bei uns im Hause Rosentreter unter dem Dach. Dann sind wir kurz in die Küche gegangen, da war Marco schon, hat gerade eine Kanne Tee gemacht und du hast dich überall umgesehen. Also du hast richtig den Raum gescannt, so habe ich es wahrgenommen. Was hast du da gemacht?
Jennifer: Ja, das stimmt. Also, ich gucke mir meist alles gleich genau an. Und als Kind galt ich halt eher als pingelig. Da war das eher so negativ konnotiert. Aber später habe ich gemerkt, wie schön das eigentlich ist, weil mir viele Dinge auffallen, die anderen einfach so entgehen und teils auch sehr wichtige Dinge.
Marco: Du hast ja letztlich auch Berufe gewählt, in der diese Genauigkeit sich sehr gut auszahlt, als Tischlerin und als Physiklaborantin, wo es dann ja auch auf klare, eindeutige Daten ankommt und möglichst gleiche Versuchsaufbaue und so weiter.
Jennifer: Oh ja.
Marco: Was heißt möglich? Sehr genaue Versuchsaufbaue.
Mirjam: Ja, über deine persönliche Expertise, die du beruflich schon gewonnen hast und jetzt auch noch mal in dem Jahr verändert und fokussiert hast, das haben wir gestern im kleinen Vorgespräch, hast du mir das erzählt, dass du ja inzwischen auch für eine Firma arbeitest, ein Unternehmen arbeitest, das sich um Inklusion auf dem Arbeitsmarkt kümmert. Da kannst du uns später gerne von erzählen.
Es muss ja für dich ein turbulentes Jahr gewesen sein, innerlich und äußerlich. Du hast die Diagnose sehr spät bekommen, mit 37 und 37 Jahre davor nicht gewusst, dass du Autistin bist, was das ja impliziert.
Jennifer: Also ich bin immer noch teils sehr wütend und traurig, also darüber, dass das so spät kam. Weil ich habe in meiner Grundschule wirklich viel miesen Scheiß durchlebt, also den hätte ich mir gern gespart. Da hätte ich gern schon mehr Verständnis auch von meinem Umfeld gehabt und Anerkennung meiner, also Andersartigkeit oder meiner besonderen Bedürfnisse, so.
Mirjam: An dem Tag, als du die Diagnose bekommen hast, der 29. September, 23, ist das richtig? Was hast du danach gemacht?
Jennifer: Danach bin ich direkt ans Meer gefahren, also weiter nach Cuxhaven mit dem Zug. Und also, ich hatte meine Regenjacke dabei, es fing an zu regnen. Und ich bin im Watt umhergerannt, gesprungen, gehüpft, gegangen und habe geschrien, gelacht, gesungen. Da kam so eine Gefühlsexplosion aus mir herausgeplatzt.
Marco: Also war das dann die große Erleichterung zu wissen, okay, ich bin in bester Gesellschaft mit vielen anderen Menschen im Spektrum, oder?
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Jennifer: Ja, vor allem so ein Durchbruch, also, ich hatte endlich so eine Aus- und Übersicht über, also, ich hatte während der Diagnostik schon so viel nochmal reflektiert und ja, dann hatte ich endlich eine Theorie, einen Ansatz zu dem, was ich sonst eher gefühlt habe und also so irgendwie durchgemacht habe, so.
Mirjam: Hattest du dadurch auch die Möglichkeit, besser zu verstehen, warum die anderen Menschen alle so anders sind?
Jennifer: Nee, also bei Autismus ist ja gerade auch das Ding, dass man sehr ich-bezogen ist. Also eher von sich aus geht die ganze Zeit, weil man sich nicht so gut in andere Menschen hineinversetzen kann. Vielleicht, also ich weiß nicht genau, warum das so ist, aber also ich komme selten dazu, überhaupt über andere Menschen mehr nachzudenken oder deren Verhalten. Ich komme da auch nicht weiter, weil ich ja schon diese ganze, also das ganze Verhalten und so nicht so richtig verstehe. Wie zum Beispiel bei Soaps. Da bin ich einfach nur total aufgeregt und denke mir, warum sprechen die nicht einfach klar miteinander? Die machen die Kommunikation so viel komplizierter, als sie eh schon ist. Und also das ist für mich so völlig unverständlich. Da komme ich einfach nicht mit. Also wofür diese ganzen Intrigen und dieses Ganze, ja, das ist mir einfach unverständlich.
Marco: Es gibt ja, ich weiß nicht, ob du das kennst, dieses Vier-Seiten-Modell von Schulz von Thun, der Kommunikation. Wo es dann neben der Sachebene, die ja eigentlich immer die Eindeutigste ist, dann auch noch diese Appell- und Selbstkundgabe gibt und die Beziehungsebene. Und das findet ja alles auf nonverbaler Ebene statt. Und da habe ich schon öfter auch Rückmeldungen von anderen Menschen im Spektrum bekommen, die dann gesagt haben: Sag mal, seid ihr noch ganz bei Trost? Wieso reicht euch nicht die Inhaltsebene? Ich weiß nicht, wie das für dich ist, ob da schon erste Erkenntnisse kommen oder erste Ideen von: Aha, das könnte so gemeint sein. Also wenn du jetzt mal abgesehen von den Soaps im Alltag bist und merkst, da verändert sich eine Stimmenfärbung von jemand oder ein Gesichtsausdruck.
Jennifer: Also, ich habe so einen Test gemacht, Gesichter erkennen. Das ging eigentlich ganz gut, also ich habe ganz gut abgeschnitten. Aber ich brauche sehr lange und ich mache das anscheinend, also nicht intuitiv, sondern für mich ist das sehr aufwendig.
Marco: Ja, das ist ja auch das, was ich auch in Fortbildungen immer wieder schildere, dass, was andere wie automatisch machen – sie gucken und erfassen sofort, da guckt jemand nachdenklich oder grimmig oder sonst was, und das bedarf keiner weiteren Anstrengung – während es eben für Menschen im Spektrum dann hoher kognitiver Aufwand ist. Weswegen ich das nochmal Aufteile in kognitive und affektive Empathie. Also das Thema hatten wir auch schon öfter, also dass dann klar ist, es mangelt nicht an affektiver Empathie im Sinne von Mitgefühl, sondern es ist eben schwierig, sich einen Reim daraus zu machen in diesem ganzen Gesamtkontext.
Jennifer: Ja, korrekt.
Mirjam: Du hast mir gesagt, dass in unserem Vorgespräch gestern, wenn du mit Gruppen zusammen bist, die sich anders verhalten als du, also dass du dich dann isoliert fühlst auf so eine ganz elementare Ebene. Kannst du das mal versuchen zu beschreiben? Denn wir leben ja nicht in einer Welt, wo überall Soaps sind, also die Menschen verhalten sich ja nicht die ganze Zeit intrigant und fies und ironisch. Also wodurch genau entsteht dann dieses Gefühl?
Jennifer: Also, ich bin ja aus Braunschweig hierhergezogen und seitdem fällt mir das sehr viel mehr auf. Diese Stadt ist mehr als doppelt so groß, also fast mehr als doppelt so viele Einwohner…
Mirjam: Bremen.
