DRei Menschen nehmen POdcast vor Publikum auf.

Folge 8

„Auch autistische Menschen untereinander sollten solidarisch sein.

Mit Dr. Imke Heuer, Autismus-Aufklärerin in eigener Sache

Erscheinungstermin: 16.07.2024, Autorin: Mirjam Rosentreter

Autismus live und direkt – die Publikumsfolge

aufgezeichnet am 18.06.20024 im Bremer Kino City 46

Intro

Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)

Sprecher: Spektrakulär – Eltern erkunden Autismus.

Mirjam Rosentreter (Moderatorin/Host): Hallo. Mein Name ist Mirjam Rosentreter. Ich bin Journalistin, Mutter eines Sohnes im Autismus Spektrum, und ich mach das hier nicht alleine: Bei mir ist Marco Tiede.

Marco Tiede (Co-Moderator/Co-Host): Ja, Moin! Ich bin auch Vater eines Jungen im Spektrum, und ich arbeite Therapeut und auch als Berater.

Mirjam: Es gibt zu dieser Langversion unseres Podcasts auch eine kurze, den Kurzpod. Ein Manuskript zu dieser Folge findet ihr auf unserer Seite spektrakulaer.de.

Intro-Ende: Musik + Geräuscheffekt (Klapper)

00:00:43.000

Sprecherin: Heute mit Dr. Imke Heuer, Autismus-Aufklärerin in eigener Sache.

Mirjam: Und mit Publikum! Hallo liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, macht euch mal bemerkbar!

Atmo-O-Ton: (Applaus vom Publikum im Bremer Kino City 46)

Marco: Ja, so soll es sein. Danke.

Atmo-O-Ton: (Lachen)

Mirjam: Wir freuen uns sehr über diese heutige besondere Folge. Wir bedanken uns bei den Förderern und ehrenamtlichen Mitarbeitenden im Martinsclub und nehmen heute live on tape diese Folge auf. Und unser Gast ist Dr. Imke Heuer. Damit haben wir eine riesige Kompetenz in Sachen Autismus bei uns, denn sie verbindet Wissenschaft und Aktivismus und forscht und kämpft für Autismus, damit Autismus besser verstanden wird; ist Literaturwissenschaftlerin, Anglistin, hat in Großbritannien promoviert, ist aktiv für AutSocial, einen großen Verband der autistischen Selbstvertretung – das wirst du noch genauer erklären, was das bedeutet, autistische Selbstvertretung – und für den großen Selbsthilfeverein Aspies e.V. und hat das SIAM-Projekt mitgegründet, wo es mittlerweile hunderte, also an die hundert Seminare gab, mit Fortbildungen für tausend Autistinnen und Autisten.

0:02:05

Imke: Bei den Workshops „Autistische Fähigkeiten“, die sind älter. Das SIAM-Projekt hat noch nicht ganz so viele Durchläufe gehabt. Das ist ein Modellprojekt, was sich in erster Linie an junge Menschen richtet, in Berufsbildungswerken. Da kann ich aber nachher auch noch was zu erzählen.

Marco: Ich glaube, ich war mal der einzige neurotypische Teilnehmer in den „Autistischen Fähigkeiten“.

Imke: Das stimmt, die hat ja mein Kollege und der Gründer auch von unserem Verein oder Mitgründer von AutSocial, Hajo Seng, ursprünglich initiiert. Da hat er auch drüber promoviert in Sonderpädagogik. Er war vorhin auch hier kurz zu sehen auf der Bundestagung von Autismus Deutschland.

Mirjam: Und auch schon im Podcast.

Imke: Genau. Und ein Kollege auch von AutSocial hat auch mal erwähnt von dir, Marco, dass du der einzige Nicht-Autist warst, der dort jemals auch teilnehmen dürfte. Das ist schon eine besondere Ehre.

0:02:57

Marco: Hmmh, ja, ich fühlte mich auch sehr geehrt. Und war auch so, ja, das war ein guter Moment also so unter Menschen zu sein, die ich mutmaßlich einigermaßen verstehen konnte, die sich hoffentlich auch von mir verstanden fühlten. Ich glaube, ich hatte das auch so ein bisschen gemacht, weil ich auch gerade viele Klienten in Situationen hatte, die auf Arbeitssuche waren, beziehungsweise auch mit der Frage: Was sind denn meine Fähigkeiten? Und irgendwie schien es möglich, dass ich dann da teilnehmen konnte. Ja, da war ich sehr froh und dankbar drüber.

Imke: Ja, das ist auch immer, denke ich, ein ganz wichtiger Ansatz, überhaupt auch mit den Stärken, wirklich darauf den Fokus zu richten. Das machen eben diese Workshops. Und das macht das SIAM-Projekt, was ein bisschen davon Nachfolger ist, auch. Und deswegen, gerade viele autistische Menschen erleben ja ganz viel auch Misserfolgserlebnisse. Oft auch, dass rein nur die Defizite gesehen werden. Die Diagnosen selber sind ja rein defizitorientiert und ihnen auch Fähigkeiten und Kompetenzen auch abgesprochen werden. Und deswegen ist so dieser gemeinsame Austausch, wo es eigentlich wirklich um Ressourcen und Fähigkeiten geht, sowas ganz, ganz Wichtiges tatsächlich für autistische Menschen. Und wenn Menschen, die mit autistischen Menschen arbeiten, sich den Ansatz quasi zu eigen machen, ich glaube, dass das auch eine ganz, ganz große Unterstützung und was ganz Wertvolles ist.

Marco: Und letztlich auch einer der wichtigeren Inhalte innerhalb der Autismustherapie, in der ich ja auch arbeite. Also dann erstmal gucken: Sag mal, du hörst überall nur, was irgendwie schräg oder verkehrt ist, aber was läuft denn gut bei dir?

Imke: Absolut.

Marco: Lass uns das doch mal feiern.

0:04:39

Mirjam: Wir wollen jetzt heute hier mit euch im Publikum Autismus von innen und außen beleuchten. Also wir haben euch gebeten, vorher Fragen auf Karten zu schreiben und gegen Ende unserer Aufzeichnung nehmen wir uns die dann mal vor. Es sind sehr viele geworden, vielen Dank für das rege Mitmachen! Und dann wollen wir mal gucken, was Imke aus ihrer Innensicht als autistischer Mensch dazu beitragen kann und Marco mit deiner Erfahrung und wollen diese Folge dazu nutzen, mit Klischees aufzuräumen.
Wie ist dir denn in deinem Leben Autismus zum ersten Mal begegnet, bevor du es wusstest, dass du selber Autistin bist?

0:05:18

Imke: Ja, zum ersten Mal, das ist ganz interessant, weil ich das tatsächlich relativ genau auch zurückverfolgen kann und das zu einem Zeitpunkt war, wo ich selber auf mich das noch nie bezogen hatte. Und zwar ist es tatsächlich in meiner Kindheit gewesen. Als ich fünf Jahre alt war, sind wir umgezogen als Familie, und in unserer Nachbarschaft wohnte eine Familie mit einer Tochter, die aus heutiger Sicht frühkindliche Autistin und damals eine junge Frau war. Die gehörte zu den Menschen, die auch wirklich sehr hohen Unterstützungsbedarf hatten, und wo auch auf den ersten Blick auch klar war, dass was anders ist. Und gleichzeitig habe ich mitbekommen als Kind, dass da irgendwo auch Ähnlich…, ich konnte sie zum Teil verstehen. Also wenn sie sich zum Beispiel über was aufgeregt hat, was sehr laut war oder wenn fremde Menschen in die Wohnung kamen. Oder auch so Dinge, dass sie zum Beispiel auch geschaukelt hat oder sich gedreht hat, um sich zu beruhigen. Das waren Dinge, die ich selber auch machte, wo mir aber gesagt worden ist, dass das komisch ist oder gestört ist. Und das habe ich bei dieser Frau, die eindeutig quasi ein Mensch war, der sehr anders war, gesehen. Und das hat mich da auch irgendwie eher irritiert, diese Parallele. Gleichzeitig habe ich da eine Affinität eben bemerkt, ohne dass ich sie da mit dem Begriff hätte benennen können. Und dann habe ich ebenfalls noch so, wo ich dann so im Grundschulalter war, eine Dokumentation gesehen, wo es um ein autistisches Mädchen ging, was auch nicht sprach, sehr stark autoaggressiv war. Und da war das ganz ähnlich. Und da habe ich den Begriff Autismus tatsächlich gehört und habe von der Frau in der Nachbarschaft, die quasi nur als geistig behindert galt, tatsächlich als Kind erkannt, dass die Autistin ist. Und was sich später auch dann bewahrheitet hat.

0:07:11

Aber was ich erst Jahre später gehört habe, dass sie tatsächlich die Diagnose auch spät bekommen hat, weil auch frühkindliche autistische Menschen manchmal spät diagnostiziert werden. Und habe dann aber lange Zeit das nicht auf mich selber bezogen. Weil ich eben von allem, was ich auch darüber las – das war irgendwie immer so ein bisschen Interesse, was im Hintergrund war – dann von Menschen gelesen hatte, die deutlich schwerer betroffen waren, die sehr viel Unterstützung brauchten, auch sehr stark autoaggressiv waren vor allem.

0:07:48

Und dann habe ich später aber mal eine Doku gesehen, wo ein junger Mann vorkam. Das war, wo ich im Studium war, wo es hieß, der wäre Autist. Und das war jemand, der machte eine Ausbildung. Also studierte nicht, aber machte eine Ausbildung und konnte auch sprechen, war quasi auch nicht kognitiv eingeschränkt, war aber doch noch mal deutlicher auffällig, als ich selber mich da quasi gesehen hatte. Und vor allem war auch die Darstellung sehr irreführend. Es war dann so dargestellt, auch in anderen Texten, die ich dann auch noch zu las, dass autistische Menschen zwar selbst Gefühle hätten, aber dass sie nicht das Konzept hätten, dass andere Menschen Gefühle haben. Und dass ihnen sozusagen auch völlig egal wäre, was andere Menschen über sie denken, weil quasi das Konzept, dass ein anderer was über einen denkt, würden die gar nicht begreifen. Also das wäre für autistische Menschen, hätte überhaupt keine Bedeutung. Und damit konnte ich mich nicht identifizieren, weil ich mich eigentlich eher selber so erlebt habe, dass ich eher zu viel Mitgefühl hätte und bei vielem auch eher empfindlich war, verletzbar, mich dann zurückziehen musste. Und da habe ich gedacht, nein, das kann ja gar nicht sein.

0:08:58

Und dann habe ich noch mal Jahre später, da war ich tatsächlich auch schon mit dem Studium und auch mit der Promotion schon fertig, dann einen Artikel gelesen über autistische Frauen und habe da dann ganz andere Dinge gelesen, wo es gerade dieses Thema, ja, sich nicht verstanden fühlen, Ausgrenzung erleben, aber auch eher sensibel zu sein, sich für andere Menschen auch zu interessieren, sich zum Beispiel auch für Literatur zu interessieren, was vorher in den Darstellungen eben auch nicht so war. Da ging es eben um Menschen, die rein technische Interessen hätten oder so Interessen an Verkehrsmitteln oder ähnlichem, was mir auch so in der Form fremd war. Da habe ich dann gedacht, das klingt ja für mich so, ich glaube, wenn das so stimmt, dann bin ich auch Autistin, habe ich dann tatsächlich gedacht. Und bin dem dann nachgegangen. Und zwar habe ich mir damals ein Buch bestellt, ein sehr bekanntes von Tony Attwood, ich habe es im Englischen Original gelesen, The Complete Guide to Asperger’s.

Mirjam: Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom hieß es damals, ja.

Imke: Und ist auch wirklich sehr lesenswert, auch heute noch. Und hat vor allen Dingen sehr, sehr viele Zitate von autistischen Menschen und auch ganz viele Literaturhinweise von Biografien, auch autistischer Frauen übrigens sehr viele, aber nicht ausschließlich. Und das hat mich dann dazu gebracht, mich so da rein auch zu vertiefen und auch gerade diese sehr verschiedenen Stimmen auch und sehr verschiedenen Erfahrungen, wo man aber doch so Ähnlichkeiten sah.

0:10:39

Habe ich dann auch letztendlich im Internet – damals gab es ein großes Selbsthilfeforum von Aspies, was auch heute noch existiert – habe ich dort gelesen. Bin dann auch mit anderen Menschen in Kontakt gekommen, mit autistischen Menschen und habe eigentlich durch diesen Austausch mit autistischen Menschen sehr gemerkt, dass das wohl doch auch auf mich zutrifft. Und habe dann tatsächlich auch eine Diagnostik gesucht. Da habe ich Glück gehabt, das ist jetzt mittlerweile zwölf Jahre her. Und das wäre heute sehr viel schwerer einfach, weil die Diagnosesituation, also auch von quasi niedergelassenen Psychiaterinnen und Psychiatern, die sich mit dem Thema auskennen, die ist halt wirklich extrem schlecht in Deutschland. Es gibt sehr lange Wartelisten. Und ich habe damals über dieses Forum das Glück gehabt, dass es so eine Liste gab, eben mit auch empfehlenswerten Anlaufstellen. Und habe dann eine gefunden, wo ich mich dann diagnostizieren lassen habe und hatte dann auch einige, so drei Monate später oder so einen Termin, was heutzutage, was es inzwischen kaum mehr gibt. Und ja, das war für mich einerseits auch eine große Erleichterung für so viel, auch eine Erklärung zu haben, wie diffuse Lebensschwierigkeiten, aber auch Situationen von: Mich anders fühlen in Gruppen, im Kontakt mit anderen Menschen, warum manches auch für mich schwierig war, was für andere einfacher war. Und solche Geschichten, die ich mich auch schon lange vorher auch gefragt hatte.

0:12:12

Aber es war schon auch ein sehr langer Verarbeitungsprozess, weil das so ein Thema ist, wo natürlich auch das eigene Leben auch nochmal im anderen Licht erscheint. Und darüber bin ich dann tatsächlich an die autistische Selbstvertretung geraten, bin dann zu Konferenzen, Fachtagen und sowas gegangen, weil das kannte ich auch aus der Wissenschaft. Ich gehe gerne auf Konferenzen und finde einfach solche Veranstaltungen, auch um in Kontakt zu kommen, aber auch um Anregungen zu bekommen und interessante Ideen. Und so fand ich, da war das für mich ein Weg, wo ich dann ganz gut auch anknüpfen konnte, auch im realen Leben.

Marco: Auf die Selbstvertretung kommen wir nochmal zurück.

Imke: Genau.

0:12:53

Marco: Ich bemerke jetzt gerade nur nochmal, wie du das gerade geschildert hast, das ist ja ein langer Weg von so einer diffusen Anschauung der Nachbarin und über deine Vorliebe von ähnlichen Selbstregulationsmechanismen, das man ja dann so heutzutage eher Stimming nennt, also diese Selbststimulation, die diese ganze Reizverarbeitung leichter ertragen lässt. Und dann das Stolpern über Klischees und merken: Ja nee, das kann ich ja nicht sagen. Dieses Klischee von, was hattest du vorhin genannt, dieses ähm…

Imke: Nicht wissen, dass andere Menschen Gefühle haben. Das war das Hauptthema.

0:13:34

Marco: Autisten sind Gefühle anderer völlig schnurz und das stimmt ja so nicht und du bestätigst mir auch noch mal diesen Eindruck, den ich häufiger von AutistInnen habe, dass sie in der emotionalen Empathie viel viel stärker am Start sind als manche neurotypische Menschen. Also das kann man beides nicht verallgemeinern. Es gibt auch sehr empathische neurotypische Menschen, wie es auch weniger empathische Autistinnen gibt, aber ich denke auf das Problem der Empathie kommen wir später vielleicht auch noch mal zu sprechen.

Imke: Gerne!

Marco: Zumal es auch in einer der Fragen auftaucht. Aber bis du dann eben diese Gewissheit hattest durch diese Dokumentation und dann eben deine Diagnose und bis hin zu dieser ganzen Annahme der Diagnose.

0:14:20

Imke: Genau.

Mirjam: Wenn du schon als Kind wusstest, was Autismus ist, also das so für dich entdeckt hast, aber erst so spät quasi die Bestätigung bekommen hast. Wenn du die Möglichkeit hättest, noch mal zu dir als Kind zurückzureisen und mit der kleinen Imke zu sprechen, die vielleicht in der Schule gerade Schwierigkeiten hat. Du hast mir mal erzählt, vor allen Dingen in so Fächern, wo man mit den Händen fein arbeiten muss.

Imke: Ja, genau, Motorik ist für mich ein großes Thema.

Mirjam: Was würdest du der kleinen Imke sagen?

Imke: Ja, ich weiß gar nicht mal, ob ich ihr die Diagnose sagen würde. Weil, es war natürlich dann in der Zeit, wo ich wirklich dann noch ein jüngeres Kind war, das war dann so in den 80ern und da wäre das viel stärker stigmatisiert gewesen. Aber ich würde dann sagen: Du bist schon so in Ordnung, wie du bist. Du bist ein bisschen anders als die anderen. Du nimmst Dinge ein bisschen anders wahr und deswegen ist manches für dich wichtig, was für die anderen unwichtig ist. Und manches, was für die anderen wichtig ist, das ist dir vielleicht gar nicht so wichtig. Aber das ist so schon in Ordnung. Menschen sind verschieden. Und hab Mut, du wirst schon deinen Weg finden, auch wenn es manchmal schwierig ist. So in der Art, würde ich das vielleicht sagen.

0:15:28

Mirjam: Wie sind denn deine Eltern damals mit deinem Anderssein umgegangen?

Imke: Im Großen und Ganzen eigentlich ganz positiv. Also wie gesagt, dieses mit dem Thema Stimming, das war schon was, was sie auch eher irritiert hat. Weil das eben als irgendwie auch verhaltensgestört auch galt und sie schon erkannt haben, dass ich da mit Druck abbaute. Aber dann: Warum hat sie so viel Druck? Also gerade für meine Mutter war es dann natürlich das Thema: Was mache ich falsch? Also das war tatsächlich…. Also ich habe mich dann auch mich mit ihr darüber unterhalten und habe auch – sie hat auch schon in meiner Säugling- und Kleinkindzeit, hat sie zum Teil Tagebuch geschrieben und da sich schon gefragt: Was habe ich falsch gemacht? Also weil der Kinderarzt auch von Neuropathia Nervosa und sowas sprach    und was aus heutiger Sicht so veraltete Diagnosen sind.

Marco: Was heißt Neuropathia Nervosa?

Imke: Also dass es eine nervöse Neuropathie quasi ist, also eine Nervenschwäche eigentlich.

0:16:29

Marco: Also schon auch mal eine Pathologisierung.

Imke: Genau.

Marco: Und zwar eher schon eine krankhafte Darstellung.

Imke: Schon als Säugling tatsächlich. Und das war dann natürlich für sie, dass dann schrieb sie: ich bin traurig, weil ich denke, dass ich vielleicht etwas falsch gemacht habe und so. Also das waren dann natürlich so die Dinge.
Auf der anderen Seite waren meine Eltern mit mir sehr, immer auch sehr akzeptierend. Also aus heutiger Sicht muss ich sagen, bin ich relativ sicher, dass mein Vater auch im Spektrum war. Mein Vater war Lehrer und hat auch an manchen Punkten auch soziale Probleme gehabt. Aber es hat eben in dem Beruf eben doch auch gut funktionieren können, auch mit ganz großem Interesse für Geschichte. Er hatte da auch ein relativ enzyklopädisches Wissen, was auch so den Klischees widerspricht, dass männliche Autisten sich nur für Mathe und Technik so interessieren, das war gar nicht sein Ding. Meine Mutter ist sicher keine Autistin. Aber in ihrer Familie, also von ihrer Großmutter habe ich noch gut gekannt, da würde ich auch sagen aus heutiger Sicht, dass sie im Spektrum war.

Marco: Was nochmal zeigt, dass das meistens eine genetische Veranlagung hat und man davon ausgehen kann, dass das jetzt nicht zwangsläufig erworben wird. Das gibt es zwar auch als Diagnose des sekundären Autismus. Aber an sich der sogenannte klassische Autismus oder der Ur-Autismus, Naja (Imke lacht) gibt es ja alles so nicht, aber das ist eben eine genetische Veranlagung, die einfach da ist und auch bleibt und gewissermaßen auch bleiben darf.

Imke: Ja, absolut.

0:18:12

Mirjam: Was ist deine Definition von Autismus?

Imke: Darüber habe ich tatsächlich schon oft nachgedacht, finde es gar nicht so einfach zu beantworten. Letztendlich denke ich, dass dieser Schlüssel tatsächlich in der anderen Wahrnehmungsverarbeitung liegt. Dass autistische Menschen wahrscheinlich auch mehr wahrnehmen, also mehr bewusst wahrnehmen. Bei nicht-autistischen Menschen ist es ja so, dass sehr viel, was an Sinnesreizen reinkommt, gar nicht diese Schwelle ins Bewusstsein schafft und vorher ausgefiltert wird. Und daher dann auch nicht bewusst verarbeitet werden muss. Und bei autistischen Menschen kommt da mehr durch. Ich würde auch nicht sagen, manche sagen, dann kommt alles durch, das ist Quatsch. Ich glaube, es ist sehr unterschiedlich, wie viel dann auch durchkommt. Und auch bei den verschiedenen Sinnen kann das unterschiedlich sein. Das führt aber dazu, dass mehr quasi bewusst verarbeitet werden muss. Und das strengt an. Und dadurch glaube ich, dass für autistische Menschen einfach viele Dinge auch mehr Energie kosten, weil sie bewusst gesteuert werden müssen.
Das ist auch so ein Grund, warum der, was man den sozialen Autopilot manchmal nennt, bei autistischen Menschen schlechter funktioniert oder störanfälliger ist. In dem Sinne, dass so in sozialen Situationen mit anderen Menschen, viele Menschen eigentlich das Gefühl haben, jetzt nicht viel bewusst steuern oder nicht viel Energie aufbringen zu müssen. Und auch in größeren Gruppen zum Beispiel auch wissen bei einem Gespräch, wann genau jetzt der Punkt ist, wo sie was sagen sollen, wann man unterbrechen darf, um überhaupt zu Wort zu kommen und gleichzeitig aber nicht als unhöflich zu gelten, so als Beispiel. Und wann der richtige Punkt ist, zu einem Thema noch was zu sagen und wann jetzt in der Gruppe das Thema gewechselt hat. Ein paar ganz banale Beispiele. Und das ist für autistische Menschen, sind das so Dinge, die eben nicht so automatisiert ablaufen und nicht so von selbst, sondern die man bewusst dann in diesem Gespräch dann steuern muss. Wann ist jetzt der Punkt, wann ich was sage? Wann sage ich auch zu viel? Wann höre ich wieder auf, ohne dass es unhöflich wird? Auch solche Geschichten, auch wenn Motorik oft ein Thema ist, eben wegen diesem, dass es mit

0:20:33

Sinnesverarbeitung, Sinnesreizverarbeitung zu tun hat. Modulation der Stimme, nicht zu laut, nicht zu leise, Intonation. Also viele Kleinigkeiten sind glaube ich so, dass autistische Menschen, die bewusst machen, während das für andere Menschen was ist, was so nebenher läuft und deswegen auch gar nicht so von einem selbst wahrgenommen wird, dass das Energie kostet. Ich glaube, dass das tatsächlich das Thema ist, was im Zentrum steht.