Jennifer: Bremen. Und, ähm, hier kommen mir die Leute schon deutlich verschlossener, abweisender und so, ja, nicht so interessiert vor. Und, ähm, zudem bin ich jetzt halt 38 und viele in meinem Alter haben Familien. Mhm. Ich falle aus immer mehr raus. Also, ich hab vor sechs Jahren aufgehört zu rauchen. Das ist grade in Bremen schwierig, da wird an vielen Orten so noch geraucht. Und dann hab ich auch aufgehört … Also, Alkohol trink ich so gut wie gar nicht mehr seit der Pandemie so. Und, ja, da fällt immer mehr weg und ich achte immer mehr darauf, was ich eigentlich wirklich brauche. Und ich, ähm, so mach nicht mehr so viel mit, nur um in Gesellschaft zu sein. Und jetzt … steh ich da ohne Kinder. Das ist für viele ein großer Anknüpfungspunkt. Also, die beschäftigen sich dann auch mit Menschen mit Kindern. Und … ich geh auch nicht so feiern mit so … Also, so bis morgens wach bleiben und so. Mir ist mein Schlaf sehr wichtig. Und Ja, dann stehe ich manchmal bei so Veranstaltungen und denke: Ja, die können das alles so ab, also mit der lauten Musik und so. Ich habe meine Geräuschfilter drin. Und ich habe gar nicht so eine Gruppe. Also ich erlebe gar nicht so, dass ich irgendwo zu Hochzeiten, Taufen, Einschulungen und so eingeladen werde. Das hat auch damit zu tun, in meiner Familie gibt es viele Einzelkinder und die haben teils auch einfach gar keine Kinder und da bin ich auch so ziemlich raus. Und ja, da fällt einfach ganz viel weg an Knüpfungspunkten. Und dann stehe ich manchmal so ganz alleine oder mit einer Person da und denke, irgendwie hätte ich auch gerne so eine Gruppe da, aber so Menschen wie ich, also gibt es eher selten. 5% haben ADHS, 1% haben Autismus und 0,5% haben beides. Also für Autisten bin ich teils zu hibbelig und für ADHSler zu lame (kichert). Also das ist sogar unter so wenigen dann schon schwierig auch.
Mirjam: Also nochmal eine Umdrehung mehr, die dich entfernt, sozusagen, ja. Und im unmittelbaren Erleben. Also ich weiß nicht, ob das möglich ist, aber jetzt, wie du uns wahrgenommen hast bislang, also wo du jetzt heute mit uns hier zusammen warst, gibt es da etwas, was dich irritiert? Wo du dann denkst, das würde ich ganz anders machen oder wo du, ja, ich frage mal nicht weiter, sonst…
Jennifer: Also jetzt so wüsste ich nicht. Ich glaube, jetzt ist auch mein Funktions- oder Selbstbehauptungs-Ich aktiv. Also dann funktioniere ich einfach, sozusagen. Da bin ich nicht so sehr in dem Rätseln, Grübeln und Zweifeln und Hinterfragen, sondern mache erst mal so meine Aufgabe und dann, ja.
Mirjam: Und ist dafür ein sicherer Rahmen wichtig, also dass du so die Umgebung kennst oder weißt, was von dir erwartet wird?
Jennifer: Also, es war schon sehr hilfreich, gestern noch mal zu telefonieren und so bestimmte Dinge durchzusprechen. Und ja, dann weiß ich ja, dass ihr euch auch schon ein bisschen mit dem Thema auskennt. Und dann habe ich schon so ein gewisses Vertrauen oder so eine gewisse Sicherheit, dass ich glaube, dass das halt so ganz glimpflich abläuft und so achtsam und rücksichtsvoll. Ja, genau.
Marco: Das wäre ja an sich der Wunsch an die gesamte Gesellschaft, dass dafür viel mehr Rücksichtnahme passiert. Und dann würde dieses Befremden vielleicht auch gar nicht so auftreten, weil man sich vielleicht dann doch mehr interessiert und nachfragt und sagt: Erzähl mal, du bist so speziell – zum Beispiel, oder wie auch immer man das dann ausdrückt – was interessiert dich denn so? Dass man einfach das so als gegeben hinnimmt, dass Menschen so sind, wie sie sind. Weil letztlich, das ist ja auch nichts Neues, ist ja sowieso jeder Mensch irgendwie anders. Also meine Hauptüberschrift, die ich auch habe, wenn ich in Schulklassen gehe und Schulaufklärungen mache über Autismus. Dass ich dann das nochmal hervorhebe. Und ich kann dann immer mit meinen anderthalb Ohren anfangen und sagen: Hier, ich bin auch anders. Und auch das hat ja zumindest vergangenheitlich häufiger zu Entfremdung geführt. Insofern, ich glaube, dass es zwar nicht wirklich vergleichbar ist, was du erlebst und was ich dann vielleicht als schwerhöriger Mensch erlebt habe, aber zumindest glaube ich, mich da ein Stück weit mit einfühlen zu können, dieses immer eher, also ich habe es für mich erlebt, eher in der Beobachterposition zu sein und nur die Hälfte zu verstehen von dem, was gesprochen wird. So, weil ich erst spät mir dann Hörgeräte anpassen lassen habe.
Jennifer: Ja, das scheint mir also ein guter Anknüpfungspunkt zu sein, weil also bei dir ist es dann akustisch und bei mir ist halt teils vom Verständnis her, dass ich manches nicht so verstehe oder. Und ja, man weiß nie, was mit irgendjemand ist. Also da ist diese Verallgemeinerung oder diese, naja, vielleicht schon teils Denkfaulheit von NTs ziemlich hinderlich, weil sie dann eben nicht so viele Details sehen oder von auch nicht so erwarten und dann einfach über einen drüberbügeln, statt einen richtig kennenzulernen, also erstmal zu erfragen und zu forschen und zu analysieren vielleicht, statt einfach so zu verallgemeinern und zu denken: Ja, du funktionierst so ähnlich wie ich und wir sind in einer Leistungsgesellschaft, also wollen wir eh so streben nach Optimierung und dass möglichst alles dem Ideal entspricht und so. Diese Tendenz ist eh eher schädlich und darunter leiden viele, also sehr viele.
Mirjam: Ich finde, du gehst da jetzt so selbstbewusst und reflektiert mit um. Also du siehst das, du kannst das benennen. Wenn du jetzt in die Grundschule nochmal zurückreisen könntest und mit dir damals als Grundschulkind sprechen könntest, was würdest du dir sagen?
Jennifer: Also, dass mein Kindheits-Ich sich dafür einsetzen soll, dass es zu einer Therapeutin kommt und eine Diagnostik durchmacht und dann auch, also um sich selbst zu stärken und besser abgrenzen zu können, also sowas wie psychische Selbstverteidigung. Körperliche hatte ich schon gelernt, also früh, das war meiner Ma irgendwie wichtig. Und ja, das würde ich meinem Kindheits-Ich sagen.
Mirjam: Du hast, als du auf einer Podiumsdiskussion warst mit dem Bremer Landesbehinderten-Beauftragten Arne Frankenstein, das war eine Kino-Vorführung des Films Die Wochenendrebellen, da hast du auch erzählt, wie sehr du in der Schule gehänselt wurdest, also dass die Kinder dich Klapsi oder so, wie haben sie dich genannt?
Jennifer: Ja, also hart gemobbt, ja. Ich hab den einen gefragt, was denn eine Klapsmühle sei, weil er irgendwie so was erwähnt hatte mir gegenüber. Und dann meinte er, dass ich da hingehöre. Und ab da haben mich einige meiner Mitschüler Klapsi genannt. Und irgendwann kam auch Pest dazu.
Mirjam: Oh Gott.
Jennifer: Und sie haben sich morgens im Bus geimpft, wenn ich reinkam. Und niemand wollte neben mir sitzen.
Mirjam: Also haben sie so getan, als würden sie sich eine Spritze in den…
Jennifer: Ja, mit dem Finger in den Arm, so. Also, das war richtig krass. Ich war auch auf einer Grundschule, die anscheinend sehr … teils noch sehr konservativ, und … Also, ich weiß nicht, da ging vieles ganz schön schief. Ich hatte im Sport auch meine beiden Handgelenke angebrochen, und ich musste mich dann umziehen noch. Mir wurde nicht so richtig geglaubt. Ich saß da und hab … Also, ich weiß nicht, ob ich geweint habe, weil mein Schmerz- und Temperaturempfinden ist wohl auch gestört. Ich weiß nicht, ob das von klein auf so war, oder ob das erst so kam. Weil … es ist nachgewiesen, dass NT … also neurotypische Menschen, neurodiversen Menschen auch weniger Empathie entgegenbringen. So, und … Ja. Ich war auch ein ganz schöner Wildfang und hab auch … war auch öfter mal irgendwie verletzt oder so, aber Ähm … Ja, ich weiß nicht, wie das dazu kam. Also, warum die Lehrer da … Warum da nichts passiert ist. Wie in dem Film, das fand ich so großartig. Er hat einfach so seinen Vortrag vor der Klasse gehalten und meinte … So, und wer jetzt noch fies zu mir ist, ist ein Arschloch. Weil ihr wisst ja jetzt, was los ist.