Und dann glaube ich noch, dass insgesamt einfach das ganze Nervensystem deswegen auch empfindlicher ist wegen der großen Reizoffenheit, aber auch dadurch eben auch eine größere Stressanfälligkeit. Weswegen autistische Menschen oft insgesamt auch körperlich empfindlicher sind und auf ganz unterschiedliche Weise tatsächlich auch häufiger krank sind, was sich völlig unterschiedlich äußern kann. Aber dieses Thema Reizverarbeitung und all die Folgen, die das in verschiedenen Bereichen hat, das würde ich im Zentrum sehen.

0:21:31

Marco: Ich glaube, was du gerade als banal benannt hast, ist, glaube ich, gar nicht so banal. Also diese Fähigkeit, wie von selbst, ohne mehr darüber nachzudenken, zum Beispiel hier eben jetzt in der Situation vor dem Buffet mit Leuten ins Gespräch zu kommen, hier und da jemand zu begrüßen und zu wissen, wann kann ich wen begrüßen, kann ich jetzt einfach in ein Gespräch, was du ja geschildert hast. Das ist ja – so habe ich das auch von anderen AutistInnen manchmal geschildert bekommen – eigentlich wie das ständige Lösen von schwersten Matheaufgaben, also einfach ein sehr hoher kognitiver Aufwand. Und wir machen das so beiläufig. Für uns ist das möglicherweise banal, aber eben für Menschen im Spektrum ist das eben leider keine Banalität, sondern immer Höchstleistung.
Und dann noch diese ganze von dir benannte Reizverarbeitung, wo eben kaum was ausgefiltert wird, bis hin, dass ja dann auch bestimmte Assoziationsketten viel dichter geknüpft werden, gedanklich auch. Und natürlich dann auch ganz viel innere Informationen auch noch verarbeitet werden, was dann irgendwann zu einer skurrilen Situation führen kann. Ich weiß nicht genau, ob das dann nur ein autistisches Phänomen ist oder diese Mischung mit ADHS, das ich mal mit einem Klienten in der Corona-Zeit per Videotherapie gemacht habe. Und ich habe in der Spiegelung seiner Brillengläser gesehen, dass er nebenbei gezockt hat.

Imke: (lacht)

Marco: Und dann irgendwann: Sag mal, hörst du mir eigentlich zu, wenn du nebenbei zockst? Und er sagt: Ja, weil ich zocke, kann ich dir zuhören. Ich sage: Interessant! Erzähl mal, wie fühlt sich das an? Er sagt: Naja, ich höre meine Familie reden. Und wenn ich jetzt nicht zocken würde, würde ich die ganze Zeit darüber nachdenken, was meine Familie da eigentlich zu bereden hat und warum. Und ich will aber mit dir reden. Und das hat ihm sozusagen geholfen, obwohl das so widersinnig scheint, sich zu filtern, weil die sogenannten natürlichen Filter, die neurotypische Menschen haben, so nicht vorhanden sind. Das ist ja das was du dann als zentrales Element meinst der autistischen Verarbeitungsstrategie.

0:23:43

Mirjam: Hast du das nicht auch neulich gemacht, als wir zusammen einen Vortrag besucht haben?

Imke: Ja, das stimmt, das mache ich gerne immer. Also ich spiele entweder dann so ein Online-Spiel oder sowas, manchmal auch Schach, Online-Schach. Und ich lese auch einfach auf Blogs oder sowas und kann daneben, also einfach, um daneben auch zuzuhören. Das ist für mich tatsächlich kein Problem, das kann ich gut. Und es ist auch so, das hilft manchmal auch so, die eigenen inneren Gedanken, wo ich eher eine innere Ablenkung habe, von dem, was jetzt aus und passiert, ein bisschen auszuschalten. Und dann kann ich tatsächlich, auch wenn es paradox klingt, kann ich tatsächlich besser zuhören. Ich weiß von anderen autistischen Menschen, die dann zum Beispiel auch so zeichnen oder so, das machen auch viele.

0:24:33

Aber andere machen auch Stimming, also auch mit dem, vielleicht auch mit so einem Fidget-Spinner oder sowas. Und dann wird das teilweise dann negativ gesehen und wird gesagt, nun hör mir doch mal richtig zu. Dabei kann das für autistische Menschen tatsächlich sehr hilfreich sein. Einmal um, was ich eben sagte, die eigenen inneren Gedanken zum Schweigen zu bringen ein bisschen oder in den Hintergrund treten zu lassen. Schweigen tun sie nie wirklich, aber dass sie nicht mehr so bewusst eben präsent sind. Aber auch, um zum Beispiel auch andere Nebengeräusche ein bisschen wegzufiltern. Weil, das ist tatsächlich für autistische Menschen oft – also es geht mir selber so und ich weiß, dass es auch bei anderen ähnlich ist – zum Beispiel in Kneipen oder Restaurants oder so, wenn dann an mehreren Tischen mehrere Gespräche stattfinden. Dieses, dass es sehr schwer sein kann, sich auf das Gespräch mit den Menschen, mit denen man gerade sich unterhält, zu konzentrieren, weil man die ganzen anderen Gespräche auch mithört.

0:25:37

Marco: Das hatte Hajo so ja auch geschildert.

Imke: Genau, das ist ein Thema, was tatsächlich sehr anstrengend ist. Und wenn man das mit dem, was ich vorhin gesagt habe, mit der Schwierigkeit, den richtigen Moment zum Beispiel zu erkennen, um einzuhaken oder wann man still sein sollte, wenn man das damit zusammennimmt, dann kann man sich vorstellen, dass solche Gespräche tatsächlich insgesamt nicht nur anstrengend sind, sondern es auch nicht immer gut funktioniert. Das ist für autistische Menschen oft so, das erlebe ich selbst und habe im Austausch mit anderen auch schon gehört, dass man dann rechts und links und vielleicht auch noch gegenüber in den Gesprächen irgendwie mit drinhängt, ohne richtig drin zu sein und in keinem eigentlich richtig selber reinkommen und dabei ist. Überall so halb. Und das kann sehr frustrierend und anstrengend gleichzeitig sein.

0:26:23

Marco: Letztlich könnte man ja dann den vermeintlich mangelnden Blickkontakt als Höflichkeit ansehen, weil du oder auch andere autistische Menschen sich in die Lage versetzen, überhaupt konzentriert zuzuhören. Und ich dann eher beunruhigt bin, wenn ich dauernd von Autistinnen angestarrt werde beim Miteinanderreden, weil ich denke, das könnte sein, dass ihr jetzt gerade maskiert und dass das auch noch anstrengt. Maskierung ist, glaube ich, noch mal ein anderes Thema.

0:26:51

Mirjam: Wir hatten ja schon, also Maskierung kannst du ja kurz erklären, wenn autistische Menschen versuchen, sich angepasst zu verhalten.

Imke: Ja, und da gibt es eben verschiedene Varianten. Das eine ist, das wirklich bewusst zu machen, im Sinne von – was tatsächlich autistische Frauen oft machen, aber auch Mädchen schon – ist dieses, so ein Klassiker, auch in der Schule vielleicht: Ein beliebtes Mädchen zu beobachten, was irgendwie bei anderen gut ankommt, und bewusst deren Verhalten auch nachzuahmen, bis hin zu Gesten und so. Um zu denken, die verhält sich so, dass das funktioniert, so muss ich das auch machen. Das hatte ich auch mal, so eine Phase, und habe es tatsächlich auch von anderen auch schon öfter gehört, das ist ganz typisch.

0:27:33

Dann gibt es noch das auf einer unbewussteren Ebene, gerade auch bei autistischen Mädchen, weil die Sozialisation so ist. Jungen erleben oft noch häufiger so explizite Ausgrenzungen, die oft also dann teilweise mit Wirklich-gar-keine-Freunde-Haben, vielleicht auch Verprügelt-Werden und so weiter quasi zu tun hat. Es gibt durchaus auch Mädchen, die das erleben. Aber an sich ist es oft so, dass Mädchengruppen so integrativer sind und ein autistisches Mädchen dann eher so am Rand ist einer Gruppe und sich in der Gruppe auch anguckt, wie das funktioniert bei den anderen. Das ist noch ein Thema.

0:28:06

Und das andere Thema ist natürlich auch von außen familiär, aber auch in der Schule und in anderen Kontexten: Explizites soziales Training. Also sowas wie zum Beispiel das mit dem Blickkontakt und Handgeben, das mit Kindern üben und im schlimmsten Fall sogar ihnen das total anzutrainieren, einfach mit dem Ziel, dass sie sich einfach unauffällig verhalten. Und da kann ich wirklich nur vor warnen! Weil, selbst wenn das gelingt, ist das so, dass es die autistischen Menschen einmal extrem anstrengt, was auf Dauer zu Burnout führen, auch krank machen kann. Aber vor allen Dingen geht dann alle Energie da rein. Das heißt, wenn man möchte, dass der Mensch seine Interessen und seine Stärken entwickeln kann, ist das nicht mehr möglich. Und insofern kann das sogar weniger gesellschaftliche Teilhabe geben, als wenn man autistischen Menschen vielleicht ein bisschen auffälliger sein lässt und dafür eher so die eigenen Interessen auch entwickeln lässt. Das finde ich so ein ganz wichtiges Thema.

0:29:05

Marco: Und im Umkehrschluss, ich habe vorhin auf Insta – ich gucke eigentlich gar nicht so häufig auf Insta, aber da habe ich nochmal geguckt, was auf unserer Seite los ist, weil dadurch, dass eben der Podcast von den Wochenendrebellen rauskam – war eine Frau, die hatte geschildert, dass sie jetzt gerade plötzlich so eine Umkehr hat von dieser Maskierung, dass sie sich plötzlich gar nicht mehr empathisch gegenüber der autistischen Community verhalten kann, weil sie plötzlich neurotypischer wurde als die neurotypischen Menschen selbst. Das hat ja dann auch eine gewisse Tragik in sich.

Imke: Hat es auch.

Marco: Weil dann ja auch die Teilhabe in der eigenen Community oder überhaupt im Allgemeinen erschwert wird, weil auch diese Maskierung ist ja nicht immer so ausgestaltet, dass man dann nicht wirklich auffällt. Du fällst trotzdem auf und alle denken, irgendwie scheint sie so zu tun, als ob sie dazugehört, aber was soll das denn?

0:29:58

Imke: Es gibt ja diesen Spruch, für Normale zu autistisch, für Autisten zu normal. (Marco lacht)Ist so ein alter Spruch. Nun ist ja ‚normal‘ auch ein bisschen quasi diskreditiert worden. Wer will – einmal gibt es Normalität nicht wirklich – und wer will schon noch heutzutage normal sein? Also die Menschen wollen ja alle irgendwie interessant sein. Aber gleichzeitig beschreibt das immer noch so einen Zwiespalt, in dem auch sehr viele autistische Menschen stecken, denen sehr viel antrainiert worden ist. Und wo zum Teil tatsächlich auch die Community auch nicht in jedem Fall immer tolerant ist und wo es das auch gibt, dass Menschen auch die Diagnose abgesprochen wird, auch durchaus von anderen autistischen Menschen und so. Also das kann schon manchmal echt tragisch sein.

0:30:41

Marco: Der ganz unbeliebte Satz: Man sieht dir gar nicht an, dass du autistisch bist!

Imke: Genau. Das ist nett gemeint, im positiven Fall ist es nett gemeint, aber ist eigentlich das Gegenteil.

0:30:52

Marco: Ich geh schon so drastisch vor und sag: Ja, ich kann nachvollziehen, dass du dir jetzt kein A in die Stirn ritzen willst.

Imke: Nein.

(Publikum lacht)

Imke: Klar! Und das ist natürlich ein Thema, was ohnehin auch bei unsichtbaren Behinderungen so der Fall ist. Es gibt ja auch Menschen, die körperliche oder chronische Erkrankungen zum Beispiel haben, chronische Schmerzen, alle möglichen anderen Erkrankungen. Oder aber auch andere auch psychiatrische Diagnosen, da ist das ja auch ein Thema, denen man das nicht unbedingt gleich anmerkt und wo dann quasi die Diagnose und die Probleme und der Unterstützungsbedarf und so pauschal abgesprochen werden. Also das ist so ein Thema: Den Menschen, denen man stark anmerkt, dass sie anders sind, die vielleicht auch von vornherein auch sichtbar, in welcher Form auch immer, auch behindert wirken, denen wird oft abgesprochen, überhaupt selber eine Agency zu haben, auch was für sich selber zu wollen, für sich was zu planen und überhaupt Kompetenzen zu haben. Den Menschen, denen man es nicht anmerkt, wird der Unterstützungsbedarf, wird die Diagnose, werden die Schwierigkeiten abgesprochen. Einfach weil Menschen auch gerne Schubladen haben und wenn das vielleicht nicht so eindeutig ist, dass jemand vielleicht Schwierigkeiten hat, eine Behinderung hat, aber auch Stärken hat, in beide Richtungen, für viele so nicht richtig zusammengeht und sie da Probleme mit haben. Deswegen ist das ein Thema, was letztendlich auch für uns, für die Selbstvertretung, ein wichtiges Thema ist, was weit auch über Autismus hinausgeht.

Also da finde ich es tatsächlich auch wichtig, auch mit Menschen mit anderen Behinderungen, aber auch mit Menschen, die autistisch sind und vielleicht einen höheren Unterstützungsbedarf haben, auch solidarisch zu sein. Das wird ja teilweise der Community vorgeworfen, das nicht zu sein. Das ist gar nicht meine Erfahrung. Ich kenne sogar viele autistische Menschen, Hajo hier, der vorhin auch kurz zu sehen war, ist da auch ein Beispiel für, die zum Beispiel auch lange auch mit Menschen mit Behinderungen gearbeitet haben und die da auch eine Affinität und auch eine große Solidarität spüren. Also wirklich die Gemeinsamkeiten zu sehen, halte ich da auch für wichtig.

0:32:54

Mirjam: Du forschst ja auch dazu, wie so eine Stigmatisierung, also wie solchen Stigmata gegenüber behinderten Menschen entgegengewirkt werden kann, am Uniklinikum Eppendorf.

Imke: Genau.

Mirjam: Und du interviewst auch selber viele Autistinnen und Autisten, ne?

0:33:10

Imke: Genau, das ist ein Projekt, das habe ich ursprünglich mal gestartet im Rahmen eines Projekts, was es an der Uniklinik Eppendorf gab. Da hatte ich durch Zufall von erfahren, wo es an der Uni Hamburg eine Vorlesungsreihe zu Autismus damals gab, organisiert von dem Fachbereich für Informatik und für Sonderpädagogik – auch eine interessante Kombination. Ist leider nie wiederholt worden. Und da hat Hajo Seng einen Vortrag gehalten. Und dann fiel eine Referentin aus, und da hat er mich dann gefragt, ob ich Lust hätte einzuspringen. Und ich habe das gern gemacht und habe dann über Autismus und Studium gesprochen und über die Schwierigkeiten quasi auch als autistischer Mensch zu studieren, aber auch die mangelnde Unterstützung und warum eigentlich auch gleichzeitig gerade Uni und Wissenschaft und so für autistische Menschen was Passendes sein könnte. Und in dem Rahmen habe ich in einer anderen Ringvorlesung, die gleich danach war, dann aus dem Bereich Sozialpsychiatrie von einem Projekt erfahren, wo Menschen mit psychiatrischen Diagnosen eigene Forschungsprojekte machen konnten. Und habe mich dann da beworben und da tatsächlich auch dann das Glück gekriegt, da angenommen zu werden und habe ein Projekt entwickelt zu Diagnose und Identität. Das habe ich später nochmal weiterentwickelt, auch partizipativ mit Leuten von AutSocial, habe ich da dann einen Workshop zu gemacht. Und habe das im Rahmen einer Weiterbildung dann nochmal weiterentwickelt an der Uni-Klinik Köln zum Thema partizipative Gesundheitsforschung. Und habe dann dieses Projekt sozusagen auch partizipativ gemacht, dass der Interviewleitfaden auch von uns gemeinsam erstellt worden ist, dass wir dann einen Workshop gemacht haben mit autistischen Menschen, um überhaupt erstmal auch Konzepte von Diagnose und Identität zu erarbeiten. Und dafür interviewe ich im Moment ganz viele Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensläufen. Das ist super spannend und über den Zuspruch freue ich mich sehr, da bin ich sehr dankbar für.

0:35:19

Mirjam: Partizipativ bedeutet, dass die Menschen mit ihren tatsächlichen Erfahrungen einbezogen werden. Also, dass man nicht über Autismus zum Beispiel forscht, sondern mit Autisten zusammen.

0:35:29

Imke: Genau, das ist ja auch ein Thema, was auch in der Behindertenbewegung gefordert wird und auch in der UN-Behindertenrechtskonvention, dieses bekannte Nothing About Us Without Us, also nichts über uns ohne uns, was ich auch wirklich für ganz, ganz wichtig finde. Einmal ist aus einer menschenrechtlichen Perspektive, aber es ist auch tatsächlich so, dass Forschung, die die Menschen, die das jeweilige Thema betrifft, einbezieht, zu besseren und praxisnäheren Ergebnissen kommt. Das merken wir bei uns im Job auch, denn ich hatte tatsächlich das Glück, darüber auch an meinen bezahlten Job als wissenschaftliche Mitarbeiterin am UKE zu kommen.
Und wir – das ist nicht im Schwerpunkt Autismus, aber es geht um psychiatrische Diagnosen im weiteren Sinne. Und wir machen ganz viel zum Beispiel auch zu Antistigma, auch zur Verringerung von Zwang, auch im psychiatrischen Bereich und haben zum Beispiel jetzt gerade ein Projekt, wo wir Begegnungsseminare für Auszubildende in der Pflege planen, zu psychiatrischen Diagnosen, also jetzt nicht nur Leute, die in der psychiatrischen Pflege arbeiten, sondern die zum Beispiel auch eine Altenpflegeausbildung machen, eine Kinderkrankenpflege und so einfach, um das Thema anders zu sehen. Für Medizinstudierende gibt es das auch. Und einfach dieses Thema psychiatrische Diagnosen in differenzierteren und auch quasi recovery-orientierten Blick in die Öffentlichkeit zu bringen, dass man eben..

0:36:56

Mirjam: Was bedeutet Recovery?

Imke: Das heißt bei psychiatrischen Diagnosen, dass es jetzt nicht in erster Linie um Heilung gehen sollte, sondern darum, dass ein Mensch ein gutes Leben für sich findet. Auch auf die Ressourcen zu gucken. Egal was ein Mensch hat, sozusagen die gesunden Anteile sind eigentlich immer das, was überwiegt. Und auch mit Symptomen und weiter auch mit Unterstützungsbedarf ist ein selbstbestimmtes, auch ein erfülltes Leben möglich. Das ist so ein Thema dabei und deswegen – lange Zeit, also gerade Menschen auch mit, ja als schwerwiegend geltenden psychiatrischen Diagnosen wie Schizophrenie zum Beispiel oder auch Borderline, denen wird oft, die erleben im System ganz viel Entmutigung, ganz viel auch Hoffnungslosigkeit, die ihnen vermittelt wird: Sie werden nie selbstständig leben können, Sie werden nie berufstätig sein können! Alles Mögliche. Und das stimmt eben nicht. Auch bei Menschen, die sehr lange auch schon Hilfe gebraucht haben, sehr intensiven Hilfsbedarf hatten, auch schwierige Biografien haben, ist quasi ein positiver Weg und Ausbau von Stärken und so auch immer möglich. Und das ist was, was so unser Schwerpunkt auch ist.

0:37:59

Marco: Gemeinsam ist ja allen auch zum Autismus im Vergleich – also, ich will jetzt nichts vergleichen, sondern – die Unkenntnis über diese Phänomene der psychiatrischen Erkrankung, genauso wie die Unkenntnis über Autismus. Das begegnet uns ja bis heute, obwohl Autismus jetzt seit, wenn man jetzt mal Frau Sucharewa mitrechnet, seit knapp 100 Jahren, über 100 Jahren bekannt. Sie hat es, glaube ich, noch nicht so benannt. Dann später haben es ja Leo Kanner und Hans Asperger etwas differenzierter beschrieben. Aber bis heute gibt es darüber ja eine derartige Unkenntnis, dass wir, weswegen wir ja auch hier sitzen, mit lauter Klischees…

Imke: Ja, absolut.

Marco: Wie: Autisten haben keine Gefühle, sind nicht empathisch. Das haben wir ja vielleicht schon so ein bisschen aufgeklärt, dass das also so nicht stimmt.

0:38:48

Mirjam: Wir werden auch gleich mal in die Fragenkiste greifen, aber eine Frage finde ich noch ganz wichtig. Moment, jetzt habe ich gerade einen Hänger, weil du das gesagt hast und du das gesagt hast. Ich versuche meine Gedanken zu sortieren.

0:39:01

Marco: Guck auf deinen Leitfaden.

Mirjam: Ja, ich gucke auf meinen Leitfaden.

Marco: Auch neurotypische Menschen brauchen Struktur.

Mirjam: Und zwar hier, mit Klischees aufräumen, heute – das sollten wir nicht vergessen zu sagen, ist ja auch ein ganz wichtiger Tag, also jetzt, wo wir das aufzeichnen, ist der 18. Juni, und das ist der weltweite Autistic Pride Day. Ist für dich auch ein wichtiger Tag?