Marco: Ich glaube, das war der Mangel. Also wenn du jetzt 38 bist, dann ist die Schule jetzt gerade 20 Jahre her, mindestens, und die Grundschulzeit noch länger. Und da wurde ja noch weniger über Autismus gewusst. Jetzt weiß man ja zunehmend mehr und ich merke auf wie viele ratlose Gesichter ich manchmal immer noch schaue, wenn ich jetzt so in Fortbildungen im Schulkontext bin. Aber für manche ist es dann doch wieder diese Bequemlichkeit, die du eben beschrieben hast, dieses: Ja nee, das gab es ja noch nie! Und so, bis hin, dass man dann ja nur wieder so Mutmaßungen aufstellt, wahrscheinlich sind die Kinder nicht gut erzogen und so ein Blödsinn. Das kriegen wir Eltern ja auch öfter zu hören.
Mirjam: Ja, kommen wir mal zu deinem Umfeld, also was dich, was dich denn gestützt hat? Also dann, sonst würdest du heute wahrscheinlich nicht hier sitzen und hättest das alles so gut überstanden. Also so meine ich das, das klingt jetzt sehr krass, also.
Jennifer: Oh, ist es aber auch.
Mirjam: Istes auch.
Marco: Ist es. Klar.
Jennifer: Ja, wir sind schon auch Survivor.
Mirjam: Mhm.
Marco: Ja!
Jennifer: Wir haben das überlebt, diese ganze Garstigkeit und Brutalität und also, das ist schon krass. Also Isolierung und Ignoranz, das sind wirklich harte Themen.
Marco: Ja, absolut. Und ich glaube, das kann vielleicht auch mal Thema für eine andere Folge sein, also dass Suizidalität nun mal auch in der Gesellschaft stattfindet. Weil das ist ja eh immer so ein schwieriges Thema, was dann ja auch Sichtbarkeit braucht und gleichzeitig ist es klar, dass es auch bei vielen Leuten etwas auslösen kann.
Jennifer: Wenn man in den Abgrund schaut, droht man auch reinzufallen.
Marco: Absolut, ja.
Jennifer: Da gibt es ja auch Studien, dass gerade, wenn irgendwo ein Suizidfall war, dass dann die drumherum auch leichter suizidal werden dann. Also wie so ein Sog. Das wird ja oft auch nicht genannt, wenn irgendwas ist, dann ist das so Personenschaden bei der Bahn oder so. Naja, um das halt ein bisschen abzudeckeln, weil das nun mal ja auch eine krasse Sache ist. Und auch erhöht bei Autisten und so.
Mirjam: Also ich habe dazu auch mal eine Studie oder einen Artikel gelesen, dass es vor allen Dingen bei autistischen Frauen erhöht ist. Du hast damals bei dem Podium erzählt, dass sich irgendwann ein Mädchen getraut hat, dieses Thema Mobbing einfach anzusprechen und zwar mit der einfachen Frage: Warum macht ihr das?
Jennifer: Ja, warum geht ihr so mit ihr um, oder so hat sie sogar direkt, also, ja genau, sie hat sich dann für mich eingesetzt, also sie hat einfach das Hinterfragt, das Verhalten.
Mirjam: Und kannst du dich noch dran erinnern, ob die darauf was geantwortet haben, die Aggressoren sozusagen?
Jennifer: Das weiß ich nicht mehr. Es kann sein, dass manche tatsächlich dann auch noch so was gesagt haben, wie: Na, weil sie blöd ist! Oder irgendwie so, kann sein. Aber sie hat das nicht durchgehen lassen. Also sie hat sich einfach weiter dafür eingesetzt, dass der Umgang miteinander freundlich, respektvoll und fair wird.
Marco: Davon bräuchte es viel mehr Leute, die dann kurz mal Bescheid geben und innehalten.
Jennifer: Ja, gerade von denen, die halt auch schon angesehen sind in der Gruppe. Also die Angst, selbst dann Außenseiter zu werden, ist halt groß. Ich habe mich dann später auch in der Realschule für eine eingesetzt, die sehr gemobbt wurde. Und da hatte ich auch wieder große Angst, selbst ins Aus zu rutschen. Und das war mir aber… Also mir war wichtiger, dass es gerecht zugeht.
Mirjam: Und ist das dann passiert?
Jennifer: Ein bisschen, aber es haben sich auch andere zu mir gesellt. Das war neu, also da hatten wir dann so eine kleine Gruppe. Wir haben sie dann zusammen verteidigt und dafür uns eingesetzt, dass es gerechter wird.
Marco: So war das dann in der Realschule, so ein erster Moment, wo du dann vielleicht sogar einen kleinen Zusammenhalt spüren konntest zu anderen Menschen?
Jennifer: Ja, das hatte ich in der Orientierungsstufe schon, das war nur dann leider aufgelöst worden, weil wir dann auf verschiedene Schulen gingen, also auf Schule, Realschule und Gymnasium.
Marco: Das war alles noch in Braunschweig?
Mirjam: Wollte ich auch gerade fragen, wegen Orientierungsstufe, das gibt es nämlich in Bremen nicht.
Jennifer: Das war in Lengede, also ich bin ja in einem kleinen Ort groß geworden, der 800 Einwohner hatte. Und da fünf Kilometer weiter war Lengede, und da bin ich zur Realschule gegangen und zur Orientierungsstufe, die Grundschule war in Woltwiesche, in einem anderen kleinen Ort.
Marco: Ah ok, ja, und mutmaßlich, ich weiß nicht ob das ein Vorurteil ist, aber so in ländlichen Gebieten ist es ja dann nochmal schwieriger aus der sogenannten Norm zu fallen, weil da noch weniger, warum auch immer, hinterfragt wird.
Jennifer: Ja, das ist noch mehr so starr und steif, also da gibt es nicht so viele verschiedene Einflüsse oder sowas wie in der Stadt, da ist alles ein bisschen mehr träge, so.
Mirjam: Wie hast du denn die Erwachsenen um dich erlebt?
Jennifer: Also, mit Erwachsenen hatte ich eigentlich nur aus meiner Familie zu tun, oder vielleicht Freunde der Familie, die eher sehr wenig waren. Und, also, ja, da war…. Na ja, also, die waren auch nicht so emotional reif oder so. Also, die waren teils kindischer als ich. Und haben mich manchmal ausgelacht bei ernsten Themen, die mir wichtig waren. Oder, ja, also, da konnte ich auch nicht viel Verständnis oder Anerkennung erwarten. Meine Mum hat mich immer mal bestärkt, aber teils auch. Ja, das war alles ziemlich schwierig, so mit den Erwachsenen.
Mirjam: Also deine Mutter hat gesagt: Hier geh in den Selbstverteidigungskurs, mach Aikido oder so? Oder was hast du dann gelernt?
Jennifer: Ja, so Selbstverteidigung für Mädchen gab es irgendwie, ja genau. Und dann, ja, ich habe viel Sport gemacht, immer, das war sehr gut. Aber da war auch so eine Situation, wo ich mich verletzt hatte und nach Hause wollte und das war fünf Häuser weiter, und ich durfte nicht gehen. Ich weiß nicht, warum.
Mirjam: Du hast das ja gerade, als du das im Sportunterricht erwähnt hast, auch schon gesagt, dass die Erwachsenen da scheinbar nicht darauf reagiert haben. Kann das eventuell sein, dass du, wenn du so einen starken Schmerz hast und da so ein unsicheres Gefühl hast zum Thema Schmerz, dass dich das dann so sehr auf dich selber zurückwirft, sodass du dann so mit dir selbst beschäftigt bist, dass du nicht wie ein anderes Kind, das so nach außen getragen hast? Also andere Kinder schreien dann, weinen, dann kommt irgendwie die Freundin, legt den Arm drum, also wie man das aus Filmen fast kennt, wie oft sieht man, dass sich jemand verletzt und wie Betroffene dann alle reagieren. Und wenn du das nicht gemacht hast, wenn du nicht geschrien hast, um die Aufmerksamkeit der Außenwelt auf dich zu ziehen, sondern das mit dir alleine ausmachst, dass dann der schreckliche Schluss gezogen wird vom Umfeld: Die hat doch gar nichts! Da kann sie doch mal eben hier noch sitzen!
Jennifer: Ja, das kann sein. Also solche Momente sind bei mir wie ausgeblendet, also ich kann mich selbst auch dann kaum daran erinnern. Es kann sein, dass ich dann eher so wie starr bin, also so ein bisschen wie gelähmt oder so, so wie erstarrt und dann einfach nichts mehr von mir gebe.
Marco: Ja, ich habe mir gerade so vorgestellt, weil du ja vorhin auch gesagt hast, dass du ja auch sehr detailliert und faktisch orientiert bist, dass du möglicherweise einfach festgestellt hast: Ich bin verletzt, ich muss nach Hause. Und das für neurotypische Menschen, die ja oft auch eher wenig Empathie aufbringen, wie du ja schon angemerkt hast, dann nicht nachvollziehbar ist, dass du das so faktisch benennen kannst und dabei aber auch Schmerzen haben kannst. Weil alle anderen oder die meisten, so wie Mirjam das gerade dargestellt hat, dann eben noch so sich emotional äußern, wie auch immer, damit es dann beim anderen ankommt, der sonst nicht begreift, was los ist. Also du hast ja auch gesagt, dass dein Schmerzempfinden gestört ist. Das erinnert mich nochmal an die Schilderung von Axel Brauns. Ich weiß nicht, ob du sein Buch „Buntschatten und Fledermäuse“ kennst? Das ist ein autistischer Autor, der auch über sein Leben geschrieben hat. Und der hat seinen Fuß erst gespürt, als er gebrochen war und hat das dann benannt: „Ich habe Anwesenheit im Fuß.“ Also das ist ein großartiges Buch und mit einer sehr schönen eigenen Sprache, die er da für sich gefunden hat. Dann hast du vielleicht noch ein schönes Buch vor dir, wenn du es noch nicht kennst.
Jennifer: Ja, ich habe jetzt Birgit Saalfrank, „Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin“ durch, das finde ich großartig. Also da habe ich auch ein Muster erkannt, was viele fräuliche Autistinnen mir geschildert haben oder also bei mir selber auch so ist.
Mirjam: Darf ich mal ganz kurz fragen, bevor du auf das Muster kommst, du hast den Begriff vorhin schon mal benutzt: fräuliche.
Jennifer: Also, es gibt ja den Begriff weiblich, aber Weib ist so negativ konnotiert und er, also auch eher so, nicht so… Frau ist tatsächlich – also mit Etymologie beschäftige ich mich auch gerne, die Herkunft von Wörtern – das ist tatsächlich eine Haus- oder Grundbesitzerin gewesen oder auf jeden Fall im Ansehen so gut anerkannte Person. Und ich mag dann lieber fräulich, also mit Ä, fräulich.
Mirjam: Verstehe.
Jennifer: Ja. Genau.
Mirjam: Ich dachte nämlich vorhin, ich hätte mich verhört und das wäre ein bisschen vernuschelt freundlich. Ich habe kein D gehört, aber das ist ja, hast du noch mehr, also Moment mal, wir waren gerade bei der Struktur, wir waren vorhin schon bei der Sprache, also liebe Hörerinnen und Hörer, wahrscheinlich geht es euch ähnlich, dass es so viele Anknüpfungspunkte gibt bei dem, was du sagst, dass ich hier noch in die Richtung und in die Richtung fragen würde am liebsten. Vielleicht müssen wir dich dann nochmal einladen und über dein Sprachempfinden mit dir sprechen. Heute soll es ja eher um dein Erleben und was du in diesem Jahr über dich selber noch herausgefunden hast gehen.
Marco: Aber du weißt schon, dass es im neurodiversen Spektrum durchaus üblich ist sehr, sehr viele Assoziationsanknüpfungspunkte zu haben, dass die Assoziationsdichte um einiges höher ist als bei NTs?
Mirjam: Ich bin ja auch enge Begleiterin als Mutter. Und ich glaube, manche Synapsen in meinem Kopf haben sich schon anders verknüpft und gewisse Autobahnen sind vielleicht etwas flüssiger im Verkehr als bei anderen NTs. Aber du hast dieses Muster erwähnt, also weißt du, bei Birgit Saalfrank kam das, das sich durch dein Leben zieht und das dich mit vielen anderen fräulichen autistischen Menschen vereint. Was ist das für ein Muster, was ist damit gemeint?
Jennifer: Also einmal, dass in der Kindheit eher so einsam sein und dann in der Familie auch wenig Feedback oder wenig… hmm…
Marco: Resonanz?
Jennifer: Ja, so was. Und also tatsächlich ist da auch die, also was mit… hmm, das ist jetzt ein bisschen heikel, weil ich will ja auch nicht so… also meine Familie, die haben schon das gemacht, was sie konnten. Und also das, aber trotzdem war es halt für mich zu wenig, also was das Emotionale angeht und so. Da hatte ich zu wenig Möglichkeiten, manche Emotionen auch auszuleben, also gerade Wut, Traurigkeit und Angst. Mein Pa hat mir sehr geholfen bei dem Umgang mit Angst, also mir die Dinge genauer anzugucken. Mein Pa ist übrigens auch Musterautist, er hat keine Diagnose, aber seitdem ich mehr darüber weiß, ist es auch eine 70-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass es vom Vater vererbt wird.
Marco: Ja, die Frage hatte ich nämlich vorhin, ob du eigentlich jemanden in deiner Familie so im Blick hättest, von dem das vielleicht herkommen könnte. Da ja Autismus nun mal meistens vererbt wird…
Jennifer: Oh ja! (lacht)
Marco: Wenn es nicht klar sekundärer Autismus ist.
Mirjam: Und du meintest gestern beim Vorgespräch, dass von deiner Mutter der ADHS-Anteil kommt.
Jennifer: Auf jeden Fall. Sie hat ein sehr ausgeprägtes ADHS-Verhalten. Da hab ich auch viel abgecheckt.
Marco: Und wie hat er dir da in der Angst geholfen, also was hat er dich da gelehrt?
Jennifer: Analyse. Also, zum Beispiel, ich hatte Angst vor Blitz und Donner, und dann hat er sich mit mir ans Fenster gesetzt und mir erklärt, was da eigentlich passiert. Also halt wissenschaftlich so. Er hat ein großes naturwissenschaftliches Verständnis und auch ein großes Allgemeinwissen über Politik, Geschichte und so weiter. Wir haben immer mal Trivial Pursuit gespielt, dieses Frage-Antwort-Spiel. Und mein Onkel auch, also sein Bruder. Wir sind so ein Trio. Wir verstehen uns ohne Worte. Also das ist so ein Wohlgefühl und so großartig, mit den beiden unterwegs zu sein. Und dann bei Spinnen zum Beispiel, da hat er mir auch alles ganz genau erklärt, wie die so aufgebaut sind und was die so machen in ihrem Leben. Genau, so als Mitbewohner halt. Nicht als komisches anderes Wesen, sondern das ist auch einfach ein Lebewesen, so wie ich.
Marco: Ja, ich habe neulich schon etwas Erstaunen geerntet, als ich meinem Besuch erklärte, dass ich den Spinnen, die bei mir wohnen, Namen gebe.
Jennifer: Das habe ich auch als Kind! (Marco lacht) Merlin und Emma und… Ja, und dann so Bälle beim Sport, das war schrecklich. Da habe ich die Arme vom Gesicht verschränkt und mich weggeduckt. Und dann sagte er mir:
„Man muss immer dem Feind ins Auge gucken.“ (lacht) Das war halt ein bisschen… Aber dann habe ich gelernt, also er hat mit mir geübt, die Bälle zu fangen, also im Auge zu behalten. Und von da an konnte ich dann besser mitspielen und mit den Bällen umgehen. Und genauso auch mit anderen Ängsten. (leise zu sich) Irgendwas war noch. Ach ja, genau, wenn ich aus dem Ort rausgegangen bin, also da gab es keine Fußwege, keine Radwege, nichts, dann immer den Autos entgegen gehen damit, also immer dem Feind ins Auge gucken.