0:39:23

Imke: Ja, absolut! Und zwar, der Autistic Pride Day wurde 2005 ursprünglich gegründet, von Aspies for Freedom, das ist ursprünglich mal eine britische Initiative gewesen, die es so jetzt heute leider nicht mehr gibt. Und das Besondere daran ist eben auch im Vergleich zum Weltautismustag, der am 2. April ist, dass das eben ein selbstbestimmter Tag ist, wo auch – da ist tatsächlich auch Gay Pride auch so ein Hintergrund gewesen, so ein Vorbild – im Sinne von wirklich auch Autismus auch zu feiern, Diversität zu feiern, dass Menschen neurologisch sehr unterschiedlich sein können und auch das alles seinen Wert hat. Also es ist so ein Tag, der ganz viel auch mit Selbstvertretung und Empowerment zu tun hat. Und dabei – ganz wichtig – geht es eben nicht darum, den Menschen auch Unterstützungsbedarf und Schwierigkeiten abzusprechen, das wird dem manchmal vorgeworfen, aber es ist überhaupt nicht so. Und hier Aspies e.V., auch der Selbstvertretungsverein, wo ich aktiv bin, die machen ihren Autismustag quasi immer an einem Samstag in zeitlicher Nähe dazu. Der wird jetzt an diesem Samstag auch in Berlin stattfinden. Und deswegen, wir auch als Selbstvertretung, halten das immer noch so ein bisschen hoch. Ansonsten ist es leider in den letzten Jahren ein bisschen so gesellschaftlich, ich will jetzt nicht sagen in Vergessenheit geraten, aber nicht mehr so präsent, wie es mal war. Auch weil es natürlich auch den Weltautismustag gibt. Ich finde, die sollten einander gar keine Konkurrenz machen, das hat beides seinen Wert, aber ich finde es auch wichtig, dass beides präsent ist.

0:40:58

Marco: Von mir aus kann man auch 365 Tage im Jahr (Imke lacht) eine Aufmerksamkeit für Autismus und viele andere Phänomene entwickeln. Weil, das ist ja das, was immer wieder so ins Hintertreffen gerät. Und überhaupt diese Aufmerksamkeit zu haben, so wie Peter Rödler, glaube ich, das auch mal auf der Tagung erwähnte, irgendwann müssen wir vielleicht nicht mehr drüber nachdenken: Heißt das jetzt Autismus, ADHS oder irgendwie? Okay, wir sind irgendwie Menschen, humanistisch gestimmt. Wir nehmen aufeinander Rücksicht. Und jeder darf sein, wie er will, jeder kann auch in verdunkelten Sälen mit Sonnenbrille sitzen, mit geräuschunterdrückenden Kopfhörern irgendwo sitzen oder kleine Stimmings fahren lassen, also Fidget Spinner, das sind ja diese Dinger, die vor ein paar Jahren sehr, sehr großen Hype hatten, diese Dinger, die so ganz schnell drehten, so auf der Hand, so mit so einer ganz differenzierten Kugellagerung und man immer Wettbewerb hatte, was am schnellsten oder am längsten dreht, so, ja, und viele andere Möglichkeiten sich irgendwie zu entwickeln.

0:42:02

Imke: So Knetbälle gibts, Zauberwürfel. Es gibt ja so viele Ideen.

0:42:05

Marco: Auch klasse. Ich fand vorhin noch mal bemerkenswert, dass du sagtest, um dich konzentrieren zu können, spielst du beiläufig Online Schach. Das bedeutet für neurotypische Menschen wieder sehr hohe kognitive Anstrengungen. Also für mich jedenfalls.

0:42:18

Imke: Gegen die schwächeren Bots, also nicht gegen die wirklich stärkeren Bots.

0:42:23 (Publikum lacht)

Marco: (lacht) Das würden manche neurotypischen Menschen auch nicht hinkriegen.

Imke: Okay. (lacht)

0:42:28

Mirjam: Als wir uns zusammen vorbereitet haben auf unser Gespräch heute und ich gesagt habe, wir wollen auch gerne das so am Ende so gesellschaftlich öffnen, was können wir denn den Leuten mitgeben, die sich überhaupt nicht mit Autismus auskennen, was sie tun können, um sich ein bisschen freundlicher zu verhalten, dass sich auch autistische Menschen in ihrer Umgebung wohlfühlen. Da meintest du das Beispiel mit der Supermarktkasse.

0:42:53

Imke: Ja, das ist ein ganz lebensnahes, praktisches Beispiel, wenn jemand sich zum Beispiel falsch anstellt, weil er oder sie nicht erkannt hat, wo das Ende der Schlange ist, oder stößt jemand an, rempelt jemand aus Versehen, dann kommen von vielen Menschen gleich sehr, sehr unfreundliche Bemerkungen. Und wenn man sich dann entschuldigt, wird die Entschuldigung oft noch nicht mal angenommen. Dabei kann das wirklich auch ein Versehen sein. Autistische Menschen erkennen manchmal auch schlecht, wo das Ende der Schlange ist. Oder sie selber, wenn sie am Ende der Schlange stehen, signalisieren das Ende der Schlange so schlecht, dass sich neben ihnen eine Parallelschlange bildet, sodass es dann nachher so wirkt, als ob man selber sich vorgedrängelt hätte. Und das sind so Themen, da wirken autistische Menschen oft dann als unhöflich, obwohl sie es gar nicht sind. Oder auch irgendwo beim Einsteigen, beim Aussteigen, wenn man an jemanden stößt oder sowas.
Und Ich finde tatsächlich, einfach bei anderen Menschen nicht gleich das Negative annehmen, auch nicht gleich unhöflich, unfreundlich reagieren, auch wenn man selber vielleicht genervt ist, würde es für viele autistische Menschen auch schon einfacher machen. Und gleichzeitig glaube ich, dass das vielen anderen Menschen auch guttun würde. Weil diese Stimmung, gerade in vollen öffentlichen Verkehrsmitteln oder so, das ist so ein Thema, was, glaube ich, viele Menschen auch belastet. Und ich glaube, dass ein bisschen mehr einfach Freundlichkeit und einfach, wenn einem ein anderer Mensch jetzt eigentlich nichts tut und nicht wirklich sichtbar aggressiv ist oder so, erst mal vielleicht das Positive anzunehmen. Ich glaube, dass das die Gesellschaft schon an sich ein Stück besser machen würde und davon alle profitieren würden.

0:44:44

Mirjam: Jetzt sind Sie dran, seid ihr dran. Wir haben ja vorher Fragen eingesammelt und ihr habt die so ein bisschen für euch sortiert, Marco und Imke.

Marco: Hier eine Kategorie, hier eine. Ja, okay.

Mirjam: Wie wollen wir jetzt anfangen? Hast du eine Idee?

Marco: Ja, ich habe eine ganz interessante Karte, weil das finde ich nochmal insofern, weil sie erst mal so ein bisschen irritiert, weil hier eben in deutlicher Schrift steht: Ich finde Autismus nicht gut. Und das wirft ja so die Frage auf, wie ist das gemeint, ist das eigene Erleben gemeint? Also dass eben alles so stressig ist oder dieses Unverständnis von Autismus oder was es mit Ich finde Autismus nicht gut gemeint. Also das finde ich nochmal insofern interessant, das von diesen Perspektiven zu beleuchten. Also im Sinne von, was ist denn daran nicht gut? Weil, wir haben zwar einen Pride Day, aber es gibt eben auch genug – neben den Behilflichkeiten, wie sie Jason von den Wochenendrebellen nennt, also wir haben es Ressourcen genannt oder Fähigkeiten –  eben auch viele Behinderungen. Und dann ist Autismus wirklich nicht gut. Wo dann auch zum Beispiel unser erster Podcast-Gast – die ihr vorhin gesehen habt, Bianca Bräulich mit Sonnenbrille sitzen – sie sagt: Naja, Behinderung ist häufig auch sozial bedingt, kommt von außen. Also nicht umsonst hat sich auch die Gebärde in der Gebärdensprache von behindert wie Arm ab, zu Behinderung mit Stoße gegen Barrieren geändert.

0:46:18

Mirjam: Ich finde, du hast das auch so gut erklärt im Zusammenhang mit dem Begriff Autismus-Spektrum-Störung, dass diese Störung ja nicht bedeutet, dieser Mensch ist gestört, sondern da gibt es eine Störung im Leben dieses Menschen. Wie meintest du das?

Imke: Ja, das hängt auch mit dem Thema Kommunikation zusammen. Es wird oft gesagt, autistische Menschen wären gestört in ihrer Kommunikation. Aber das ist eigentlich total unpräzise und unwissenschaftlich, die Definition. Weil Kommunikation per Definition immer etwas ist, was zwischen mehr als einer Person nur stattfinden kann. Und das bedeutet, wenn eine Kommunikation gestört ist, dann liegt diese Störung quasi an allen Beteiligten und an dieser konkreten Situation. Und deswegen müsste man eher mal gucken, was funktioniert da nicht in der Situation, anstatt den Menschen das zuzuschreiben und zu sagen, der ist gestört. Weil, das ist tatsächlich auch bei unseren Workshops. Da merkt man, unter autistischen Menschen, und das hast du dann ja auch in dem Fähigkeiten-Workshop erleben dürfen, ist es oft so, dass die Kommunikation sehr gut funktioniert. Und da gibt es auch Forschung zu, dass eigentlich unter autistischen Menschen viele Kommunikation auch sehr gut gelingt – unter nicht-autistischen Menschen auch – aber dass es oft zwischen autistischen und nicht-autistischen Menschen schwierig ist, auch nicht immer sein muss, aber eben häufig ist. Und dieser Begriff ‚Störung‘ ist eben auch sehr negativ wertend und sagt über den Menschen: Du bist ja gestört. Also das klingt einfach negativ.

0:47:50

Marco: Also ich kehre das auch in Fortbildung gerne um und sage, oder nicht, ich kehre das um, aber ungefähr so nach deinem Ansatz erkläre ich dann dieses Wort Störung, dass ich dann in meinen Folien immer schon in Klammern setze, Autismus-Spektrum-(Störung). Die Störung ergibt sich in einer kommunikativen Begegnung, wo ja eben mindestens zwei beteiligt sind und niemand schuldhaft an der Störung ist, sondern die Störung entsteht dann in dem aneinander Vorbeireden quasi, weil es eben unterschiedliche Kommunikationsstile gibt, die dann erstmal ein Stück weit angeglichen werden durch Nachfragen, Verstehen-Wollen.
Also, auch wenn zum Beispiel, was du genannt hattest, dieses vermeintliche Vordrängeln in der Schlange ist ja auch erstmal eine unterschiedliche Interpretation einer Situation. Menschen kommunizieren: Also ich stehe hier an. Und ich kommuniziere: Ich stelle mich auch an und glaube hier ist das Ende der Schlange. Und das Unverständnis entsteht dann: Moment, du drängelst dich vor – ist eine Interpretation. Nachfrage wäre: Weißt du, wo das Ende der Schlange ist? Ich auch nicht, aber ich glaube, das ist da hinten. Oder irgendwie so, dann entsteht eine ganz andere Dynamik im Gespräch, als wenn ich schon gleich voraussetze: Du willst mich provozieren, du willst hier vordrängeln, nicht mit mir! Und dann ist eine Störung da und das ist die Autismus-Spektrum-Störung.