Marco: Ja, damit man sich einander ausweichen kann auch so, ja ja. Aber es ist ein guter, ein schöner Ansatz. So ähnlich hatte ich das auch mal mit einem meiner Klienten, der einfach auch eine große Angst vor Wespen hat – die ist ja auch durchaus verbreitet – und ihm auch gesagt: Wenn du die Wespen beobachtest, dann hast du mehr Kontrolle darüber, wohin du gehen kannst, als wenn du einfach nur wegrennst oder du so wild um dich schlägst. Weil dann wird die Wespe immer unkontrollierbarer, unvorhersehbarer in ihren Flugbewegungen. Und so kannst du sie mal sehen, wo sie hinfliegt.
Gleichzeitig denke ich immer: Okay, das ist schön, dass das bei dir so gut lief. Es gibt ja einige, bei denen ist das dann nicht nur über die Ratio zu lösen, dass man dann analysiert und sagt: So, das ist so und so, Spinnen machen dies und Blitz und Donner sind normale physikalische Vorgänge im Wettergeschehen. Dass dann ja doch, hirnphysiologisch, doch einiges noch dazu passiert bei der Angst, wenn dann die Amygdala ständig Alarm schlägt. Und man das gar nicht mehr so abstellen kann, obwohl die Ratio sagt: Alles nicht gefährlich.
Jennifer: Ja, bei Menschen habe ich so meine Probleme, das ist sehr schwierig. Also da bin ich oft sehr angespannt, also wenn ich unter Leute gehe, weil die halt so für mich schwer berechenbar sich verhalten oder äußern. Und also ja.
Marco: Ja, das kann ich auch gut nachvollziehen, das habe ich mit betrunkenen Menschenmassen. Ich meine, das ist, glaube ich, jetzt auch nicht ungewöhnlich, dass die nicht berechenbar sind, oder dass Leute da ein mulmiges Gefühl haben. Aber wenn man dann schon mal zusammengeschlagen wurde von irgendwelchen Nazis, dann kriegt man da auch schon mal noch mal zusätzlich Unbehaglichkeiten bei schreienden Menschenmassen, die möglicherweise betrunken sind.
Jennifer: Ja, und sie sind teils einfach plötzlich sauer, aus einem Grund, den ich nicht verstehe. Wie als ich mal erzählt habe, dass ich gerade lohnarbeitsfrei bin, also arbeitssuchend.
Da habe ich so erzählt, was ich gerade gut an der Zeit finde, also dass ich mir jetzt meine Zeit selber einteilen kann und mich so ausprobieren kann. Und irgendwann fing mein Gegenüber an zu sagen: „So Menschen wie du kotzen mich an!“ Oder er hat dann, als ich in den Bus steigen wollte, auch fast noch eine Flasche nach mir geworfen. Das haben die anderen zum Glück verhindert.
Marco: Krass.
Mirjam: Das heißt, du hast mit Freundinnen oder Freunden darüber gesprochen und dieser Typ hat nur zugehört?
Jennifer: Da war ich einzeln, also alleine an einer Bushaltestelle. Und er war mit einer kleinen Gruppe da, und er war Maler und Lackierer und hatte den Betrieb seines Vaters schon übernommen, mit um die 20, und war anscheinend sehr geschäftig und war irgendwie persönlich davon angegriffen, dass ich gesagt habe, dass ich mich gerade erstmal so wohlfühle, also in meinem lohnarbeitsfreien Dasein.
Mirjam: Also ihr seid irgendwie vorher miteinander ins Gespräch gekommen?
Jennifer: Ja.
Mirjam: Weil sich das gerade so anhörte, als hätte er zugehört und dann auf einmal so einen beiläufigen fiesen Kommentar gemacht.
Jennifer: Ja genau, das war so, ich weiß gar nicht mehr, wie wir ins Gespräch gekommen sind. Ja.
Mirjam: Dieses abwertende Verhalten von anderen Menschen, also immer gleich zu bewerten, das ist ja auch so ein bisschen das Gegenteil von Analyse, oder?
Jennifer: Ja, das ist sehr hinderlich für eine Analyse, weil man ja sofort in eine bestimmte Richtung geht oder sich auf etwas einschießt und dann blind wird für das Drumherum so.
Mirjam: Und auch blind wird dafür, einen anderen Menschen besser kennenzulernen, also neugierig auf den Anderen zuzugehen.
Marco: Jemand, der sich dann festlegt auf ein bestimmtes Urteil, auf eine Interpretation, der hört dann ja nicht mehr zu, der will dann ja nicht verstehen. Das ist ja das Dilemma dabei. Das kann ich mir gut vorstellen, dass sich für dich dann auch unbehaglich, wenn nicht gar bedrohlich anfühlt, wenn die Leute plötzlich so in ihren Stimmungen kippen. Nun war es natürlich auch noch jemand, den du gar nicht kanntest, also der so gar nicht einschätzbar war, aber offensichtlich zumindest erst mal einladend wirkte für ein Gespräch, weil ihr ja ins Gespräch gekommen seid. Und plötzlich kippt das so, weil er da vielleicht andere Schlüsse gezogen hat, als du erwartet hast.
Mirjam: Du hast diese Zeit – das hätte der Typ erfahren können, wenn ihr einfach im Gespräch geblieben wärt und es nicht in eine Konfrontation gegangen wäre – du hast die Zeit der Arbeitslosigkeit für dich genutzt, um dich neu zu sortieren. Und du hast aber auch eine interessante Arbeit für dich gefunden, die du gerade machst, für diese Firma, die Inklusion am Arbeitsmarkt fördert und Menschen berät und in Arbeit bringt. Was machst du da?
Jennifer: Also vor allem werden Firmen sensibilisiert für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung. Das heißt, das ist tatsächlich ein Coaching, also ein Angebot, ja eine Dienstleistung an Firmen. Ich meine die Firmen fragen an und es werden auch Firmen angefragt. Also mein Job als Mentorin ist jetzt erstmal, eine Bewerbungssimulation mit Firmen zu machen, über Zoom oder so. Und ich tue dann so, als wenn ich mich da bewerbe und sie üben diskret, aber auch rücksichtsvoll und so mit mir umzugehen.
Marco: Also das ist das, was du jetzt bei Inklupreneur machst?
Jennifer: Ja. Das ganze Projekt heißt Hilfswerft und das gibt es schon seit Jahrzehnten in mehreren Städten und ein Teil davon ist dieses Inklupreneur. Und die wachsen auch und suchen auch noch Leute. Also Voraussetzung ist halt, dass man eine Behinderung hat und dann dafür sensibilisiert.
Mirjam: Hast du das schon jetzt gemacht, so eins mal, so eine simulierte Bewerbung?
Jennifer: Ja, ich habe zwei Hospitierungen gemacht und einmal zugehört mit Kamera und Mikrofon aus. Und jetzt letztens war mein erster Arbeitseinsatz. Ich habe mir Werder Bremen ausgesucht und das war auch echt gut gelaufen. Also ich war auch mega angespannt. Aber es ist so glimpflich abgelaufen, und ich war ganz zufrieden.
Marco: Ja, es ist interessant, dass das Coaching darin besteht, den Firmen die Augen zu öffnen, wie ein Mensch rücksichtsvoll spricht. Das erinnert mich an das Gespräch mit Fabian, der ja auch mal erzählt hatte, dass er da – das ist der Lehrer, der hier mal bei uns zum Gespräch war – der hatte auch gesagt, er wurde von dem Lehrer sehr, oder von seinem Kollegen, der ihn dann einstellen wollte, sehr behutsam gefragt. Weil er sein GDB angegeben hatte, den Grad der Behinderung, genau. Und er hat nicht gesagt: Was haben Sie denn da, was ist denn das? Sondern er hat gefragt, gibt es denn was, wie wir Ihnen da entgegenkommen können, damit Sie gut zurechtkommen. Und dann hat er in dem Moment auch seinen Autismus offenbart und gesagt: Ja, ich bin im Spektrum und habe so diese und jene Besonderheit und brauche vielleicht hier und da mal einen Rückzug. Ich weiß nicht mehr genau, was er gesagt hat, in der Lehrerschaft, reizarmes Umfeld wahrscheinlich – ja, was natürlich in der Schule ein bisschen schwierig ist – aber in der Lehrerschaft ist es auf sehr großes Interesse gestoßen. Weil sie natürlich auch Expertise suchten dadurch, dass ja auch viele SchülerInnen inzwischen ja auch im Spektrum unterwegs sind und die Lehrer da ja leider immer noch zum großen Teil ratlos gegenüberstehen. Und wenn sie dann jemanden in ihrer Mitte haben, der ihnen dann ein bisschen Orientierung geben kann, kann das ja nur gut sein.
Jennifer: Also das ist auch, was brauche ich am Arbeitsplatz? Darum geht es dann auch. Und auch in der Schule kann man viel dafür tun, dass es angenehmer ist für alle. Also diese Geräuschfilter, da haben mich auch schon manche, die im Sozialbereich tätig sind, also Bekannte, danach gefragt. Ich habe als Tischlerin auch Gehörschutz gehabt. Warum haben eigentlich Personen in Kita und Schule keinen Gehörschutz? Also so Geräuschfilter oder so, das ist ja teils auch mega laut.
Marco: Inzwischen hat sich das aber auch schon rumgesprochen, dass das sinnvoll ist. Also ich weiß zumindest bei unserem Arbeitgeber hier, dem Martinsclub, ich habe da ja auch lange in der Schulbegleitung gearbeitet, da werden auch Geräusch-Gehörschütze ausgegeben. Also die etwas besseren angepassten Geräusch-Schütze. Wie heißen die? Schützer?
Jennifer: Gehörschützer.
Marco: Gehörschützer. Ich versuche das mal so auszudrücken, dass klar ist, das sind Teile, die ins Ohr kommen und nicht diese aufgesetzten Baustellen-Gehörschutzteile, die viele dann komischerweise Mickey-Mäuse nennen. Ich weiß nicht, warum Leute da eine Ähnlichkeit zu Mickey-Maus sehen. Ich sehe da keine Ähnlichkeit.
Mirjam: Nochmal kurz zurück zu dem Bewerbungsgespräch. Hast du dabei deinen Autismus transparent gemacht?
Jennifer: Ja.
Mirjam: Wie hast du es gemacht?
Jennifer: Ich habe nach einer kurzen Weile eigentlich – also damit fahre ich ganz gut. Das mache ich auch schon etwas länger so, in der Gruppe habe ich gelernt, also diese Messengergruppe, die ich mit einer Freundin habe und auch Betroffenen, also Neurodiversen, dass wir direkt sagen, was bei uns besonders ist. Wie zum Beispiel, das musste ich ja auch erstmal lernen, was anders ist, nämlich gar nicht so einfach, wenn man die ganze Zeit so mit in sich gekapselt ist, irgendwie dann zu lernen, was ist eigentlich bei mir anders? Weil ich kenne ja nicht die Wahrnehmung von jemand anders. Und da habe ich dann gelernt, einfach direkt zu sagen: Ich gucke die ganze Zeit so durch die Gegend, aber ich höre dir zu! Weil manche versuchen dann, meinen Blick einzufangen und bewegen sich dann so mit ihren Augen. Und dann, ja genau, sowas, also so Besonderheiten, die direkt eigentlich auffällig sind… Und jetzt bin ich zu weit rausgerudert.
Mirjam: In der Situation mit dem simulierten Bewerbungsgespräch, als du da gesagt hast, ich bewerbe mich, ich bin Autistin, wie du das da gemacht hast und vor allen Dingen, wie sie reagiert haben dann auf der anderen Seite.
Jennifer: Ja, da habe ich dann, ich glaube, bei dem Gespräch, was ich am Arbeitsplatz brauche oder so, da meinte ich dann, ja, so ein reizarmes Umfeld, also so nicht so grelle Lampen und so. Da meinte ich dann, dass ich Autistin bin mit ADHS und dann halt so sensibler bin und die, also so Geräusche und Gerüche und alles teils sehr viel stärker wahrnehme.
Marco: Und wie hat man darauf reagiert?
Jennifer: Sie waren interessiert und haben dann ein bisschen weiter gefragt, was sie von ihrer Seite tun könnten. Dann meinte ich zum Beispiel, Kopfhörer mit Noise Cancelling oder so und genau sowas.
Mirjam: Du bist ja jetzt auch, hast du mir erzählt, gerade auf der Suche und möchtest gerne wieder in die Naturwissenschaft arbeiten, also in deiner einen Qualifikation als Physiklaborantin. Hast du eigentlich zwei Ausbildungen abgeschlossen, also ausgebildete, abgeschlossene Berufsausbildung Tischlerin und das andere, Physiklaborantin?
Jennifer: Ja genau, ich bin erst Physiklaborantin geworden. Und mit 19 dachte ich dann, der Arbeitsalltag wäre tatsächlich doch viel vorm Computer gewesen und acht Stunden am Tag in so einem künstlich klimatisierten beleuchteten Raum, das konnte ich mir da noch gar nicht vorstellen. Ich bin so gern draußen in der Natur und dachte ich hätte dann halt so ein bisschen zu forschen, aber würde auch genug Tageslicht sehen oder so. Ich wusste nicht, dass das so streng geteilt ist und dann doch so viel am Computer. Und dann habe ich erst mal Restaurierungen gemacht, und dann ein halbes Jahr so auf Burgen und Schlössern und halt so ein bisschen. Und dann dachte ich, ich mag voll gern Holz. Also ich guck mal, ich mag gern alte Sachen und Holz und habe dann bei der Tischlerei in Braunschweig gefragt, ob ich da ein Praktikum machen kann und dann konnte ich direkt…
Mirjam: Da hat sich gerade mein Handy gemeldet mit einer Kalendererinnerung. Flugmodus allein reicht nicht, Entschuldigung.
Marco: Ja, Stummstellen hilft noch. Willst du es eben ausmachen? Wo ist es denn überhaupt?
Mirjam: Achso, hier unter der Socke, die am Anfang auf dem Mikrofon lag! Entschuldigung. Moment.
Jennifer: Kein Ding.
Mirjam: So, es ist jetzt aus. Wenn du nicht den Faden verloren hast, setz gerne wieder an.
Jennifer: Ich habe ihn noch fest in der Hand! Und also, ich weiß nicht, woher das kommt, aber da hat mir wieder geholfen, dass ich so einfach so Leute anquatsche. Also das ist wohl dieses impulsive Verhalten vielleicht von dem ADHS. Da bin ich einfach in die eine Tischlerei reingeplatzt und habe gefragt, ob ich da ein Praktikum machen kann. Und er war ein bisschen baff, aber meinte: Ja, warum nicht? Dann war ich da drin. Dann konnte ich auf einmal auch da jobben, als das Praktikum vorbei war. Habe also schon gut Geld gekriegt. Und dann, einen Tag bevor meine Berufsschule anfing – ich habe mich kaum getraut, noch mal nachzufragen – hat der Inhaber der Tischlerei gesagt: Okay, du kannst hier deine Ausbildung machen.
Marco: Cool.
Jennifer: Da war ich ganz schön erstaunt. Er war auch ein bisschen, also er hat noch nie jemand ausgebildet. Er war selber erst Anfang 30 und hatte eine ganz kleine Werkstatt, ist also ein großes Risiko eingegangen. Und ich durfte dann die Ausbildung machen. Ich hatte ein Jahr verkürzt, also zwei Jahre bloß, weil ich schon eine Ausbildung hatte. Ich habe dann nebenbei die Grundsachen einfach gelernt.
Und dann, ja, dann hatte ich meinen Burnout.
Marco: Durch die Ausbildung?
Jennifer: Also, ich hatte einfach zu sehr funktionieren wollen, oder… in allen Bereichen voll übertrieben. Also, ich habe ja meine Rolle gespielt, also Birgit Saalfrank beschreibt das ganz schön als Funktions-Ich. Das fühlt dann auch noch weniger. Also, ich habe dann fast wie so ein Roboter funktioniert. Ich habe zehn Stunden am Tag gearbeitet, weil, also manchmal auch ein paar Stunden samstags, falls mal Flaute ist, das ist am Jahresanfang oft im Handwerk. Dann habe ich nebenbei eine Wohnung saniert. Da haben wir die Tapeten abgerissen. Dann ist der Putz mit abgefallen. Dann haben wir einfach gleich Lehmwände gemacht. Und dann war immer noch mehr, noch mehr aufgetaucht, was gemacht werden musste. Und wir haben ein paar Monate auf einer Baustelle gelebt. Wir hatten dann die Monate kostenfrei, aber ja, dann war das so ausgeufert. Dann kam ich mit dem Sozialen auch kaum noch hinterher.