0:49:13

Imke: Absolut. Ich sag auch immer gerne: Im Zweifel nachfragen.

Marco: Immer.

Imke: Und es gibt eine bekannte Autorin, die selber Autistin ist, Rudy Simone. Die hat auch ein Buch geschrieben, Aspergirls über autistische Mädchen und Frauen, was recht bekannt ist. Und sie hat auch ein Buch geschrieben über autistische Menschen und Arbeit, Beruf. Und die hat an einem Punkt gesagt: „Don’t fill in the blank“. Das heißt, wenn man ein Verhalten von einem anderen Menschen nicht versteht, dass man das nicht selber für sich interpretieren soll und dann oft eben negativ interpretieren und bewerten, was dann oft auch, grade am Arbeitsplatz und so, in eine negative Spirale auch führen kann, sondern erst mal den Menschen fragen. Und meistens, oder sehr oft zumindest, löst es sich dann schon auf.

0:49:56

Mirjam: Welche Frage hast du da zuoberst liegen?

Imke: Manchmal ist Autismus normal, oder? Ich würde schon sagen, ja, wie gesagt, das Thema Normalität ist ja ohnehin auch ein bisschen diskreditiert, was ist schon normal? Ich würde sagen, autistische Menschen gehören zum Spektrum Mensch letztendlich und zum Spektrum unserer Normalität, unserer Welt. Es hat immer autistische Menschen gegeben, auch wenn man das früher anders genannt hat. Der berühmte zerstreute Professor zum Beispiel, das wäre sowas. Aber auch der Dorftrottel, der vielleicht als komisch galt, aber trotzdem irgendwie akzeptiert war, das ist schon was.

0:50:42

Mirjam: Oder das Silicon Valley.

Imke: Absolut, ja, genau, da schreibt tatsächlich Steve Silberman in hier Neurotribes, das heißt auf Deutsch Geniale Störung, manchmal sind so Titel auch….

Marco: Worüber er selber auch geschockt war, dass das so übersetzt wurde.

0:50:58

Imke: Genau.

Marco: Völlig absurd.

Mirjam: Ein internationaler Bestseller von einem tollen Journalisten, der vor einigen Jahren, ich glaube es ist 10 oder wie viele Jahre ist das Buch alt, wirklich sehr viel dazu beigetragen hat, über Autismus weltweit aufzuklären, weil er eben auch so viele autistische Perspektiven mit reingenommen hat.

0:51:15

Imke: Genau, und er hat das tatsächlich gemerkt. Er hat nämlich Menschen, die eben so absolut quasi so an der Spitze, die Pioniere, Pionierinnen im quasi ganzen KI und im ganzen digitalen Bereich sind, getroffen und hat die interviewen wollen für eine Reportage. Und mehrere haben dann erzählt, dass ihre Kinder autistisch sind. Und dadurch hat er gedacht, da ist irgendwas los. Und dadurch ist er dem quasi auf die Spur gekommen.

Marco: Ja, was natürlich nicht heißt, dass alle Autisten IT-spezifisch sind.

Imke: Nein, absolut nicht!

(Publikum lacht)

Marco: Also, das kann sein, dass im Silicon Valley eine auffällige Häufung von autistischen Menschen ist, weil die, die eine Affinität oder eine Vorliebe für IT haben und für Computertechnik…

Mirjam: Für Logik.

Marco: Sich genau dort gesammelt haben. Ja, Logik ist ja sowieso vonnöten und häufig unter neurotypischen Menschen Mangelware, so wie ja auch Jason von den Wochenendrebellen mal erläutert hat im letzten Podcast. Anfangs wurde sein Autismus mal umschrieben als, ja, du hast so eine besondere Logik und er denkt mal, wieso besonders? Ich bin doch der Einzige, der überhaupt eine Logik hat.

(Publikum lacht)

0:52:23

Imke: Das haben wir ja vorhin in dem Film auch, hat der eine junge Teilnehmende auch sehr schön gesagt.

Mirjam:Ja, das war er.

Marco: Das war Jason, der sagt: Ich bin nicht auf dem falschen Bereich, die anderen sind hier falsch. Jedenfalls, jetzt habe ich auch gerade kurz den Faden verloren.

Mirjam: Sonst nimm einfach im Zweifel die nächste Karte oder weißt du noch, was Marco sagen wollte, Imke?

Imke: Nee, leider nicht.

Mirjam: Silicon Valley.

Imke: Wir waren bei dem Thema mit der Normalität.

Mirjam: Bei den IT-lern.

0:52:48

Marco: Genau, dass dieses Klischee nicht aufkommt, alle Autisten sind IT-Freaks und Spezialisten, genauso wenig, dass sie Eisenbahnfreunde sind, gibt es auch, aber nicht alle.

Imke: Obwohl, ich kenne auch welche! Also so selten ist es auch nicht.

0:53:01 (Publikum lacht)

Marco: Aber ich kenne auch welche, die haben eine Vorliebe für Geschichte oder für Metal-Bands oder sonstwas.

Mirjam: Manche unserer Kinder im Elternkreis haben einen gigantischen Orientierungssinn. Andere verlaufen sich täglich auf dem Schulweg und brauchen deswegen eine Begleitung.

Marco: Auch das kann sein, ja. Und was ich auch nochmal interessant fand, du hast ja deine Diagnose nach dem Studium bekommen und ich hatte mich vorhin nochmal ganz kurz gefragt, das ist natürlich nochmal ein kleiner Exkurs in deine Biografie, wie du dann das geschafft hast, dieses ganze Regelwerk von Prüfungsleistungen, die abzugeben sind, zu durchschauen. Weil, ich hatte auch mal einen Klienten, der eben sein Studium mit einer Studienbegleitung angefangen hat und das lief alles ganz gut, er hat auch irgendwie Sprachwissenschaften und Sachen studiert, Geschichte, glaube ich, und dann kam das Amt und sagt: Ach, das läuft ja ganz gut mit dem Studium, da können wir die Studienbegleitung ja einstellen. Mit der Folge, dass er irgendwann exmatrikuliert wurde, weil er diese Sachen mit diesen ganzen Prüfungsleistungen nicht durchschaut hat. Und das ist dann so eine tragische, folgenreiche Interpretation von, warum es gut läuft. Also nicht, weil der Mensch plötzlich enorme Fähigkeiten, sondern weil er Unterstützung hatte.

0:54:15

Mirjam: So, nimm mal noch eine neue Frage, denn unsere Zeit läuft davon.

Imke: Ja: Warum ist es schwieriger, weibliche Menschen mit Autismus zu diagnostizieren? Ja, das ist ein sehr spannendes Thema und ein sehr wichtiges Thema. Ich glaube tatsächlich, was ich vorhin auch schon mal gesagt habe, weil die Sozialisation anders ist. Und zwar gar nicht unbedingt so sehr in erster Linie die Sozialisation im Elternhaus. Das hat sich, glaube ich, inzwischen in vielen Familien auch angeglichen. Sondern die Sozialisation in der Peergroup. Also Mädchenpeergroups haben einfach oft mehr soziale Themen auch selber, also dass es da um soziale Themen geht, erklären auch sehr viel. Dann gleichzeitig wird bei Mädchen auch vieles anders bewertet. Also wenn ein Mädchen zum Beispiel nicht viel sagt, dann ist sie halt schüchtern und so. Und dann die Interessen sind oft nicht so stereotypisch autistisch wie bei autistischen Jungen. Also eben dann nicht Mathe, IT oder die Eisenbahn, sondern vielleicht Fantasy, Pferde, Klima, wie auch immer. Also das ist oft Literatur, auch oft gar nicht so selten.
Und insofern glaube ich tatsächlich, es liegt eher an der Wahrnehmung, wie autistische Menschen wahrgenommen werden, dass es bei Mädchen und Frauen quasi weniger erkannt wird. Und dann ist es so, die sozialen Anforderungen sind tatsächlich an Frauen höher als an Männer, also gerade was so diese zwischenmenschliche Kommunikation angeht. Und viele Autistinnen bringen sich da schon bewusst sehr früh auch bei, also lesen zum Beispiel auch als Teenager, auch als Kinder schon Bücher über Psychologie, über Kommunikation. Gar nicht so wenige gehen auch tatsächlich in soziale Berufe oder auch werden Ärztin, Psychotherapeutin, Sozialarbeiterin. Also das gibt es sehr, sehr häufig. Und dann geraten viele auch dann trotzdem an Probleme halt dann auch mit den KollegInnen, dann nicht mit den KlientInnen, das ist so der Klassiker. Aber das hat, ich glaube es hat mit Rollenerwartungen zu tun und damit wie Verhalten auch noch unterschiedlich bewertet wird.

0:56:17

Marco: Also heißt es auch, dass AutistInnen – Autistinnen, da brauche ich sie ja nicht zu gendern – also die weiblich gelesenen Autisten auch nochmal anders oder vielleicht naturgegebener maskieren.
Und ein anderer Aspekt, den ich ja auch immer wieder höre oder lese, ist ja, dass die Beschreibungen von Hans Asperger und Leo Kanner sich ja ausschließlich auf Jungs beziehen.

Imke: Ja!

Marco: Und es ja demzufolge auch keine weiblich gelesene Autismusdiagnostik gibt bislang, wo man ja auch nochmal vielleicht bestimmte Aspekte mehr in den Fokus nehmen müsste.

0:56:55

Imke: Das ist ganz wichtig. Hans Asperger sprach davon, dass er das als eine Extreme-Variante des männlichen Charakters bezeichnet hat. Das hat ja Simon Baron-Cohen dann auch mit dieser Extreme-Male-Brain-Theorie auch weiterentwickelt. Und das ist etwas, was uns tatsächlich immer noch nachhängt, würde ich sagen, weil die Kriterien sind tatsächlich eher an männlichen Verhaltensweisen orientiert, auch beschrieben.
Asperger hat interessanterweise trotzdem Autistinnen beschrieben, und zwar die Mütter teilweise seiner Fallbeispiele. Und hat sich darüber gewundert, wie das sein könnte. Er hat dann sich überlegt, ob das bei Frauen etwa erst dann, bei Mädchen in der Pubertät erst zum Tragen kommt, was aus heutiger Sicht aber natürlich Quatsch ist. Sondern bei Mädchen – also das hat auch eine Historikerin selber gesagt – dann auch festgestellt, er hat bei Mädchen die gleichen Verhaltensweisen anders und negativer beschrieben, dann eben auch als Renitenz zum Beispiel und so, eben weil er sehr stark eben auch sich auf die Stärken bezogen hat, und die hat er aber. gerade das mit Intelligenz und so, hat er eben den männlichen Autisten zugesprochen..

0:57:58

Mirjam: Und da kommen wir auch zu dem Punkt, weswegen Hans Asperger heute im Nachhinein stark kritisiert wird, weil er ja auch, also er hat zurzeit des Nationalsozialismus in einer psychiatrischen Einrichtung mit Gruppen von Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Und diejenigen seiner Fälle, die nicht diesem Bild von Autismus entsprachen wie seine tollen Jungs oder seine interessanten kleinen Professoren, die hat er während der Euthanasieprogramme der Nationalsozialisten dann durchaus einfach fallen lassen. Er ist erforscht worden von einem Historiker und einer Historikerin und in eine Anstalt gebracht, die heißt Spiegelgrund, wo sie dann wahrscheinlich zu Tode kam oder zumindest elendig dahinvegetierten.