Und dann beim Feiern gehen, also ich hatte da auch gekifft und Alkohol getrunken, also fast täglich also so mein Bier. Und ja, das war alles viel zu viel und mit Schlafmangel. Und dann die Abschlussprüfung, da hatte ich dann auch einen Streit mit dem Inhaber. Er meinte, das schaffe ich eh nicht. Da gab es auch keine Furnierpresse in dem Betrieb, wo ich war. Da musste ich dann ein Auto organisieren. Da hatte ich zum Glück einen Kumpel, der war Student und er konnte sich das Auto seiner Eltern borgen, und wir konnten noch mal Furnieren fahren. Ich hatte das erste Mal auch verhauen. Ich hatte erst einmal furniert. Und ein anderer Geselle hat mir so ganz stolz in der Klasse erzählt: Ja, für mich hat der ältere Geselle furniert. Und ich dachte so: Ja toll, ich musste alles selber machen und auch noch mit Hürden und Hindernissen.
Marco: Und die Furnierpresse war nötig für die Prüfung?
Jennifer: Genau, also man muss furnieren und dann Schwalbenschwanzverzinkungen machen per Hand und dann so ein Schloss einbauen und so. Da gibt es bestimmte Vorgaben, die müssen sein, so.
Marco: Ja, ich bin gerade ganz interessiert, weil Tischlerei auch so ein heimlicher Traumberuf ist von mir, den ich leider nie ergriffen habe. Ich war dann zwar auch im Bau, als Bauzeichner und so weiter. Aber dadurch, dass ich nie ins Handwerk gehe, bin ich dann nur zu Hause gekommen, wenn ich mir dann so kleine Schubladen selber zurecht zimmere, wollte ich gerade sagen, tischlere.
Jennifer: Ja, das ist, also viele reagieren sehr positiv, wenn ich das sage und sagen so: Oh, das würde ich auch machen. Oder also, so der Beruf an sich ist wunderschön. Ich hatte auch eine sehr romantische Vorstellung, wie ich dann festgestellt habe. Also viele arbeiten mittlerweile dann mit Plastikfenstern und plastikbeschichteten Spanplatten für so Arztpraxen, extra angepasste Schränke und so. Das heißt, mit Vollholz haben wirklich nur noch sehr Wenige zu tun, weil, naja, dann viele sich auch eher irgendwas von IKEA billig kaufen für den nächsten Umzug, statt sich so einen schönen alten Vollholzschrank machen zu lassen für ein paar hundert Euro.
Marco: Naja, ich glaube, das ist dann nämlich die Schattenseite von diesen Vorstellungen über Berufe. Ich bin damals auch Bauzeichner geworden, weil ich beabsichtigt hatte, noch Architektur zu studieren, mit der romantischen Vorstellung, so wie Hundertwasser und Gaudí, schöne organische Bauten zu errichten. Aber die Arbeit als Bauzeichner hat dann doch nochmal ganz andere Seiten davon aufgetan. Das war dann so, joa, das ist hart verdientes Brot und immer an Kostenminimierung gebunden. Und dann kannst du ja nicht mehr kreativ arbeiten.
Jennifer: Da kommt dann Kapitalismus, Wirtschaft und so zum Tragen und Konkurrenz und so, ja, das ist wohl viel härter geworden als früher.
Marco: Ja, aber du hast es dann für dich durchgezogen, hast die Prüfung fertig gehabt und hast du dann noch danach in der Branche gearbeitet als Tischlerin?
Jennifer: Ja, tatsächlich habe ich dann einfach gleich auch weitergemacht. Aber ich habe gemerkt, dass es eigentlich kaum geht. Also, ich hatte ja dann einen kompletten Zusammenbruch. Ich habe alles verloren, was ich hatte. Also, meine Beziehung ist in die Brüche gegangen. Ich hatte so Ausraster und Zusammenbrüche. Ich habe in mein eigenes Spiegelbild geboxt. Also, ich hatte dann wirklich zwischen Zusammenbrechen und Ausrasten eigentlich kaum noch was von mir über. Und dann bin ich auch aus dieser schönen großen Wohnung, die wir uns so aufgebaut haben, mussten wir ausziehen beide, weil, also, das war nicht… das war so u-förmig, alles Durchgangszimmer fast, bis auf eins oder zwei. Und dann bin ich ja umgezogen in eine WG, hab mich deutlich verkleinert, also war wieder so auf vielleicht fünfzehn Quadratmeter und hab alles Mögliche erst mal an Freunde verschenkt und so. Und dann konnte ich mich in dem, also das war früher mal besetzt und jetzt ist es so eine Art Kulturzentrum, da konnte ich mich dann wieder einigermaßen aufrappeln und aufbauen. Da habe ich dann Leute gefunden, die wirklich großartig waren, also mit denen ich dann vieles noch mal reflektieren und hinterfragen konnte und ja, mich, mein Selbst wieder mehr aufbauen.
Mirjam: Das war dann in den Jahren unmittelbar vor der Diagnose, also du hast ja erst die ADHS-Diagnose bekommen und dann ein halbes Jahr später die Autismus-Diagnose, was jetzt dann wiederum ungefähr zwei Jahre her ist, nee anderthalb Jahre.
Jennifer: Das war mit Anfang 20, Mitte 20.
Mirjam: Das heißt, du hast beide Ausbildungen ganz direkt nach der Schule alles durchgezogen? Das erklärt auch, warum das so viel war.
Jennifer:
Ja, genau.
Mirjam: Ich dachte, wir würden jetzt schon langsam bei dir mit Anfang 30 sein.
Jennifer: Ich habe ganz viel hart durchgezogen, ohne Rücksicht auf Verluste bei mir selber.
Marco: Ich kann mir vorstellen, dass das dann diese zuweilen anstrengende Mischung ist von Autismus und ADHS. Dass dann ja eigentlich, sag ich mal, der autistische Anteil doch eher mal auf Rückzug wäre und zu gucken, die Reize zu filtern und außen vor zu lassen, während dann doch das ADHS-Ich oder der ADHS-Anteil, ich glaube, das sind auch Persönlichkeitsanteile, aber der ADHS-Anteil dann immer nach den nächsten Eindrücken sucht. Und du hast das ja auch so ein bisschen geschildert, dass du dann eigentlich überall zu Gange warst, ne?
Jennifer: Ja, zu viel auf einmal anfangen, so Baustellen aufmachen und dann, ja…
Marco: Zumal ja auch die Wahrnehmung gerade auch im ADHS-Spektrum, ja ähnlich gelagert ist, dass die Filter dann auch nicht so ganz so vorhanden sind, dass man noch was viel ausgrenzen könnte und man am Ende des Tages ja auch oft sehr erschöpft ist.
Jennifer: Ja, da hatte ich meine eigenen Horrorfilme gesehen, also selbst produziert, so wie vor dem inneren Auge. Also ich denke ja auch fast nur in Bildern. Also NTs, wie ich erfahren habe, denken eher in Wörtern. Und ich habe dann versucht einzuschlafen, die Augen zugemacht. Und dann kam direkt – also ich war auch noch nicht müde, das war nicht so Halbschlaf, sondern wirklich noch wach – so entstellte Wesen, Menschen, wie in so Horrorfilmen oder so. Und dann habe ich die Augen aufgemacht und habe die sogar im dunklen Raum noch gesehen, also in meiner Vorstellung. Das war wirklich schlimm. Also ich hatte richtig schlimme Schlafstörungen und konnte dann deswegen auch teils gar nicht einschlafen. Wenn ich Licht angemacht habe, dann ging es. Und damit war ich auch so mega einsam. Also ich wusste auch nicht, an wen ich mich wenden soll. Und ich habe mich dafür auch so geschämt, weil ich mich als Versagerin gefühlt habe, dass ich das nicht aushalte. Ich habe halt meine Ausbildung fertig gemacht und ja, war einfach, habe mich einfach gefühlt, als wenn ich total versage, so.