0:58:48

Imke: Das finde ich ein sehr wichtiges und auch komplexes und schwieriges Thema für die ganze Community. Teilweise wird deswegen ja der Name Aspergers auch heute diskreditiert und gesagt, es soll gar nicht mehr verwendet werden. Ich persönlich finde es sehr wichtig, diese Themen zu diskutieren, auch klarzumachen, dass Aspergers Rolle auch problematisch war. Gleichzeitig finde ich, dass das nicht seine Arbeit entwertet. Das finde ich wichtig als Thema, weil er hat schon eine bestimmte Problematik und Thematik von Menschen, denen man erstmal quasi, dass sie als behindert gelten könnten oder so, noch nicht ansah und wo das Verhalten oft anders interpretiert würde, das hat er schon sehr gut beschrieben und hat auch die Stärken und dieses besondere Intelligenzprofil beschrieben.
Das eine, wie man ihn als Menschen zu beurteilen hat und das andere, dass das durchaus innovative Forschung war, die durchaus auch auf der Arbeit anderer jüdischer WissenschaftlerInnen auch aufgebaut hat. Da war er ja auch ein Karrierist, die eben ins Exil auch gehen mussten zu dem Zeitpunkt. Das ist auch noch ein Thema. Aber dennoch ist es eben auch für sich eine sehr interessante, auch eigenständige Arbeit. Und das kann so stehen bleiben daneben, dass er als Charakter nicht unproblematisch war. Das finde ich wichtig.

1:00:03

Marco: Also dann dürfen wir hier auch wieder, wie schon häufiger auch, mit dem künstlerischen Bereich Werk und Autor trennen. Und jeder darf dann für sich entscheiden, ob und wie man dann den Menschen dann dabei noch toll findet oder nicht. Und ich glaube, darüber könnte man fast noch eine eigene Folge machen.

Imke: Ja, klar.

Marco: Ich würde mal die nächste Frage vornehmen, weil die ist auch immer wieder sehr zentral. Warum sind Autisten manchmal aggressiv? Ich könnte manchmal sogar raus… nee, wir lassen mal manchmal drin, aber es taucht natürlich zum Teil auch häufig auf. Und das kann ich natürlich nicht ganz so pauschal beantworten, aber ich kann bestimmte Fragestellungen auch noch in den Raum stellen, weil wenn ich was verstehen will, versuche ich dahinter zu gucken. Was kann zu Aggressionen führen?
Zum einen ist es ja die allgemeine Überforderung durch Reize. Wie wir gehört haben, die Wahrnehmung ist ja ein zentraler Aspekt im Autismus-Spektrum. Wenn ich also über keinen Filter verfüge, ich sitze hier also und konzentriere mich jetzt nicht nur auf das Gespräch und auf die Fragen und auf das, was ich sagen will, sondern ich bin geblendet vom Licht, ich wundere mich über jede Handbewegung eines jeden Protagonisten, die hier im Publikum sitzen. Ich mache mir Gedanken, warum manche dunkelhaarig, blondhaarig, gauhaarig sind, ich mache mir Gedanken, warum manche Hut tragen, manche nicht und ob das wichtig ist, dass sie Brillen aufhaben oder nicht. Also ganz viele tausende von Ideen kommen zusammen, und plötzlich kommt ein Husten in den Raum, und ich kann alles nicht ausfiltern. Und das kann irgendwann dazu führen, dass dann das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen kommt, dass man dann in ein sogenanntes Meltdown kommt, was dann das englische Wort für Kernschmelze ist.

1:01:54

Wenn man sich da nochmal mit der Atomphysik auseinandersetzt, das kann Jason von den Wochenendrebellen um einiges besser als ich, aber wir wissen ja seit Tschernobyl, Kernschmelze ist nichts Gutes. Also ganz kurz gefasst, wenn dann die Brennstäbe nicht mehr gekühlt werden können, fangen die Kerne an zu schmelzen, sich derartig zu erhitzen, dass dann Überdruck im Kessel entsteht und Explosion ist die Folge. Und das passiert dann eben auch bei Menschen im Spektrum, die dann eben diese Reizverarbeitung nicht mehr realisieren können und dann kommt es zu einem Ausbruch, der von außen aussieht wie ein Wutausbruch.
Und das ist ja dann immer das große Rätsel: Warum ist der jetzt so wütend? Aber ist er denn wirklich wütend? Weil, in einem Ausbruch im Sinne eines Meltdowns – schildern viele Autistinnen, dass sie dann keinerlei Impulskontrolle haben. Wenn sie aber wütend sind, dann haben sie schon irgendein Anliegen, sie wollen schon, dass das alle mitbekommen: Ich bin sauer, weil irgendwas nicht in meinem Sinne ist. Und dann flippe ich auch richtig robust aus. Und das kann auch seine guten Gründe haben, kann auch sein, dass es aber nicht zu lösen ist.
Und der Unterschied ist eben, im Meltdown ist mir egal, ob mir das irgendwer ansieht. Also ich brauche kein Publikum dazu, ich kriege das auch gar nicht mehr mit. Bestenfalls werde ich aus der reizüberflutenden Situation herausgeführt. Also diese Aggression, die kann eben aus einer Reizüberflutung heraus kommen. Sie kann aus einer emotionalen Erregung heraus kommen, also wenn es dann um Wut geht, weil Regeln verstoßen wurden, weil über jemand gesprochen wird, weil etwas kaputt gegangen ist. Also das kann man fast beliebig fortsetzen, diese Liste. Wichtig ist, dass wir immer wieder fragen: Was führt gerade zu diesem Ausbruch?
Also was wir dann als vermeintlich aggressiv oder, es wird ja oft immer von herausfordernden Verhaltensweisen gesprochen, wer fordert wen heraus und wessen Absicht ist da wo? Also oft wird ja interpretiert, dieser Mensch will mich herausfordern, will mich provozieren. Wenn wir dann im Meltdown sind, kann man schon mal nicht von Provokation reden, ich habe keine Absichten, ich kann einfach nicht mehr anders.

1:04:14

Imke: Das finde ich sehr wichtig, tatsächlich, weil das ist was, wo niemand mehr darunter leidet in dem Moment, als der autistische Mensch. Wenn ein autistischer Mensch wirklich einen totalen Meltdown hat, ist er oder sie dem ausgeliefert. Und das halt mit Manipulation oder irgendwas durchsetzen wollen, nichts zu tun. Das finde ich sehr wichtig, das deutlich zu machen.

Marco: Ja, richtig, richtig. Und dann also zu fragen, welches Grundbedürfnis oder was für Grundkonflikte sind eigentlich gerade aus dem Lot gekommen. Weil, das ist ja schon allein schwierig für einen autistischen Menschen, sich in einer sicheren Umgebung zu wähnen, also was eben schon diese ganze strukturelle Sache angeht. Die Reizverarbeitung ist ja schon anstrengend genug und dann noch eben die Unvorhersehbarkeit. Was passiert jetzt hier eigentlich? Und da hilft es einem ja eben viel Struktur mitzugeben und wenn die wegfällt oder wenn es plötzliche Änderungen gibt, kann das wiederum auch ein Grund sein für eine emotionale Erregung und nicht mehr damit klarkommen. Also auch immer, wir sind ja immer an der obersten Grenze der Belastbarkeit, was diese ganze kognitive Verarbeitung angeht und das führt dann eben zu diesen Aggressionen, die wir vielleicht nicht als Angriff auf uns werten sollten, sondern als Versuch, ein Problem zu bewältigen.

1:05:32

Mirjam: Was hast du denn da für Strategien für dich entwickelt, wenn sowas in dir passiert?

Imke: Ich versuche eigentlich, die Situation dann rechtzeitig zu verlassen. Also das ist, wenn ich jetzt wirklich merke, irgendwas wird mir zu viel, das kann ich inzwischen besser, das ist was, was ich früher schwerer fand, dann finde ich Wege im Normalfall dann, die Situation zu verlassen und für mich alleine zu sein. Und dann kann ich eigentlich ganz gut runterkommen, also zumindest diese Situation, die wirklich mit einem Kontrollverlust zu tun haben, vermeiden.
Der größte Fehler ist dann Menschen in irgendeiner Form, wie auch immer, am sich zurückziehen und am Gehen zu hindern. Weil, dass man sagt, ach bleibt doch noch oder so, weil, wenn man schon merkt, es ist zu viel, jetzt sollte ich hier gehen, dann sollte ein autistischer Mensch das auch tun können. Und wirklich, was ich da noch wichtig finde, einmal das dann zu akzeptieren und nicht als irgendwie gegen einen selbst gerichtet oder feindlich, unfreundlich oder so zu interpretieren, weil teilweise wird dann auch, wenn ein autistischer Mensch zum Beispiel irgendwo nicht lange bleibt, sich relativ schnell zurückzieht oder mal nicht reden will oder so. Dann denken andere Menschen: Ach, der ist jetzt komisch. Und was hat der oder die jetzt gegen mich? Oder sowas. Und das stimmt oft nicht, es kann einfach sein, dass der Mensch jetzt mal einfach eine Auszeit braucht. Und wenn man das akzeptiert, dann ist schon viel geholfen.

1:06:56

Marco: Und so wie auch diese Schlangensteh-Situation als vielleicht aggressiv gewertet wird, weil sich jemand vermeintlich vordrängelt. Oder Jason von den Wochenendrebellen schilderte auch eine Situation: Es gongt, es klingelt zur Pause, alle laufen raus zur Garderobe und wollen sich die Jacken holen. Und Jason fühlt sich irgendwie angerempelt und tritt erstmal herzhaft neben sich seinen Mitschüler weg. Weil, er wurde ja angegriffen, war seine Interpretation, also er hatte jetzt auch keine Gelegenheit nachzufragen, sondern hat es eben auch anders aufgefasst und verstanden. Und das ist eben, klar, das ist dann erst mal ein Angriff auf jemanden, aber dann auch wieder die Frage, wie kommt es denn dazu? Welche Gedanken hattest du denn dabei? Das immer wieder verstehen zu wollen, dieses Vertrauen zu haben, ja es gibt einen Hintergrund.
Und auch ein häufiger Grund zur Aggression ist ja auch eben die Fähigkeit oder nicht mehr Fähigkeit zu kommunizieren.

1:07:52

Wir haben ja eben jetzt hier gerade viel über verbale AutistInnen gesprochen und es gibt ja eben auch sehr, sehr viele, die nicht verbal sind, die also nicht über Verbalsprache verfügen. Das heißt, sie sind die ganze Zeit nicht in der Lage, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren und haben auch gar keine Idee, wie sie das tun sollen, weil auch die Bindung ja nicht sicher ist. Also da haben wir noch ein Grundbedürfnis, das aus dem Lot geraten ist. Und das sind leider vielfältige Gründe von Aggressionen. Und das bringt mich auch gleich zur nächsten Frage, nämlich auch: Wie kommt man aus einem autistischen Burnout heraus und kann denn das Umfeld helfen? Und das ist auch sehr komplex, weil ein autistisches Burnout entsteht ja dann in der Häufung von vielen, vielen Reizüberflutungssituationen, auch von Meltdowns, dass man irgendwann eigentlich wie in so einer dauerhaften Reizüberflutungsschleife ist. Und das äußert sich dann als eine Art von Depressionen, die sehr reaktiv ist. Und ich weiß nicht, ob dir in deinem Umfeld da auch schon Menschen begegnet sind und was ihnen eigentlich dabei geholfen hat?