Mirjam: Und die Gruppe, die du dann gefunden hast, was du gerade meintest, aus dieser Kulturszene, Kulturraum, was hattest du gesagt?
Jennifer: Ja, so ein Kulturzentrum.
Mirjam: Kulturzentrum. Haben dann diese Menschen dir da rausgeholfen oder hattest du damals auch schon therapeutische Hilfe?
Jennifer: Ich habe vereinzelt was gesucht. Aber andererseits stand ich mir da selbst im Weg. Weil ich leider auch so geprägt bin, dass ich möglichst alles alleine schaffen muss, dass sowas wie Hilfesuchen eigentlich Schwäche ist. Dabei ist das eine Stärke, das weiß ich jetzt erst, so nach und nach. Aber da habe ich sehr mit gehadert und habe immer, wenn es mir wieder ein bisschen besser ging, gedacht: Ach ich brauche es gar nicht und dann war es das wieder.
Mirjam: Du lebst ja jetzt mittlerweile wieder in einer Beziehung. Wie unterstützt dich denn dein Partner dabei, rauszugehen aus dir und dir Hilfe zu holen, wenn du sie brauchst?
Jennifer: Also er ist da selber nicht so gut drin (kichert). Aber irgendwie scheinen wir uns trotzdem so ganz gut zu potenzieren, also in guten Dingen vor allem, also guten Bereichen. Er hat ein ziemlich gutes soziales Umfeld gehabt als er aufgewachsen ist, da kann er immer noch von zehren oder so. Und sein Umgang ist halt schon intuitiv oder so schon sehr gut. Er lernt fleißig mit, also fragt auch immer mal oder bemerkt auch selber sehr viel. Mittlerweile brauche ich auch gar nicht so viel erklären oder irgendwas, sondern er ist ein sehr guter Autodidakt.
Mirjam: Im Hinblick auf Autismus und ADHS?
Jennifer: In allem Möglichen. Also wenn ihm was interessiert, er spielt auch Gitarre, er kann einfach so, ich kann ihm irgendwas vorsummen oder irgendein Lied nennen und er kann das spielen. Oder also, er ist so sehr, ja, kann sehr viel einfach so, scheint ihm leicht zu fallen, so Dinge zu lernen teils so.
Mirjam: Was hättest du für einen Rat an Eltern? Weil du gerade meintest, er ist in einem guten Umfeld aufgewachsen, das bezieht sich ja nicht nur auf die Eltern, sondern wahrscheinlich auch auf die Kindheit in Kindergarten, Schule und so weiter. Aber was wäre dein Rat an die engen Umfelder von autistischen Kindern? Was können sie machen, um da so ein sicherer Hafen zu sein, den dein Freund, der ja gar keine Diagnose vermutlich hat, aber den er hatte, diesen sicheren Hafen. Wie jetzt dieses Bild hineingekommen ist? Bist du da jetzt gedanklich in einem Hafen, wenn ich so mit so einem Bild spreche?
Jennifer: (lacht)Ja! Ich mag Häfen, so ein Schiffhupen (lacht). Nein, und dann, ja, also das ist sehr schwierig. Also das hat auch mit Strukturierung von Wohnraum und Mieten zu tun, also Kosten. Und wir sind gar nicht so weit voneinander entfernt aufgewachsen, aber unsere Schulen waren so dermaßen unterschiedlich. Also ja, es ist sehr schwer zu sagen: Ja, zieht irgendwo hin, wo es so, also vielleicht ein bisschen teurer ist, weil da jetzt die Schulen vielleicht auch besser sind. Das mit der Gentrifizierung, manche können sich das einfach nicht leisten. Und tatsächlich hängt immer noch viel vom Einkommen ab, also was man sich so leisten kann an kultureller Teilhabe, an Wissen, also so Informationen, wichtige Informationen, ja, das ist ziemlich schwierig.
Marco: Was können Eltern dann in dem Moment tun? Also auch hier in der Stadt haben wir zum Teil auch Umfelder, weil sich nicht alle aussuchen können, ob sie in einer Neustadt oder in Gröpelingen oder in Tenever wohnen. Und überall wird man auf verständnisvolles Umfeld, aber auch auf weniger verständnisvolles Umfeld treffen.
Jennifer: Also sich zu vernetzen und so und auszutauschen, ist ja schon mal gut. Das geht ja über das Internet jetzt zum Glück auch leichter, auch bei sowas. Das ist ja schon mal sehr hilfreich, sich dann zu informieren und zu gucken. Ich meine, in meinem 800-Einwohner-Dorf, da hätte es auch nicht irgendwo so eine Autismus-Gruppe gegeben oder so. Oder auch in weiterer Entfernung, 5 Kilometer entfernt, der 5000-Einwohner-Ort. Also da wäre es dann gut, sich über das Internet was zu suchen. Da gibt es ja auch Online-Treffen oder so.
Mirjam: Marco und ich, wir moderieren ja für den Martins-Club Bremen auch einen Elternkreis. Und das machen wir inzwischen auch hybrid, also seit der Corona-Zeit. Das bedeutet, es können Eltern vor Ort dabei sein. Und wenn die Plätze vergeben sind, können die anderen per Videokonferenz teilnehmen.
Ja, wir haben heute mit dir sehr viele wichtige Themen angesprochen, die wir in der einen oder anderen Richtung eigentlich noch gerne weiter vertiefen würden, oder Marco?
Marco: Ja, klar.
Mirjam: Die Aufmerksamkeitsspanne, meine zumindest, geht auch irgendwann vorbei. Und ich glaube auch von euch, die ihr zuhört. Um langsam zum Ende zu kommen, wir waren ja jetzt gerade schon bei der Gesellschaft. Und das ist ja ein gesellschaftliches Problem, dass so soziale Ungleichheit eben auch psychische Folgen haben kann. Wie du dann erzählt hast, also da, wo man wohnt, das bestimmt eben dann auch den Lebensweg mit und wie sicher man durchs Leben geht. Was wäre noch so ein Wunsch an die Gesellschaft? Wie könnte sie insgesamt sich autismusfreundlicher entwickeln?
Jennifer: An ganz vielen Punkten. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Also wir sagen auch immer mal bei vielen Dingen: Ja das ist bei mir auch so oder ja mir geht es auch so. Ich bin auch so schnell reizüberflutet. Dann denke ich mir: Warum geht es eigentlich immer weiter in die eine Richtung, obwohl schon viele auch NTs merken, dass das schädlich ist. Also vielleicht einfach mal wieder ein bisschen mehr auf den Teppich kommen und alles mal ein bisschen wieder zurückfahren. Also nicht immer schneller weiter, sondern einfach in allen möglichen Gebieten mal wieder ein bisschen einfacher sein. Einfach wieder weniger Reize. So der Feng-Shui-Stil oder so (lacht). Der japanische Stil.
Mirjam: Vielen Dank für das schöne Gespräch! Ich danke euch fürs Zuhören. Und ihr könnt uns auch gerne mal eine Bewertung dalassen auf dem Portal, wo ihr unseren Podcast hört.
Marco: Und abonnieren ist wichtig, höre ich immer.
Mirjam: Oh ja.
Jennifer: Dir auch, danke, dass du sowas machst.
Mirjam: Dass wir sowas machen.
Jennifer: Dass ihr sowas macht. Ja, das ist toll.
Marco: Ich find’s gut.
Mirjam: Tschüss und bis nächsten Monat.
Marco: Tschau.
Jennifer: Bye!
Outro
Sprecher: Das war Spektrakulär – Eltern erkunden Autismus.
Mirjam: Unsere Kontaktdaten und alle Infos zu unseren Folgen findest du in den Shownotes auf unserer Seite spektrakulaer.de.
Sprecher: Der Podcast aus dem Martinsclub Bremen. Gefördert durch die Heidehof-Stiftung, die Waldemar-Koch-Stiftung und die Aktion Mensch.
Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)