1:09:01

Imke: Also, ich glaube, das ist tatsächlich eine Situation, in der viele erwachsene autistische Menschen auch landen. Einfach dadurch, dass sie eigentlich viele Jahre über die eigenen Grenzen gegangen sind. Und eben auch quasi auch gerade, wenn man die Diagnose auch noch nicht hatte, einem diese Grenzen ja auch abgesprochen worden sind. So im Sinne von, da gewöhnt man sich dran, da muss man durch und so weiter. Und dann ist das so, viele werden dadurch leider dann sagen, auch sie sind arbeitsunfähig geworden oder so, weil die Akkus leer gebrannt sind. Das heißt, sie laden sich nur noch sehr langsam auf quasi und auch nicht besonders hoch. Und das ist ganz schnell wieder unten. Ich persönlich glaube schon, dass autistische Menschen sich aus so einer Situation wieder regenerieren können.

Und da ist auch wieder dieses Recovery-Thema. Aber wichtig ist dafür, wirklich den Menschen nicht unter Druck zu setzen oder auch für einen selber, sich nicht unter Druck zu setzen. Das kann sehr, sehr schwierig sein. Ich glaube, dem spricht unser ganzes Sozialsystem auch so entgegen. Also, wo dann Menschen auch unter Druck gesetzt werden, möglichst schnell auch wieder eine Arbeit zu finden, zum Beispiel, auch wie lange wird Krankengeld gezahlt, diese ganzen Geschichten. Das sind so Themen, die das sehr schwierig machen. Aber einfach wirklich erstmal Raum, sich auch erholen zu können.
Und wenn dann der Druck weg ist, dann kann das oft so sein, dass ein Mensch dann so ganz langsam vielleicht auch wieder ein bisschen mehr Energie hat, sich auch seinen Interessen zu widmen. Weil, was ganz typisch ist, autistische Menschen sind oft sehr intrinsisch motiviert, das ist ihnen wichtig, die Dinge, für die sie sich interessieren, sind ihnen wichtig. Und in so einem autistischen Burnout kann das sein. Dass die ganzen Interessen und auch die Fähigkeiten, dass das irgendwie in dem Moment nicht zugänglich ist oder der autistische Mensch das Gefühl hat, das ist alles weg, das habe ich alles verloren. Und das kann wieder kommen. Aber dafür braucht es wirklich ganz viel Raum und Ruhe, sich auch wieder ausprobieren zu können. Und das ist ein strukturelles Problem in unserer Gesellschaft.
Aber ich würde sagen, Verständnis, dass das Umfeld versucht so viel wie möglich auch Verständnis zu haben, den Menschen vielleicht auch Angebote zu machen, dass klar ist, wir sind da, wenn du was möchtest, aber du musst nicht und unser Angebot hat kein Ablaufdatum.

Mirjam: Zeit geben.

Imke: Genau, das ist ganz ganz wichtig.

1:11:21

Mirjam: Unsere Zeit ist hier bald zu Ende. Ich möchte euch im Publikum noch am Schluss die Möglichkeit geben, das wollen wir hier auch nutzen, dass ihr da seid. Beim Zuhören, ist da vielleicht bei einem oder einer noch eine Frage entstanden, die wir durch unser Gespräch nicht beantwortet haben? Dann wäre jetzt die Gelegenheit, zu unserem Mikro zu gehen und diese Frage zu stellen. Zum Beispiel habe ich mich gefragt, wir benutzen in unserem Podcast, den aber ja nicht alle hier gehört haben, das Wort neurotypisch häufig, als Begriff für die nicht-autistische Art zu sein. Das wollte ich noch mal kurz erklären, aber hat jemand, ist bei jemandem eine Frage hängen geblieben, die er oder sie noch stellen möchte? Dann seid ihr herzlich eingeladen, sie dort in das Mikrofon zu sprechen. Traut sich jemand?

1:12:13

Marco: Vielleicht für die Überbrückung kann ich ja nochmal versuchen…

Mirjam: Eine Schlussfrage, dann eine letzte Frage.

Marco: In ganz kurzen Sätzen ein paar Fragen. Wie viel Zeit haben wir denn de facto noch?

Mirjam: Also ich würde sagen, wir haben jetzt eigentlich schon unser Limit erreicht, vielleicht noch zwei Minuten?

Marco: Okay. (Imke und Mirjam lachen) Ja, zwei Minuten. Also: Ab welchem Lebensalter kann Autismus diagnostiziert werden? Ich meine, so frühestens ab drei, vier.

Imke: Würde ich auch sagen.

Marco: Vielleicht erst mal so in aller Kürze, ohne das jetzt weiter auszuführen. Wie unterscheidet sich eine Autismustherapie von einer Verhaltenstherapie? Das ist leider nicht kurz zu beantworten, weil wir zum Beispiel in unseren Autismuszentren nach so einem sogenannten multimodalen Ansatz arbeiten und wir eigentlich für jeden, könnte ich fast sagen, eine Therapie handstricken, also kreieren, um zu gucken, was braucht der Mensch für diese Situation, in der er ist. Und das kann zum Teil auch verhaltenstherapeutische…

1:13:12

Mirjam: Imke hat auch noch eine?

Imke: Und zwar, das schließt ganz gut an das Thema an, neurotypisch, was du eben sagtest: Wie hängen Hochsensibilität und Autismus zusammen? Gibt es da überhaupt einen Zusammenhang? Das finde ich sehr spannend, weil, Autismus ist ja nicht nur in sich selber ein Spektrum, sondern hat auch einen fließenden Übergang eigentlich zum Nicht-Autismus und auch zu vielen anderen neurologischen Andersartigkeiten. ADHS wäre so ein Beispiel, was jetzt heute gar nicht so viel vorkam, was sonst oft auch sehr ausführlich diskutiert wird. Aber Hochsensibilität gehört da eben auch dazu. Also, dass es eben Menschen gibt, wo jetzt eine Autismusdiagnose nicht passen würde, aber die doch deutlich sensibler an vielen Punkten als der Durchschnitt sind. Also ich würde sagen, das ist nicht identisch. Aber autistische Menschen sind hochsensibel und umgekehrt, also es ist überhaupt kein Ausschlussgrund, oftmals verstehen sich autistische und hochsensible Menschen auch gut und haben auch viel gemeinsam. Deswegen würde ich sagen, es ist… zum Spektrum der Neurodiversität würde ich auch Hochsensibilität zählen.

1:14:17

Mirjam: Imke und Marco, ich würde so gerne mit euch noch ganz viele weitere Fragen beantworten. Ich kann euch nur sagen, hört unseren Podcast weiter, dann werden sie nach und nach beantwortet. Ihr könnt uns auch schreiben. Und vor allen Dingen, das habe ich in den ganzen letzten Sendungen immer vergessen zu fragen: Bitte sagt anderen Leuten, dass ihr da einen Podcast entdeckt habt, wo man sehr interessante Menschen kennenlernen kann und wirklich auch Autismus von innen und außen und hinten und vorne und das ganze Spektrum kennenlernen kann. Also empfiehlt uns weiter. Wir sind auf allen Kanälen, wo man so Podcasts bekommen kann, hören kann, zu finden. Also auf Spotify, bei, wie heißt es da, von Apple, iTunes, auf unserer Homepage. Deezer, sagtest du. Auf unserer Homepage, vor allen Dingen auch spektrakulär.de. Also nutzt die Gelegenheit, auch heute hier erzählt es ein anderen weiter, denn je mehr Menschen wir erreichen, umso schneller können die Ziele der autistischen Community erreicht werden, die Gesellschaft aufzuklären.

1:15:22

Marco: das wichtige ist, dass wir aus unserer Bubble rauskommen. Wir, die wir hier im sozialen Bereich unterwegs sind, wir wissen ja eigentlich alle relativ gut Bescheid, und wir rennen bei euch vermutlich offene Türen ein. Bis heute weiß ich nicht, woher dieses Sprichwort kommt, das können wir anderwann klären.

(Publikum lacht)

Mirjam: Das mit den offenen Türen einrennen?

Marco: Naja, das hat mich jetzt letztens schon mal ein Autist gefragt und ich konnte es nicht erklären, das war sehr peinlich.

1:15:44

Mirjam: Die Tür steht weit offen, also sagt: Bitte, du bist eingeladen. Und dann und dann, wenn man dann da durchstürmt, dann ist das viel zu massiv, denn die Einladung stand ja schon. Man musste ja gar nicht so massiv auftreten, sowas.

Imke: Ich kann mir vorstellen, dass das aus dem Belagerungsbereich kommt, also wenn irgendwas dann belagert war, dass man das gar nicht durchbrechen musste, quasi wie mit dem Rammbock oder so.

Marco: Wir wollen eigentlich die Stadt haben, haben aber….

Imke: Genau.

1:16:10

Mirjam: So und das, was wir hier jetzt am Schluss machen, das nennt man Smalltalk. (Imke und Publikum lachen) Und das ist ein letztes Klischee. Das ist so ein Klischee: Autisten und Autistinnen können keinen Smalltalk. Sie können es sehr gut. Also ich bin jetzt nicht Autistin, aber es gibt dann eben Themen, über die man wunderbar plaudern kann und gar nicht mehr aufhören will. Aber wir müssen aufhören. Ich danke euch.

Marco: Wobei, wir gehen gleich in den Deep Talk. (lacht)

1:16:32 (Applaus)

Imke: Genau.

Mirjam: Ich Danke euch!

Imke: Ja, vielen Dank von mir auch!

1:16:33 (Applaus)

1:16:45

Outro

Musik: (Joss Peach: Cherry On The Cake, lizensiert durch sonoton.music)

Sprecher: Das war Spektakulär. Eltern erkunden Autismus.

1:16:46

Marco: (redet live rein) Und die Restfragen können wir noch by the way machen.

Mirjam: Unsere Kontaktdaten und alle Infos zu unseren Folgen findest du in den Shownotes auf unserer Seite spektrakulaer.de.

Sprecher: Der Podcast aus dem Martins-Club Bremen.

Musik-Ende

Sprecher: Gefördert durch die Heidehof-Stiftung, die Waldemar-Koch-Stiftung und die Aktion Mensch.

(Nachklapp)

1:17:10

Mirjam: So, was wolltest du gerade sagen? (lacht)

Marco: Ich glaub, das musst du schneiden, oder? (Lachen)

Mirjam: Nee, was wolltest du sagen?

Marco: Ich wollte nur sagen, die Restfragen können wir vielleicht noch hier, solange wir Zeit haben, noch nicht rausgeschmissen werden, noch hier by the way beantworten. Es wird dann sehr kurzgefasst sein, aber dass zumindest alle Fragen zur Geltung kommen.

Imke: Ja, gerne, klar, auf jeden Fall.

Mirjam: Julia, wann? Wir müssen doch jetzt hier raus, ne?

Marco: Hier nebenan! Hier kommt gleich ein Punk-Film, da wird es was anderes geben und wir sehen dann gleich nebenan.

Imke: Können wir gerne machen.

Nach oben scrollen